Von Raina Bodyk

„Amalie, da du morgen Theodor von Praun heiraten wirst, müssen wir über deine ehelichen Pflichten sprechen“, mahnt ihre gestrenge Mutter.

„Ach nein! Ich möchte viel lieber noch einmal mein wunderschönes Brautkleid anprobieren.“

„Jetzt nicht! Wie viele Mädchen gehen arglos in die Ehe und erleben in der Hochzeitsnacht den Schock ihres Lebens. Männer, musst du wissen, haben sehr sonderbare Gewohnheiten. Diese klaglos zu erfüllen, wird deine Aufgabe als Gemahlin sein.“

„Ja, Mama!“, hört die Tochter nur halb hin.

„Mein unschuldiges Kind!“, seufzt Theresa. „Wir haben dich anständig erzogen. Also wirst du deinem Gatten niemals erlauben, deinen unbekleideten Körper zu sehen, so wie du nicht erlauben wirst, dass er seinen unbekleidet zur Schau stellt.“

„Natürlich nicht! Wie peinlich!“

„Alle Frauen müssen dieses unangenehme Verhalten erdulden. Mach einfach das Licht aus und ertrage es. Wenn du klug bist, gestattest du nicht mehr als zwei nächtliche Begegnungen in der Woche. Täusche einfach Kopfschmerzen oder Müdigkeit vor.“

„Theo ist bestimmt nicht so, er ist doch schon ziemlich alt!“, bemerkt die blutjunge Braut über den abwesenden Herrn im besten Alter von vierzig Jahren

Theresa schüttelt den Kopf über so viel Dummheit: „Eine Frau braucht einen Gatten, der sie führt und versorgt. Du wirst Mutter werden. Das ist nun einmal die Bestimmung der Frau. Eine Dame deines Standes kann nicht allein für sich sorgen, ohne ihren guten Ruf zu verlieren. Du kannst schließlich nicht als Dienstmädchen arbeiten. Denke daran, wer du bist!“

 

*** 

 

Sofie liegt auf ihrer kratzigen Matratze in der kleinen, ungeheizten Kammer unter dem Dach und schluchzt hemmungslos vor Erschöpfung und Mattigkeit. 

Von sechs Uhr morgens bis spät in die Nacht hetzt die Herrschaft die Vierzehnjährige herum, damit sie deren vielfältige Anliegen und Befehle ausführt. Abends kommt sie erst ins Bett, wenn die Gnädige sich mit einer letzten Tasse Kakao zurückgezogen hat. 

In aller Frühe befeuert Sofie pflichtbewusst die verrußten Kamine, füllt die Waschkrüge mit warmem Wasser, leert die Nachttöpfe. Wünschen die Herrschaften ein Bad zu nehmen, schleppt sie keuchend Eimer um Eimer die steilen Treppen hinauf. Sie putzt, bügelt, spült, poliert das Silber, serviert, flickt. 

Wenn die Haushälterin schlecht gelaunt ist oder Sofie etwas vom guten Porzellan hat fallen lassen, beschimpft diese sie als nachlässig und zitiert regelmäßig ihren Lieblingsspruch: „Erfüllte Pflicht – macht froh‘ Gesicht!“ Das hat sie bestimmt in einem der zahlreichen Frauenratgeber gelesen, die überall herumliegen und die von der Gnädigen verschlungen werden.

Sofie erträgt das alles, ist froh, den Eltern ab und an ein wenig Geld für die Kleinen schicken zu können. 

Bis dann eines Nachts der Herr des Hauses zum ersten Mal in ihr Bett schleicht … Sie kann sich gegen seine Kraft nicht wehren, nicht schreien, da er ihr grob den Mund verschließt. Am Morgen bezeugen blaugrüne Abdrücke an Armen und Beinen seine Gnadenlosigkeit. Sie schämt sich unendlich.

 

***


In den schmalen Gassen stinkt der Müll gen Himmel. Die abbruchreifen Häuser mit ihren seelenlosen Augen werfen tiefe Schatten über das holprige Kopfsteinpflaster. 

In einem düsteren Toreingang liegt eine zerlumpte Gestalt unter ein paar zerknüllten Zeitungsblättern. Eine auffällig geschminkte Dirne, kaum besser aussehend als diese, nähert sich und schüttelt die Regungslose.

