Von Manuela Murauer

Was waren das für wilde Zeiten! Verrückt, abgefahren, die Nächte hat sie sich um die Ohren geschlagen mit Hardrock Musik, Alkohol und Zigaretten. Die Schulnoten, ein Jahr vor dem Abitur, waren ihr ziemlich egal. In ihrer Klasse war Corinna zur Außenseiterin geworden, sie ist aus der Norm gefallen, war  unzuverlässig, hat die Schule geschwänzt und ihre Freiheit, wie sie es damals nannte, genossen.

Gleich, nachdem sie den Führerschein gemacht hatte, fing alles an. Corinna kam in eine Clique von Gleichaltrigen, manche hatten einen Job, andere machten eine Schulausbildung, aber alle hatten sie eines gemeinsam – sie waren wild. Wehe, jemand wollte ihnen Vorschriften machen. Die Eltern, die Arbeitgeber, die Lehrer, niemand konnte sie irgendwie im Zaum halten diese jungen Menschen und ein „kurzer Zügel“ kam sowieso nicht in Frage.

Am Liebsten umgab sich Corinna mit Jungs, Mädchen waren ihr zu kindisch, zu zickig oder beides. Die Klassenkolleginnen tuschelten hinter ihrem Rücken. Anfangs waren sie noch zurückhaltend, aber das Getratsche ging erst richtig los, als Corinna mit einem Jungen namens Tom aus der Clique unterwegs war. Tom war damals heiß begehrt, gut aussehend, charmant, ein Draufgängertyp. Tom wurde umgarnt, aber keine bekam ihn wirklich.  Für ihn waren seine Kumpels alles, seine Motorradtouren, seine Nächte in der Hardrock-Disco. Liebschaften passten nicht in sein Leben. Und doch, Corinna hatte es geschafft. Sie waren, natürlich inoffiziell, ein Pärchen.

In Corinnas Träumen war sie jedes Wochenende mit ihm auf dem Woodstock-Festival anno 1969 mit einem romantischen Gefühl von Love, Peace and Happiness. Die Clique unternahm häufig Ausflüge zu Motorsportveranstaltungen, Demonstrationen gegen Atomkraftwerke oder zu Musikfestivals. Die klapprigen, alten Autos der Cliquenmitglieder standen dann auf dem Parkplatz im Kreis, laute Musik von Janis Joplin, Jimi Hendrix, Joe Cocker dröhnte aus den Lautsprechern und sie lagen alle auf der Wiese mit Bier und Wodka und fühlten sich überirdisch cool dabei. Übernachtet wurde natürlich im Freien, egal, ob es geregnet hatte oder nicht. Corinna war jedes Mal stark verkatert, wenn sie heimkehrte. Ihre Eltern bemerkten das natürlich und stellten sie zur Rede, sie wollten ihr den Kontakt mit diesen Leuten am Liebsten verbieten, dies scheiterte aber klarerweise kläglich.

Alles in Corinnas Leben hatte sich zu dieser Zeit darum gedreht, Tom zu treffen, ihn zu sehen, Zeit mit ihm zu verbringen. Smartphones und Chats gab es damals noch nicht, es war alles dem Zufall überlassen. Zu Beginn der Freundschaft hat er sie noch charmant angelächelt, ihr so manchen heißen Blick geschenkt und vielleicht auch mal den Arm um sie gelegt. Dann hatte sie jedes Mal Schmetterlinge im Bauch und sie war ein klein wenig stolz darauf, dass er sich vor der Clique so zeigte mit ihr. Doch diese erste Zeit des verliebt-seins klang für Tom schnell ab.

Corinna hatte sich, nach außen hin, halbwegs gut damit abgefunden. Die wenigen, geheimen Nächte mit ihm hat sie für sich behalten. Knutschen in der Disco oder engumschlungen Tanzen war ihm zuwider, das wusste sie. Er war der harte Kerl, der Biker, der ständig Betrunkene. Sie hatte sich ihm Zuliebe in der Clique natürlich weiterhin lässig gegeben. Sie ging mit den Jungs auf Motorradtouren, von denen ihre Eltern nichts wussten, sie hätten das ja niemals erlaubt. Insgeheim hatte sie große Angst vor den schnellen Motorrädern, ihr Herz klopfte jedes Mal bis zum Hals, wenn sie kurvige Bergstrecken rasten. Sie konnte manchmal das schwere Motorrad nur mit Mühe lenken, aber sie wollte in erster Linie Tom gefallen, das ging ihr über alles. Außerdem hatte er ihr mal anvertraut, sie würde richtig heiß aussehen in dem Lederdress!

Sie gab sich auch an den Wochenenden cool, wenn er wieder mal betrunken in einer Ecke auf der Bank eingeschlafen war. Das Spiel einfach mitspielen, die harte Braut sein, Hauptsache, er blieb irgendwie bei ihr.

In der Schule lief natürlich dann nichts mehr gut.  Einzig der Philosophie-, Literatur- und Kunstunterricht interessierte sie noch. Eines Tages stellte der Philosophielehrer die Frage:

„Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?  Das sind die Urfragen des Menschen nach dem Sinn und Ziel des Lebens!“ Sie lauschte seinen Worten. Wer sind wir? fragte sie sich. Wer bin ich? Und wohin gehe ich?

Von diesem Tag an dachte sie viel über ihr Leben und ihre Zukunft nach. Mit Tom konnte sie über solche Themen nicht diskutieren. Wann denn auch? Er kam so selten zu einem Kaffee. Manchmal versetzte er sie einfach, wenn sie zum Beispiel im Kino verabredet waren, oder auf ein Eis. Sie wartete und er kam nicht. Wenn sie ihn dann am Wochenende darauf ansprach, lachte er.

