Von J.W. Anders

Rasseln durchbricht die Stille. Kein Wecker mit Raffinessen, mit Sound, Licht, Weckintervallen. Nein, ein Rasseln, das Tote wecken könnte. Sie stöhnt und fährt die Hand aus, als wäre sie ferngesteuert. Ein blind ausgeführter Schlag und das Getöse erstirbt.

Sie atmet. Der Rollladen scheppert im Wind. An- und Abschwellen des Verkehrslärms. Eine Amsel singt dagegen an und kann die Stimmung nicht heben. Erst Dienstag.

Warum tut sie sich das an? Soll doch der Kollege den Job bekommen, für den sie sich so lange abgerackert hat. Leistung, Leistung und noch mehr Leistung bei jeder kritischen Bemerkung. Was soll‘ s? Sie weiß schließlich, was sie kann. Natürlich weiß sie das, doch das genügt nicht. Einmal ein „gut gemacht“ oder auch nur ein „okay“ würden schon reichen. Oder eben der Job, für den sie qualifiziert ist.

Sie wälzt sich auf die Seite und wischt sich mit beiden Händen übers Gesicht. So früh, viel zu früh. Durch die Rollladenritzen dringt fahles Licht.

Natürlich kennt sie dieses Machtspiel, kennt es schon viel zu lang. Doch obwohl sie es durchschaut, läuft verlässlich derselbe Mechanismus ab. Sie könnte sich ohrfeigen dafür.

Sie beugt und streckt die Füße, bevor sie ins Bad schlurft. Ihr Blick weicht dem Spiegel aus, der das grelle Deckenlicht reflektiert. In der Dusche schließt sie die Augen und hält das Gesicht in den Wasserstrahl.

Herzpoltern, Magenschmerzen, schlaflose Nächte. Schreibblock und Stift neben dem Bett. Mit ihren Notizzetteln könnte sie dem Drachen, der in ihrem Kopf haust, bestimmt das Maul stopfen. Nicht, dass ihre nächtlichen Ideen nicht zielführend sind, aber es müsste auch anders gehen.

Das Duschwasser kühlt ihre Augen, die am liebsten weiterschlafen würden. Sie verwendet Limone – Shampoo, Dusche und Lotion in einem – da es am muntersten duftet. Effektiv, dennoch wirkungslos. Duft und Schaum vergehen gurgelnd im Abfluss.

Schon vor dem Frühstück so erschöpft, dass sie nicht weiß, wie sie den Tag meistern soll. Natürlich wird sie es, Aufgeben ist keine Option. Sie meistert jeden Tag, äußerlich unbeeindruckt. Leider ist es eine nicht zu leugnende Tatsache, dass noch immer die meisten Managerposten, selbst auf der unteren Ebene, männlich besetzt werden. Teamgeist ist eine Tugend, jedoch keine Stärke wie Konkurrenzdenken. Dagegen kann sie anrennen, so oft sie will.

Mit dem Handtuch rubbelt sie sich ab. Von den Zehen aufsteigend, dem Herzen entgegen, den Kreislauf anregend. So lange, bis ihre Haut rot und gut durchblutet ist.

Ballast der Erziehung. Sie wurde auf Weichspülmodus getrimmt. Vielleicht förderlich in der Generation ihrer Mutter, inzwischen nur ein Hemmschuh. Sie gehört zur Kategorie nett, um die muss kein Chef sich Sorgen machen. Selbst nach einem Rückschlag arbeiten die zuverlässig weiter.

Sie steigt auf die Badematte vor dem Waschbecken und schlüpft in die bereitliegende Unterwäsche. Das Deckenlicht zeichnet konzentrische Kreise auf den beschlagenen Spiegel.

Die Freizeit bleibt auf der Strecke. Beim letzten Konzert konnte sie nicht mitsingen, zu wenig Chorproben. Nicht einmal zur Aufführung hat sie es geschafft – keine Energie. Das Verständnis der Gesangskollegen hält sich in Grenzen, nein, ehrlich gesagt: es tendiert gegen Null.

Frühstück spart sie sich – mal wieder. Besser als Erste im Büro und sich dem Software-Problem widmen, bevor der Rest des Teams eintrudelt. Sie schiebt die Zahnbürste in den Mund. Putzt von Rot nach Weiß nach Rot, dafür braucht sie kein Spiegelbild.

Verknotete Nackenmuskeln, der Tag wird lang. Tief durchatmen. Ein Tag wie jeder andere. Stets dieselbe Schublade, stets dasselbe Gleis – ohne Abzweig. Sie bräuchte dringend Urlaub, aber der passt gerade nicht rein. Ständig ist irgendetwas wichtiger. Dazu die ausstehende Beförderung. Wie die Möhre als Belohnung immer knapp außerhalb der Reichweite der Eselschnauze.

Der Nebel im Spiegel lichtet sich. Davor stehen Tiegel und Töpfchen, die sie vernachlässigt. Inzwischen ist sie darin geübt, ihrem Spiegelbild auszuweichen. Während der letzten Wochen war es nicht sehr schmeichelhaft. Vielleicht sollte sie sich eine freundlichere Deckenlampe besorgen, die ihre Augenringe weniger dunkel, die Wangen nicht so eingefallen wirken lässt. Doch eine neue Lampe wird das Problem kaum lösen, dass sie sich zunehmend blutleerer fühlt, dass ihre Gesichtshaut jeden Morgen blasser und ihre Lippen nur ein Strich sind. Rot – weiß – rot. Ihre Finger umklammern den Griff der Zahnbürste. 

Solange sie noch geglaubt hat, sie hätte Aussicht auf Erfolg, hat sie den Druck gut weggesteckt. Hat selbst das Hamsterrad schneller und schneller gedreht. Inzwischen ist alles grau. Welches Wetter? – wer weiß das schon; was passiert in der Welt? – wen interessiert‘ s. Kaffee Trinken oder Shoppen Gehen – keine Kraft. Schlafen – funktioniert nicht mehr. Das Hamsterrad surrt und surrt. Sie müsste bremsen, doch wie? WIE?

Für die Frisur braucht sie tatsächlich ihr Gegenüber. Sie wischt mit dem Handtuch den Nebelrest davon, quietschende ausholende Bewegungen. Winzige Tropfen, wie auf einer Kette aufgereiht, bleiben zurück, stören jedoch nicht das Abbild. Die Fliesenfugen, gerade, gleichmäßig, scheinen zwei Millimeter hinter der Oberfläche zu liegen. Die Kanten der Duschkabine, das Glitzern des Deckenlichts

Sie wappnet sich, sich selbst in die Augen zu sehen. In Augen, denen auf dem Weg das Leuchten abhandengekommen ist. Ihr Blick hüpft davon zum Haaransatz. 

Ihr Atem stockt.

Zurück zu ihrer Augenpartie. Ihr Blick frisst sich fest, wo blaue Augen sie anstarren. Sie anstarren würden. Nichts als eine Verzerrung der Fliesenfugen. Wo ihr Gesicht sein müsste, der Hals, die Schultern. Die Verzerrung wird schwächer, die Linien gerader. Unberührte Fliesenwelt. Herzrasen. Sie beugt sich vor. 

Keine Bewegung im Spiegel – kein Gegenüber. Sie legt die Handfläche auf die Glasoberfläche. Kalt und glatt.

V3, 5836 Zeichen