Von Ursula Riedinger

Das Flugzeug nach Wellington hob pünktlich um 9:15 Uhr ab. Stefan lehnte sich zufrieden in seinem Sitz zurück. Als er aus dem Fenster schaute, sah er die Bucht von Sydney unter sich, erhaschte noch einen Blick auf die Harbour Bridge und das Opera House, dann waren sie bereits über dem Meer. In etwas mehr als drei Stunden würde er das letzte Ziel seiner Weltreise erreichen, Neuseeland.

Von diesem Land hatte Stefan schon lange geträumt. Im Büchergestell seiner Eltern gab es einen Bildband über Neuseeland mit herrlichen Bildern von Gletschern, heissen Quellen, subtropischen Wäldern, glitzernden Seen, den er sich immer wieder angeschaut hatte. Aber bisher war es einfach nicht möglich gewesen, eine so weite Reise zu unternehmen.

Er hatte, nachdem er über seine grosse Liebe, Sophie, hinweggekommen war, Monika geheiratet, eine Frau, die Sophie rein äusserlich stark glich. Schlank, feingliedrig, lange dunkle Haare. Aber sie war nicht wie Sophie gewesen. Trotzdem hatte er mit Monika eine gute Ehe geführt. Sie hatten drei Kinder bekommen und eine liebevolle, freundschaftliche Beziehung gepflegt. Als Monika ihm verkündete, dass sie sich von ihm trennen wollte, fiel er aus allen Wolken. Aber nach und nach merkte Stefan, dass dieser Schritt auch für ihn stimmte. Jana war 23 und studierte Tanz in Berlin, Milena war 20 und machte ein Praktikum als Krankenschwester in Schweden, Patrick war 18 und im Moment mit dem Fahrrad rund ums Mittelmeer unterwegs.

Darum war er jetzt hier, über den Wolken. Er hatte seine kleine Firma seinem Stellvertreter übergeben und war aufgebrochen. Er hatte sich Zeit genommen, hatte alle Orte besucht, von denen er schon lange geträumt hatte. Einige herrliche Sommerwochen lang hatte er Schweden und Finnland bereist, dann verschiedene griechische Inseln besucht. Danach hatte er sich nach Istanbul und Jerusalem aufgemacht, war in den Iran geflogen und hatte gestaunt ob all der grossartigen Kultur. Später hatte er eine Zeit lang in Indonesien gelebt. In Australien hatte er eine Pause eingelegt, um seine Schwester in Sydney zu besuchen. Nun war er müde und erfüllt von all den Orten, aber doch auch neugierig auf Neuseeland.

Stefan war erstaunt, wie einfach es ihm gelang, Kontakt zu knüpfen und interessante Leute kennenzulernen. Das war eine ganz neue Erfahrung. Er war ein eher introvertierter Mensch, hatte immer ein wenig darunter gelitten, dass er nicht so rasch aus sich herauskam. Aber wenn man allein reiste, war alles viel einfacher. Man kam ins Gespräch, teilte Eindrücke und Erfahrungen mit anderen Reisenden, bis sich die Wege wieder trennten. Und man konnte, wann immer man mochte, auch allein sein.

Ab und zu schweiften seine Gedanken zu Sophie. Er hatte sie nicht wiedergesehen und sich noch lange, sehr lange nach ihr gesehnt. Sie war weggezogen, ihr Kontakt war abgebrochen, auch wenn sie versucht hatten, sich regelmässig zu schreiben. Wo sie heute wohl lebte?

„In a few minutes, we will be landing in Wellington. Local time, 2.30 p.m. The weather is fine, temperature 24 degrees.“

Von Wellington war Stefan eher enttäuscht, eine Grossstadt wie Sydney, aber mit weniger Charme und mehr Wind. Er reservierte sich so rasch wie möglich einen Platz auf der Fähre zur Südinsel und quartierte sich in Nelson ein. Dann buchte er einen mehrtägigen Ausflug in den Abel Tasman National Park.