„Willst du Händchen halten? Knutschen in der Öffentlichkeit?“ Sie war verletzt. Sie kamen an einen Punkt, an dem ihre Beziehung eigentlich keine mehr war. Er hatte sie erobert, das war sein Ziel gewesen, nachher war sie uninteressant geworden. Die Beute war für ihn erlegt. Nach einem halben Jahr fiel Corinna immer öfter auf, dass er mit anderen Mädchen flirtete.

Irgendwann kam sie mit einer Freundin aus der Clique darauf zu sprechen. „Er ist so kalt, so unnahbar. Es scheint ihn gar nicht mehr zu interessieren, mich zu sehen.“ Kerstin lachte laut auf und schüttelte den Kopf: „Bist du wirklich so naiv, Corinna? Das ist doch typisch für Tom. Das weiß doch jeder!“

Im Kunstunterricht lernten sie gerade über den Symbolismus und Paul Gauguin, seine Werke und sein Leben berührten sie sehr. Die Farbkompositionen der Gemälde, die Verwendung außerordentlich leuchtender Farben, ohne grell zu wirken. Ihr Kunstlehrer erklärte, dass die Bilder Gauguins nicht die sichtbare Wirklichkeit wiedergeben, sondern Ausdruck von Gefühlen und Gedanken sein sollten. Er stand vor der Klasse und in einem Diavortrag zeigte er die unterschiedlichsten Gemälde.

„So, ihr Lieben, jetzt kramt mal alle kräftig in euren Französischkenntnissen und übersetzt mir die drei Zeilen dieses Gemäldes von Gauguin“, referierte der Professor und zeigte mit einem Stock auf den linken, oberen Rand des Diabildes. Corinna hob die Hand und viele lächelten und tuschelten, weil niemand erwartet hatte, dass sie sich am Unterricht beteiligen würde.

„Ja, Corinna?“

„D’où Venons Nous, Que Sommes Nous, Où Allons Nous – das bedeutet : Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?“ Es war ganz still geworden in der Klasse und der Professor lobte sie für ihre Übersetzung. Corinna betrachtete das Bild aufmerksam, ihre Hände wurden schweißnass, ihr Herz raste, es rauschte in ihrem Kopf und mit den Interpretationen und Erklärungen des Lehrers im Hintergrund fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie hörte nur noch Wortfetzen an ihr Ohr dringen: „….in der Mitte des Gemäldes steht eine Figur in der Blüte ihrer Jahre…natürliche Leichtigkeit nach einer reifen Paradiesfrucht….. der erntende Mann …..Figur in melancholisch-resignierter Haltung….. der weiße Vogel steht nach Gauguin für die Nichtigkeit leerer Worte …leerer Schein, Eitelkeit…… Lüge, Prahlerei, Misserfolg oder Vergeblichkeit….“

Einige Wochen später rief Corinna Tom an, nachdem sie ihn länger nicht mehr gesehen hatte. Ihr Finger in der Wählscheibe zitterte.

„Kannst du heute vorbei kommen? Ich möchte mit dir reden.“ Ihre Kehle war trocken.

„Was gibt´s denn? Kannst mich ja auch am Telefon fragen“, meinte er kühl.

„Nein, ich würde gerne persönlich mit dir sprechen, Tom.“ Nach längerem hin und her konnte sie ihn, wenn auch widerwillig, überreden.

Nicht einmal hingesetzt hatte er sich. Er stand nur lässig an den Türrahmen gelehnt und hörte zu, was sie ihm zu sagen hatte. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, seine Augen funkelten verärgert.

„Du spinnst wohl? Das lass ich mir von dir nicht anhängen! So gehst du nicht mit mir um, such´ dir jemand anderen!“ So laut hatte er seine Stimme noch nie erhoben, sie kannte ihn so nicht. Verärgert setzte er seinen Motorradhelm auf und raste davon.

Corinna hatte noch einige Male versucht mit ihm zu sprechen, ihm alles zu erklären. Aber Tom wich immer aus, hatte kein Verständnis und gab ihr deutlich zu spüren, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Corinna hatte ihn anschließend öfter mal mit Kerstin gesehen, an der Bar sitzend, trinkend, rumknutschend. Sie war verzweifelt, einsam, traurig. Die Freunde aus der Clique hatten kein Verständnis für ihre Heulerei und mit Kerstin wollte sie natürlich auch nicht darüber reden. Einzig ihre Eltern waren froh, dass sie sich endlich von der Clique fern hielt.

An einem Frühlingstag, einige Monate später, brachte Corinna ihre Tochter zur Welt. Vom Kreissaalfenster aus konnte sie einen Blick auf den Busbahnhof der Schule erhaschen. Ihre Klassenkameraden standen schon in den Busbuchten und warteten auf die Heimfahrt. Sie musste lächeln, denn einige der Klassenkollegen hatten sich bereits für einen Besuch am Nachmittag angekündigt. Sie wollten „Corinnas kleines Wunder“ sehen.

Corinna holte ihr Abitur nach, mehr recht als schlecht, aber immerhin hatte sie ihren Abschluss in der Tasche. Nur mit der Unterstützung ihrer Eltern ist es ihr gelungen, wieder ein geordnetes Leben zu führen und ihre Tochter groß zu ziehen.

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Jahre später besucht sie mit ihrer Tochter eine Kunstausstellung im Museum. Sie zeigt ihr das Bild von Paul Gauguin und erzählt über Que Sommes Nous und darüber, wie wichtig es ist zu wissen, wer wir sind und wohin wir gehen werden.

„Es liegt alles in unserer Hand was wir aus unserem Leben machen, Liebes!“ Sie lächelt ihre Tochter liebevoll an und beide stehen sie lange schweigend vor dem Gemälde.

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