Von Jochen Ruscheweyh

„Nicht, dass wir uns falsch verstehen, Tom, Ich finde John Mortimer ist ein großartiger Charakter. Er besitzt alles, was ein Serienheld braucht. Aber in der letzten Zeit ist er ein wenig – ich nenne es mal – behäbig geworden. Flach. Uninspiriert. Noch halten uns die Leser die Treue, aber wie lange?“

Tom schaute Natascha Schmidt nicht an. Was bildete sich diese Frau ein? Warum hatten sie ausgerechnet jemanden auf den Chefsessel gehoben, dem der BWL Geruch wie ein schlechtes Parfum anhaftete? Der scheinbar nur in Zahlen und Umsätzen dachte statt das zu sehen, was dahinterstand?

Mit Margarete war alles so einfach gewesen. Sie liebte John Mortimer und verstand, wie und warum John Dinge tat, tun musste. Tom hatte ihr leises Seufzen gemocht, wenn er ihr das Manuskript zu einem neuen Band überreichte. Einmal hatte sie Tom gestanden, dass sie sich Woche für Woche mit dem neuen John Mortimer und einem Glas Scotch in ein Schaumbad zurückzog, und wehe, jemand störte sie. Und dann so plötzlich … Leberversagen.

Selige Margarete.

Eine vom alten Schlag.

Sie hinterließ eine Lücke im Verlag, von der Tom nicht sicher war, ob jemand sie schließen konnte.

„Wissen Sie Tom, worin die große Gefahr besteht? Unsere Leser könnten mit ihm, mit John Mortimer,  behäbig werden. Und wenn sie das selbst feststellen, werden sie es uns vorwerfen. Also indirekt. Ihr Konsumverhalten ändern, auf eine andere, dynamischere Serie ausweichen.“

Tom trommelte mit den Fingern auf seiner Bundfaltenhose. „Was schlagen Sie vor?“

„Ha!“, lachte sie auf, „Sie sind mir ja eine Nummer, Tom! Es ist nicht mein Job, Ihnen etwas vorzuschlagen. Ich bezahle Sie, damit Sie kreativ sind, nicht ich.“

Einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Blicke.

Wie alt sie sein mochte?

Fünf Jahre jünger als er oder älter?

Ihr dezent geschminktes Gesicht ließ Ansätze von Falten um die Stirn- und Kinnpartei erahnen, die sich am Hals fortsetzten. Sie legte den Kopf leicht schräg und lächelte.

Ein falsches Lächeln, wie er fand.

„Herrgott, Tom!“, platzte sie plötzlich heraus, „jetzt sitzen Sie nicht wie ein Häufchen Elend da. Sie sollen Mortimer ja nicht beerdigen. Geben Sie ihm einfach ein paar Kanten zurück. Das hat er verdient. Er ist ein Mann. Lassen Sie ihn mit dem Schwanz denken, und ihn dabei richtig schön in die Scheiße greifen.“

 

Im Pausenraum klatschte sich Tom kaltes Wasser ins Gesicht. Er verspürte den Drang, sich ihr vulgäres Geplapper abzuwaschen.

Je mehr er rieb, desto stärker brannte sein Gesicht. So hatte ihn noch niemand behandelt in den über zwanzig Jahren, die er jetzt für Nierheim&Sobbe schrieb.

Behäbig?

Was für eine Unverschämtheit! John Mortimer stand für Entschleunigung, in einer Zeit, in der Schlagworte wie Optimierung und Effizienz zu Gradmessern einer sinnvollen Freizeitgestaltung geworden waren. Und Entschleunigung, das wollten seine Leser, davon war er überzeugt.

Statt die U-Bahn zu nehmen beschloss er, sich den Frust von der Seele zu laufen. Aber es half nichts, seine Gedanken kreisten ständig um die eine Frage: Würde Natascha so weit gehen, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden?

