Von Sabine Zercher
Als Mia am Abend etwas genervt von der Arbeit nachhause kam, fiel ihr Blick auf den Kalender. Ausgerechnet heute hatten sie und ihre drei Mitstreiterinnen sich zu einer Gesangsprobe verabredet, um für einen Wettbewerb zu üben, der in Kürze stattfinden würde. Eigentlich war es Mias Idee gewesen, aber in der Zwischenzeit war ihr die Lust daran vergangen.
Vier Frauenstimmen – zwei Soprane, ein Mezzosopran und eine Altstimme – und jede wollte natürlich die beste und wichtigste sein. Schon während der ersten Proben hatte es Rangeleien und Sticheleien gegeben: Die eine war zu laut, die andere zu schrill, die dritte kaum zu hören, die vierte hatte sich nicht genügend mit den Partituren beschäftigt und war nicht richtig vorbereitet, und von Atemtechnik hatten mindestens zwei – Mia natürlich ausgenommen – noch nie etwas gehört.
Der junge Pianist, der sie am Anfang begleitet hatte, warf nach der zweiten Probe das Handtuch, der andere, etwas ältere, versuchte, immer wieder zu vermitteln, allerdings hatte auch seine anfängliche Begeisterung schon etwas gelitten.
Aber nun waren sie für den Wettbewerb angemeldet und hatten die Teilnahmegebühr entrichtet, also gab es kein Zurück.
„Augen zu und durch“, dachte Mia, als sie sich kurze Zeit später auf den Weg zur Probe machte.
Als Mia in den Probenraum kam, waren zwei der Sängerinnen offenbar schon wieder aneinander geraten, denn der Pianist sagte gerade: „Jetzt haltet doch mal die Luft an; so kann ich nicht arbeiten. Wenn ihr euch nicht einigen könnt, dürft ihr eben nur solo singen. Diesen Zirkus hier mache ich nicht weiter mit.“
„Ach ja, Sologesang“, dachte Mia, „das wäre schön.“ Aber heute würden sie wieder als Quartett proben, und als auch die vierte Sängerin angekommen war, legten sie los. Sie machten Stimm- und Atemübungen, dann nahmen sie sich die Gesangsstücke vor. Nach ein, zwei Quartetten meinte Gero, der Pianist: „Das klingt ja ganz nett, aber leider merkt man, dass ihr euch überhaupt nicht versteht; außerdem atmet ihr an unmöglichen Stellen. Ich dachte, wir wären schon weiter.“
Sofort gab es wieder Streitereien zwischen den vieren, und jede gab den anderen die Schuld, dass es nicht klappte.
Da kam Gero auf eine Idee: „Hört zu, auf einen derartigen Zickenkrieg in meiner Freizeit habe ich keine Lust. Wenn ihr möchtet, dass ich euch bei diesem Wettbewerb am Klavier begleite, müsst ihr anders miteinander umgehen. Und da wir vorhin vom Atmen gesprochen habe, mache ich euch einen Vorschlag.“
Er forderte die vier Sängerinnen zu einem kleinen Wettkampf auf. Jede sollte so lange wie möglich einen einzelnen Ton singen, ohne zwischendurch Luft zu holen. Die Gewinnerin würde danach die Leitung des Quartetts übernehmen. Leider gab es hier aber keine eindeutige Siegerin.
„Wie wäre es mit Tauchen?“, fragte Mia. „Wer am längsten die Luft anhalten kann, hat die beste Atemtechnik.“
„Puh“, meinte eine andere, „wie stellst du dir das vor – in der Badewanne vielleicht wie bei Loriot’s Dr. Müller-Lüdenscheidt?“
„Nein, aber bei uns hinterm Haus gibt es einen kleinen Teich“, meinte die Altistin, „da können wir es machen.“
Einige Tage später trafen sie sich bei ihr zuhause. Gero, der Pianist, hatte abgelehnt, sich als Schiedsrichter zur Verfügung zu stellen, also übernahm das eine Freundin der Altistin. Sehr warm war es draußen gerade nicht, alle vier fröstelten in ihrer Badekleidung, aber jede von ihnen war fest entschlossen, den Wettkampf für sich zu entscheiden.
Eigenartigerweise war später nie zu erfahren, was an jenem Nachmittag wirklich geschehen ist. Es wurde zwar ein Foto gezeigt, auf dem die vier Frauen angeblich im Teich stehend zu sehen waren, kurz bevor sie abtauchten, aber dieses stellte sich bald als ziemlich plumpe Fälschung heraus. Sicher war nur, dass Mias Quartett sich nach diesem Tag auflöste und dann doch nicht am Gesangswettbewerb teilnahm.
Mia selbst schwieg eisern zu dem Vorgefallenen, ebenso wie ihre Gesangskolleginnen, und auch von der Schiedsrichterin war nichts zu erfahren. Eine der Sängerinnen verschwand am Tag des Wettkampfs, und die anderen hörten nie wieder etwas von ihr.
Es gab Gerüchte, eine der vier Damen sei gleich zu Beginn im Schlick ausgerutscht, hätte sich den Fuß verstaucht und sei daher sofort ausgefallen. Einer anderen sei versehentlich eine Kaulquappe in den Hals geraten; seither litte sie unter Schluckauf und könne nicht mehr singen. Die dritte, die plötzlich verschwunden war, sei von den anderen ermordet worden. Beweise, vor allem für die letzte Vermutung, gab es nicht, und glücklicherweise fand sich im Teich auch keine Leiche.
Gero hatte ein schlechtes Gewissen, als er erfuhr, wie die ganze Sache ausgegangen war. Immerhin hatte er den vier Frauen den Wettkampf „des langen Atems“ vorgeschlagen. Trotzdem war er froh, um die Klavierbegleitung dieses reichlich schwierigen Damen-Quartetts herumgekommen zu sein. Das Foto, das vier ziemlich übel gelaunte Frauen im Wasser zeigte, war ihm – Fälschung hin oder her – eine Warnung, künftig derartige Aufträge anzunehmen. Er hatte aber ohnehin vor, in seinem schon vorgerückten Alter etwas ganz anderes zu machen als bisher. Und so wollte es der Zufall, dass er während einer Pilgertour auf dem Jakobsweg Richtung Santiago de Compostela der damals verschwundenen Sängerin aus dem Quartett wieder begegnete – einer zum Glück sehr lebendigen, äußerst netten Dame, die alle Rivalitäten mit anderen hinter sich gelassen hatte und mit der er sich nach einer Weile des gemeinsamen Wanderns durchaus vorstellen konnte, irgendwo und irgendwann zu zweit und natürlich auf angenehmste Weise tatsächlich abzutauchen.
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