„Hey du, was machst du hier? Das ist mein Platz. Verzieh dich!“

Die Hure bekommt nur ein leises Stöhnen zur Antwort und mustert die andere prüfend: „Wie heißt du?“

„Sofie.“ Das Flüstern ist kaum vernehmbar.

„Ich bin Lili. Hast du Hunger?“ Als die andere nickt, steckt die Dirne ihr einen trockenen Kanten Brot hin. 

„Wo kommt du her?“

Stotternd beginnt Sofie: „Ich b-bin in die Stadt gekommen, weil ich A-Arbeit gesucht habe. Ich hatte sogar Glück, dachte ich z-zumindest. Aber dieser widerliche Hausherr kam nachts in meine K-Kammer und hat m-mich …
Als die Gnädige uns erwischt hat, hat sie mir v-völlig empört eine dicke O-Ohrfeige verpasst und mich ohne Geld und Z-Zeugnis rausgeworfen. Ihr M-Mann sei ein Gentleman und ich eine D-Dirne.“

Lili nimmt sie mitleidig in den Arm: „Arme Kleine. Aber in dieser Gegend gibt es nur eine Art, sein Geld zu verdienen. Du hättest bei deinem Herrn bleiben sollen. Hier draußen wimmelt es von ansteckenden Krankheiten. Bei Soldaten und Seeleuten musst du besonders gut aufpassen.“

„Ich kann mich doch w-wieder als D-Dienstmagd verdingen.“

„Vergiss es! Ohne Empfehlung wird dich niemand nehmen. Ihr Mädchen kommt mit großen Träumen vom Land und wollt Geld verdienen. Aber selbst die Fabrikarbeiterinnen müssen sich feilbieten, weil der Lohn nicht reicht. Du hast nur die Wahl: entweder deinen Körper verkaufen oder verhungern.“ 

 

Nach drei schlaflosen Nächten unter einer Brücke ist Sofie so verzweifelt und ausgehungert, dass sie bereit ist, Lili zu ihrem Stammplatz zu begleiten. 

Sofort nähert sich zielstrebig ein Herr im edlen Zwirn. Er winkt das Mädchen mit ausgestrecktem Zeigefinger zu sich heran. Er dreht ihr Gesicht wie bei einem Gaul prüfend hin und her: „Du bist neu! Bist du gesund?“

„J-ja!“

Er zieht die Widerstrebende in den nächsten Hauseingang, nimmt sich sein kurzes Vergnügen, drückt ihr ein paar Heller in die schlaffe Hand und verschwindet. 

Die verwinkelten Gassen spucken Gutbetuchte, Seeleute, Arbeiter, Soldaten vor ihr aus – arrogante, betrunkene, ungepflegte, gewalttätige. Sofie wehrt sich gegen niemanden mehr, stumpf lässt sie alles über sich ergehen. Erträgt die abschätzigen, lüsternen Blicke und Hände, äußerlich wie innerlich erstarrt.

 

Eines Tages findet Lili sie schmerzgepeinigt an einer verfallenen Hauswand lehnend. Sie übergibt sich stöhnend und hält sich ihren krampfenden Leib.

„Bist du krank?“

„Ich glaube, ja. Mit ist seit T-Tagen übel und ich muss d-dauernd speien.“

„Sofie! Du kriegst doch nicht etwa ein Kind?“

„Ich w-weiß nicht. Seit einigen W-Wochen habe ich mein G-Geblut nicht mehr“, gesteht das Mädchen herzerweichend jammernd.

„Verdammt! Hör zu, du darfst das auf keinen Fall jemandem verraten. Schnüre dein Kleid nicht mehr. Ledige mit dickem Bauch werden streng bestraft.“

 

***

 

Amalie blickt ihren Gatten errötend an: „Theo, ich glaube, wir bekommen ein Baby!“

„Sehr gut! Ein Stammhalter wäre mir sehr willkommen.“

Sie streicht sich zart über den Bauch und wendet sich wieder ihrer Buchstabenstickerei zu: 

Nur eine Mutter weiß allein, was lieben heißt und glücklich sein.