 

Als Tom am nächsten Morgen aufwachte, bestand seine erste Handlung nicht darin, die am Abend vorbereitete Kaffeemaschine anzustellen. Stattdessen setzte er sich an seine Schreibmaschine. Auch wenn sich sein Innerstes dagegen wehrte: John Mortimer musste sich neu erfinden, um überleben zu können. Das hatte ihm Natascha am Vortag deutlich gemacht.

 

Gegen Nachmittag erinnerte ihn sein Fußboden an ein Spielparadies bei IKEA, nur dass dieser nicht mit bunten Bällen sondern zusammengeknüllten Papierkugeln übersät war. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er ein Problem hatte und zwar ein verdammt großes. Denn John Mortimer war nicht etwa sein Alter Ego, oder wenn man es anders ausdrücken wollte, sein Mr. Hide. Alles was er, Tom, dachte, lebte, liebte, fühlte projizierte er in die Figur Mortimer. In Wahrheit schrieb er Woche für Woche über sich selbst. Über einen englischen Gentleman, den es ins Ruhrgebiet verschlagen hatte, einen warmherzigen, liebevollen Zeitgenossen, der stets das Glück anderer über das eigene stellte. Der zuhören konnte, Trost spendete, in den Arm nahm, Komplimente machte und mit fünfundvierzig Jahren selbst immer noch auf der Suche nach der großen Liebe war. Die Woche für Woche zum Greifen nah schien und dann doch wieder im letzten Moment wie Sand durch seine Hände rann. Wenn John Mortimer sich ändern musste, musste Tom sich mit ihm ändern. Sonst konnte er nicht darüber schreiben.

Aber wollte er das?

Hatte er sich nicht längst damit abgefunden, als Junggeselle zu enden, und kalte Bratkartoffeln vom Vortag aus der Pfanne zu essen?

Passten amouröse Abenteuer überhaupt zu ihm, oder wären sie wie ein falscher Mantel, den man aus Versehen im Theater nahm und dann hinterher feststellte, dass die Ärmel zu kurz waren?

 

Nach zwei weiteren ergebnislosen Tagen hinter der alten Adler, deren Farbband dringend gewechselt werden musste, sprang ihm die Lösung am Vormittag plötzlich entgegen wie einer dieser bunten Bälle bei IKEA. Natascha musste den neuen John Mortimer kennenlernen. Wenn sie ihn abstoßend genug fand, dann und wirklich nur dann, hatte der alte John eine Chance zu überleben.

Gehen 15 Uhr hatte Tom alles zusammen, was er benötigte: Ein neues, modernes, seinem Alter unangemessenes Outfit, diversen Modeschmuck sowie Insignien des digitalen Zeitalters in Form von Smart Phone und einer Health Watch. Zu seinem neuen Haarschnitt legte er einen schweren Herrenduft auf, zog Nataschas Karte aus seiner Brieftasche und wählte ihre Nummer.

 

Sie saß bereits an der Bar des Nobel-Italieners, als er eintraf, bewusst eine halbe Stunde zu spät. Ihre augenscheinliche Verärgerung über seine Verspätung schien einer Mischung aus Erstaunen und Verblüffung zu weichen, als er näher trat und seine Jacke ablegte. Ungefragt nahm er ihr Prosecco-Glas, stürzte den Inhalt herunter und sagte: „Mortimer, mein Name.“

„Aber … ?“, wandte sie lächelnd ein.

Er bedeutete ihr, still zu sein, indem er seinen Zeigefinger auf ihre Lippen legte. „John Mortimer, um genauer zu sein. Und jetzt werden wir über deine Brüste sprechen.“

Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr er sich überwinden musste, seinen wohl ausgearbeiteten, mit deutlich zu derben Anzüglichkeiten überfrachteten Monolog abzuspulen, in dessen Verlauf es wirkte, als rutschte Natascha immer unruhiger auf ihrem Barhocker hin und her.