Im Süden des Nationalparks wurde er, zusammen mit anderen Reisenden, vom Schiff abgesetzt. Jetzt begann seine Wanderung. Er fühlte sich unterdessen sehr fit, war noch nie in seinem Leben so viel gelaufen wie auf dieser Reise. Zuerst regnete es ein wenig, aber im Laufe des Tages wurde es warm, die Sonne brannte, wenn man nicht im Schatten gehen konnte. Die Natur war so schön, wie er sie sich vorgestellt hatte. Blaues Meer, Strände, Wälder mit üppigen Pflanzen, allem voran die eindrücklichen Baumfarne mit ihren saftig grünen Blättern. Unterwegs machte er einen Abstecher zu einem Wasserfall. Blaues Wasser inmitten des Waldes, dahinter der kleine Wasserfall. Stefan schwamm ein paar Runden im kühlen Wasser und machte sich dann erfrischt wieder auf.

Am frühen Abend erreichte er die erste Hütte. Er hatte Glück, es gab noch freie Betten in der einfachen Unterkunft. Er kam ins Gespräch mit anderen Gästen aus aller Welt, die vor der Hütte bei der Feuerstelle sassen und ihr Nachtessen brieten. Stefan nahm seine Wurst hervor und briet sie an einem Stock über dem Feuer, wie sie das als Kinder gemacht hatten, wenn seine Familie wandern ging. Es schmeckte herrlich.

Das Feuer ging langsam aus, einzelne Reisende sassen noch draussen unter dem Sternenhimmel und diskutierten: Michael und Sabine aus Deutschland, Ian aus Irland, Mishiko aus Japan und Giuseppe und Paola aus Italien. Jemand fragte, wo jetzt das Kreuz des Südens wäre. Stefan konnte es ihnen zeigen, er kannte sich aus. Andere hatten sich schon hingelegt, weil sie am anderen Morgen früh weiterlaufen wollten.

Da kam vom Strand her mit müden Schritten eine junge Frau daher, eine feine Gestalt mit einem grossen Rucksack. Sie hatte ihre langen Haare zu einem lockeren Zopf geflochten. Als sie noch näher kam, zuckte Stefan zusammen. Sie sah aus wie Sophie, jedenfalls wie er sich vorstellte, dass Sophie jetzt aussah. Sie hatte graue Strähnen im Haar. So jung war sie gar nicht.

Sie fragte: „Anything free here tonight?“

“Yes sure, there are two beds left.” Michael sagte es, mit deutschem Akzent.

Die junge Frau wechselte auf Deutsch. „Oh, super, da habe ich ja Glück.“

Sie ging hinein, um sich ein Bett zu suchen und ihren Rucksack abzustellen. Nach einiger Zeit kam sie wieder hinaus. Sie hatte sich ein frisches T-Shirt angezogen und trug Wasser, Brot und Käse heraus.

Stefan war verwirrt. Die Frau war eindeutig Schweizerin, keine Deutsche. Und sie sah aus wie Sophie. Aber sie sah jünger aus, keine 47 Jahre.  

„Bist du auch aus der Schweiz?“ Stefan trat etwas näher, um die Frau besser anschauen zu können. Sie war eindeutig älter als sie aussah.

Die Frau blickte auf. „Ja, du auch?“

Die Stimme!

„Freut mich, ich bin Stefan und komme aus Zürich.“ Er reichte ihr die Hand.

Überrascht musterte sie ihn. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

„Stefan? Stefan Züllig? Das glaube ich ja nicht! Du bist hier? Nach all den Jahren …“

„Sophie, unglaublich, da treffen wir uns auf der anderen Seite der Welt, nachdem wir, äh,
30 Jahre nichts voneinander gehört haben. Ich bin sprachlos.“

Sophie verschlang Brot und Käse.

„Und jetzt, erzähle!“

Die andern gingen einer nach dem andern ins Bett. Aber Sophie und Stefan hatten sich so viel zu erzählen.

Um Mitternacht kam Michael zur Tür und rief: „Könnt ihr nicht etwas leiser sein, wir wollen schlafen!“

Stefan und Sophie bemühten sich, im Flüsterton weiter zu sprechen. So viele Jahre lagen zwischen ihnen. Stefan erzählte von seiner Ehe und seinen Kindern. Sophie von ihrer langjährigen Beziehung mit ihrem Freund Frank, von dem sie sich letztes Jahr getrennt hatte.

Morgens um 2 Uhr hauchte Stefan ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Gute Nacht Sophie, schlaf gut, bis morgen.“

Als er auf seiner Koje im Schlafsack lag, drehten sich seine Gedanken. Sophie war hier, er hatte Sophie wiedergefunden.

 

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