Von Eva Fischer

Die Fische schweben schwerelos auf und ab in dem großen Aquarium. Für sie gibt es scheinbar keinen Weg, kein Ziel, kein Anhalten. Ihre Farben leuchten im Licht. Die Besucher und Besucherinnen stehen im dunklen davor, betrachten andächtig die andersartige Welt. Steinkorallen bewegen ihre Polypen in einer unsichtbaren Strömung. Sie hängen fest an der Felslandschaft. Möchten sie wie die Fische ihren Radius erweitern oder sind sie zufrieden? Gibt ihnen die steinerne Wand Sicherheit?

„Was heißt „sessil“, Mama?“

„Die Tiere sind festgewachsen.“

Max reißt die Augen auf. Wie schrecklich! Er kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als sich nicht bewegen zu können. Nach einer Weile fragt er:

„Ist Oma auch sessil? Sie sitzt doch immer im Sessel.“

Seine Mutter schmunzelt. 

„Ich denke, du hast recht. Aber das bleibt unser Geheimnis“, zwinkert sie ihm zu. Oma wäre sicher nicht erfreut, wenn Max sie als sessil bezeichnet.

„Weißt du, es gibt unterschiedliche Lebensstadien.“

Falscher Ansatz. Das spürt sie gleich. 

„Was sind Lebensstadien, Mama?“

„Du kennst doch die Jahreszeiten, Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Da ist die Natur auch unterschiedlich aktiv. Jetzt im Frühling zum Beispiel gibt es überall Knospen. Die Natur erwacht. Alles beginnt zu wachsen, so wie du Max.“

„Und die Oma nicht mehr.“

Das begreift er.

„Nein, sie will eher ruhen wie im Winter.“

 

„Oma, Oma! Rate mal, wo wir waren!“

Max hat noch einmal Tempo gegeben und macht jetzt eine Vollbremsung vor dem Sessel.

„Nein, weiß ich nicht. Erzähl mal, Max!“

„Wir waren im Aquazoo.“

„So, so! Und was habt ihr gesehen?“

„Tiere, die gar nicht wie Tiere aussahen und die an der Mauer festhingen. Ist das nicht schrecklich, Oma?“

 

„Vielleicht sind sie ganz zufrieden, weil sie es nicht anders kennen. Wer weiß?“

Max wirft einen Blick auf das Bild an der Wand in Omas Wohnzimmer. 

„Die vier Frauen im Teich bewegen sich auch nicht“, stellt er fest.

„Kennst du die, Oma?“, will er wissen.

„Na klar. Das sind meine Freundinnen: Jasmin, Rosa, Violetta und ich, Erika.“ 

Max runzelt die Stirne. Seine Oma hat auch einen Vornamen. Das hat er irgendwie nicht gewusst.

„Und welche bist du?“, will er wissen und tritt näher an das Bild.

„Die mit der grünen Badekappe.“

„Da kann man ja gar nicht dein Gesicht sehen“, meint Max enttäuscht.

„Rosa ist die mit der rosa Kappe, Jasmin die mit der hellblauen und Violetta die mit der dunkelblauen Badekappe“, erklärt Oma weiter.

„Wir waren damals noch sehr jung und begeisterte Schwimmerinnen. Kaum war die Schule vorbei, fuhren wir mit dem Fahrrad zum See. Jeden Tag veranstalteten wir ein Wettschwimmen, aber was soll ich dir sagen, nie hat eine gewonnen. Wir waren auf den Zentimeter gleich schnell.“

„Wenn ich mit Flo ein Wettrennen mache, dann ist meistens er am schnellsten“, gibt Max zu bedenken und es ist ihm anzusehen, dass ihm das nicht gefällt.

„Ja, wir vier waren unzertrennlich. Wir hatten viel Spaß miteinander, aber nun ja, dann hat uns das Schicksal getrennt.“

Oma seufzt und schaut den ratlosen Max an.

„Als wir dann erwachsen waren, wurden wir entführt.“

Max reißt entsetzt die Augen auf.

„Vier Prinzen kamen aus allen Himmelsrichtungen und nahmen uns mit auf ihre Schlösser.“

„Echte Prinzen?“ Max schaut Oma skeptisch an.

„Echte Traumprinzen! Einer schöner und stattlicher als der andere. Schau dir nur das Foto von deinem Opa an. War er nicht ein schöner Mann?“

Max hat seinen Opa nie kennengelernt, aber auf dem schwarz-weißen Hochzeitsfoto im Silberrahmen auf der Kommode sieht er nicht schlecht aus. 

„Rosa heiratete nach Norden ans Meer, Jasmin nach Osten an einen großen See, Violetta nach Westen an einen großen Fluss.  Tja, nur ich hier im Süden musste mit einem Teich vorliebnehmen. Wir gingen weiterhin schwimmen, aber alleine machte es nicht so viel Spaß. Anfangs schrieben wir uns noch, aber mit der Zeit vergaßen wir auch das. Wir waren zu sehr mit unseren Familien und unserem Beruf beschäftigt. Deine Mutter und dein Onkel wurden geboren. Jeder hatte seine eigene neue Welt.“ 

„Bist du traurig, Oma, ohne deine Freundinnen?“ 

Max schaut seine Großmutter besorgt an.

„Du kannst ihnen doch eine WhatsApp schicken. Dann lädst du sie alle hierher ein. Ihr setzt euch in den Teich in unseren Garten und unterhaltet euch. Ich mache mit dem Handy ein Foto von euch.“

„Das ist wirklich eine gute Idee, mein lieber Max. Aber du weißt doch, ich kann nicht mehr gut laufen.“

„Das macht nichts, Oma Sessil. Ich helfe dir.“ 

 

„Na, mein Schatz! Erzählt dir die Oma wieder Geschichten?“

„Geschichten?!“, empört sich die alte Dame.

„Wir haben nur ein bisschen geplaudert, nicht wahr, Max?“

„Oma Sessil will im Teich eine Party geben, Mama. Mit Champagner! “

„Du solltest sie doch nicht sessil nennen.“

„Warum nicht, liebe Tochter? Cecil ist doch ein schöner Name für mich. Klingt besser als Oma Erika.“