Sie versinkt gedankenverloren in Träumereien. Das Eheleben ist leider nicht so romantisch, wie sie es sich vorgestellt hat. Ihr Mann werkt den ganzen Tag in seinem Comptoir. Sie sieht ihn wenig, außer wenn er in ihr Gemach kommt und seine Bedürfnisse stillt. Sie lässt es schweigend geschehen, ist froh, wenn er wieder in sein Schlafzimmer verschwindet. Die Liebe aus den Mädchenromanen, die sie früher verschlungen hat, gibt es wohl nicht. Sie ist Theo dankbar für ihren Aufstieg in die tonangebende Gesellschaft und ihr gesichertes Leben, hat aber dennoch ein klein wenig Angst vor ihm. Er kann ziemlich furchteinflößend sein.

Amalie erfüllt ihre Pflichten gewissenhaft. Repräsentiert würdevoll, ordnet sich dem Willen ihres Mannes unter, plaudert angenehm über Nichtiges, zeigt sich liebreich, bescheiden und gütig. Spricht nicht über den Beruf ihres Mannes und auf gar keinen Fall über Politik. Zuhause herrscht sie klug und gerecht über Heim und Dienstboten. 

Die nehmen ihr eifrig alle Arbeit ab. Insgeheim stöhnt Amalie oft, wie lang und öde doch die Tage sind. Lesen, handarbeiten, das Klavier malträtieren, ausgiebige Kaffeekränzchen mit den Damen der Gesellschaft halten …

Aber jetzt wird alles anders werden! Sie erwartet ein Kind! Das wird wunderbar werden. Sie wird es wickeln und nähren, auf den Arm nehmen und mit ihm spielen. Sie stellt es sich herrlich vor, mit ihm spazieren zu gehen und ihm Lieder vorzusingen. Wenn es etwas älter ist, wird sie ihm Gutenachtgeschichten erzählen, mit Begeisterung tausend wonnevolle Fragen beantworten. 

 

***

 

Amalie sitzt am Fenster und stickt weiter an ihrem Bild. Sie ist stolz, Theo einen Sohn und Erben geschenkt zu haben. Sein Respekt vor ihr ist gewaltig gestiegen. 

 

Vossische Zeitung vom 17. September 1823

Herr Theobald von Praun und Gattin Amalie geben sich die Ehre, die Geburt ihres Sohnes Johann bekannt zu geben. Aufwartungen gern nachmittags.

 

Im Kinderzimmer hört sie den Kleinen fröhlich krähen. Die Amme gibt ihm wohl gerade die Brust. Sie sehnt sich danach, es selbst zu tun. Aber Theodor bestand darauf: „Das ist nicht angemessen. Das ist Aufgabe der Dienerschaft.“

Später wird die Kinderfrau es vergnügt im eleganten Kinderwagen spazieren fahren   …

 

***

 

Zwischen den trostlosen Häuserfluchten wird Sofie unvermittelt von Wehen überrascht. Mit letzter Kraft schleppt sie sich in einen dunklen Flur, sinkt auf den schmutzfleckigen Boden. Schweiß rinnt ihr über Stirn und Hals. Schwer atmend krümmt sie sich vor Schmerzen. So liegt sie fast den ganzen Tag, ohne dass jemand sie entdeckt. Sie brüllt und wimmert, presst. Endlich spürt sie, dass der Körper des Kindes nach draußen drängt. Sacht wickelt sie es in ihren fleckigen, alten Rock. 

Der Winzling sieht so süß und unschuldig aus! Zart streichelt sie die winzige Hand. Doch gleich greift bittere Verzweiflung nach ihr. Was soll sie tun, wohin gehen? Lili kann ihr nicht helfen. Hoffnungslos niedergeschmettert sieht Sofie keinen Ausweg für sich und das Baby. Noch nie hat sie sich so allein gefühlt. Eine alles überwältigende Angst schnürt ihr die Kehle zu. Man wird sie für ihr uneheliches Kind an den Pranger stellen und in den Kerker werfen. 

 

***

 

Vossische Zeitung vom 17. September 1823

Gestern bot sich einem aufmerksamen Büttel in S. ein grausiges Bild: Ein fünfzehnjähriges Straßenmädchen umklammerte ein bluttriefendes Küchenmesser und liebkoste gleichzeitig ihr Neugeborenes, dem sie gerade das Leben genommen hatte. 

Sie ließ sich widerstandslos ergreifen, musste aber mit Gewalt gezwungen werden, den toten Säugling loszulassen.

 

 

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