„Ich habe hunderte Frauen gehabt“, leitete er den Höhepunkt ein, als der Kellner die Spagetti Diavolo brachte. Mit einer fließenden  Bewegung langte Tom nach einer der drei roten Peperoni, die das Topping auf der Soße bildeten – Schärfegrad mindestens 100000 Scoville, wie er telefonisch beim Koch vorbestellt hatte -, ritzte die Spitze kurz mit dem Messer an und begann die Umrandung ihrer Lippen damit nachzuziehen. Solange, bis er die Frucht schließlich mit einem Selbstbewusstsein, das ihn selbst erstaunte, und ohne Vorankündigung in ihren prall rot geschminkten Mund schob. Sie quittierte seinen Überfall mit einem kurzen Aufstöhnen, ließ die Peperoni für ihn ziemlich eindeutig zwischen ihren Lippen vor und zurück gleiten, bevor sie sie auf ihren Tellerrand legte und klarstellte: „Ich will deinen wilden aristokratischen Essex-Hammer. Jetzt.“

Nicht die Primitivität ihrer Worte erschreckte ihn, sondern die Tatsache, dass das hier gerade in eine ziemlich falsche Richtung lief, denn Natascha klang alles andere als angewidert. Sie erhob sich, zog ihr Kleid gerade und flüsterte ihm im Gehen zu: „Wir sollten deine Zukunft besprechen, John. In einer Minute folgst du mir auf die Damen-Toilette.“

 

Es widerte ihn an, ihr hinterherzulaufen, sie widerte ihn an. Aber wenn es notwendig war, um den alten, den echten John Mortimer überleben zu lassen, würde er seinen Ekel unterdrücken.

Glücklicherweise wurde das Parlazone um diese Zeit hauptsächlich von Espresso schlürfenden Bankern frequentiert, die noch schnell die Geschäftsunterlagen ihrer Abendtermine durchgingen, so dass Tom unproblematisch und diskret, wenn auch mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, in den Damen-Bereich gelangte.

Ohne Zögern zog Natascha ihn in eine WC-Kabine und verriegelte die Tür.

„Ich habe noch jeden hart gekriegt“, murmelte sie, drängte sich an ihn und begann ihn durch den Stoff seiner Hose zu bearbeiten. „Was wirst du dann gleich mit mir tun, John?“

 

Tom war sich sicher, dass es allein die mechanische Reizung war, die ihn auf sie reagieren ließ. Mit letzter Kraft nahm er ihren Kopf in beide Hände, modellierte ihre Wangen so, dass ihn eine verzerrte Fratze anstarrte und zischte ihr durch seine Zähne entgegen: „Wenn ich mit dir billiger Verlags-Nutte fertig bin, wünschst du dir, du hättest John Mortimer nie kennengelernt!“

Dann schob er sie zur Seite, riss den Toilettendeckel hoch und übergab sich.

Als er sich entleert hatte und sich auf den Boden sinken ließ, hörte er sie sagen: „Keine Angst, Tom, ich ficke meine Autoren nicht, das wäre vielleicht geil, aber nicht klug, denn anschließend müsste ich sie feuern. Ich denke, Sie haben mir ausreichend bewiesen, dass Sie für Ihre Figur brennen, sonst hätten Sie sich auf das hier nicht eingelassen. Sie haben ab jetzt alle Freiheiten, was die Mortimer-Reihe angeht. Wir werden sie zum Herzstück unseres Portfolios ausbauen. Dafür erwarte ich Ihre uneingeschränkte Loyalität. 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 12 Monate im Jahr. Und jetzt reißen Sie sich zusammen und machen Sie sich sauber.“

Sie zog eine Hand voll Kleenex aus dem Wandspender und warf sie ihm hin.

„Und keine Sorge“, fuhr sie fort, „ich werde niemals mit irgendeinem rührseligem Scheiß um die Ecke kommen wie, dass ich Ihnen so eine gute Freundin wie Margarete sein möchte. Das hier ist Business, und sonst nichts!“

Tom versuchte ein Lächeln: „Klare Worte. Damit kann ich leben.“

Irgendwann, dachte er, wird John Mortimer einen Weg finden, wie, wo und wann Natascha sterben und verschwinden kann. Vielleicht keine britische Lösung, aber eine unvermeidliche.