Von Monika Huber

Heute beginnt ein neues Leben, beschliesst Nora stimmgewältig, als würde das Aufdrehen der eigenen Lautstärke eine Garantie dafür sein. Sie befreit sich von der Nachtwärme, in dem sie die Bettdecke entschieden ans Fussende wirft. Sie schwingt ihre Beine über den Bettrand, schiebt ihre nackten Füsse in die ausgetretenen Hausschuhe und erhebt sich kraftvoll mit Hilfe der aufgestützten Handflächen. Zielsicher geht sie in das Badezimmer, um die letzten Reste der Nacht fortzuspülen.

 

Mit einem langen Blick in den Spiegel begrüsst sie den Tag. Mit grossen, fast trotzigen Augen schaut sie in ihr entschlossenes Gesicht. Wenn sie nicht genau wüsste, es ist ihr Gesicht, in welches sie schaut, sie würde es für das Gesicht einer wildfremden Person halten.

 

Das Fremde spürt Nora auch in ihrem Körper. Jede Bewegung, jede Gestik, jeder Gedanke scheint schwungvoller aus ihr herauszudringen. Plötzlich wirkt alles so selbstverständlich und leicht und sie ist überzeugt, nun endlich den grossen Tag erleben zu dürfen, von dem ihr Grossvater zu Lebzeiten behauptete, heute könnte ich Bäume ausreissen.

 

Nora hat nie den Sinn dieser Worte verstanden. Sie erwiderte, wenn er diese vertrauliche Mitteilung machte, ich finde, es ist ein Tag zum Mäuse melken. Es schien ihr, die angemessene, ihrem Gefühl entsprechende Antwort zu sein. 

An so einem Mäusemelk-Tag backte sie kleine Brötchen ohne grosse Rosinen. Von dem Wunsch, einmal Bäume ausreissen zu wollen, wusste sie noch nichts. Dieser Tag schien bis heute geduldig in der Ferne zu warten. 

 

Das Aroma des Morgenkaffees ist intensiver, die Himbeerkonfitüre schmeckt fruchtiger, der Toast mundet knackiger. Dem Frühstück folgt der Appetit nach besonderen Herausforderungen. Einen Lottoschein wird sie nicht ausfüllen, keine Gehaltserhöhung verlangen und nicht mit ausgesuchten Männern flirten. Nora nimmt sich vor, an diesem denkwürdigen Tag endlich ihre festgefahrenen Gedanken zu befreien und sich gegen die tägliche Misshandlung ihrer wenigen Worte entschlossen zu wehren. 

 

Punkt halb acht verlässt sie die Wohnung. Zwei Schritte später steht ihre alte Nachbarin wild gestikulierend vor ihr. «Haben sie Susi?», fragt sie etwas zu schrill. Nora ist Heute besonders empfindlich gegenüber Sprachkrüppeln. Ihr erster Impuls, sich still zu ärgern, weicht einem Gefühl der Nachsichtigkeit. Die alte Frau wirkt besorgt und ängstlich. Die jahrelange Missachtung verständlicher Satzgefüge, die wie das tägliche Brot das Land überschwemmt, hat auch vor ihr nicht Halt gemacht.

 

Nora bleibt stehen und fragt freundlich, «was heisst das, haben sie Susi?»

«Haben sie Susi gesehen?», vervollständigt die alte Frau ihre Frage.

«Wer ist Susi?»

«Ja, meine Katze, wer denn sonst.» Die alte Frau scheint entrüstet, als erwarte sie, jedermann müsse Susi kennen.

«Ich habe ihre Katze nicht gesehen, tut mir leid», verabschiedet sich Nora, springt in grossen Sätzen die Treppe hinunter und geht mit schnellen Schritten Richtung U-Bahn, um sich ihrem Tagesziel zu nähern. Die Bahn ist nicht überfüllt, keine Fahrräder behindern den Zugang, keine unangenehmen Gerüche die Nase.

 

Um halb neun betritt Nora die Eingangshalle des grossen Bürohauses, indem sie arbeitet. Sie geht vorbei an der Empfangsdame, direkt zum Lift, der zu dieser Zeit von vielen Menschen benutzt wird. Sie benehmen sich Heute ausserordentlich zurückhaltend, als würden sie ahnen, was in Nora vorgeht. Im fünften Stock verlässt Nora in bester Laune den Lift und geht an ihren Arbeitsplatz.

 

«Ich könnte Heute Bäume ausreissen,» sagt sie zu ihrer besten Freundin, die am Nachbartisch sitzt und bereits die Tasten des Computers quält. 

«Das möchte ich auch mal sagen können,» erwidert diese, «bevor du damit beginnst, schau in die rote Mappe, der Chef hat sie vor fünf Minuten gebracht.»

 

Der Chef, das ist der Mann, der das Sagen hat in der Versandabteilung und der jede Gelegenheit nutzt, um Nora zu plagen. Diese Rechnung ist falsch, steht mit drei Ausrufezeichen in roter Tinte riesengross und quer über das Blatt geschrieben.

«Was hat er denn für Sorgen?», will die Freundin wissen. Rote Mappen bedeuten in diesem Haus Zurechtweisung, Kränkung, Demütigung. Er benimmt sich gerne so, der Herr Chef. Bald würde ein Anruf folgen, in dem er sein Opfer in sein Büro zitiert und mit einem hämischen, grinsenden Gesicht sein diskriminierendes Werk wortgewaltig vollendet.

Heute wartet Nora nicht auf die persönliche Einladung. Auch die erste Betroffenheit, welche sie regelmässig erfasst bei jeder Art von Zurechtweisung, nimmt Heute keinen Besitz von ihr. Zuviel Anderes hat von ihr Besitz ergriffen. Es ist einfach kein Platz für Selbstmitleid.

 

Nora ignoriert die rote Tinte und schaut sich die Rechnung gründlich an. Sie kann nicht erkennen, was falsch ist. Die Addition stimmt. Vielleicht ist der Adressat falsch oder die Stückzahl ist nicht identisch mit der Bestellung. Die roten Schriftzeichen geben darüber keine Auskunft. Aber eines ist sicher, Nora hat diese Rechnung nicht geschrieben.

 

An einem anderen Tag hätte Nora die Rechnung stillschweigend der Urheberin gegeben und sich genauso stillschweigend über die Ungerechtigkeit ihres Chefs geärgert. Ob sie deshalb auffällig oft die rote Mappe erhielt, die zu 99% irrtümlich bei ihr landete? 

 

Heute jedenfalls hat diese Geschichte ein Ende, das fühlt Nora instinktiv. Sie erhebt sich resolut von ihrem Bürostuhl, klemmt die Mappe unter den Arm, geht forsch an ihrer Freundin vorbei und mit kräftigen Schritten direkt auf das Büro des Chefs zu. Sie klopft energisch an seine Tür und öffnet sie, nachdem ein tiefes, durchdringendes Herein ertönt war. Während sie die Tür öffnet, sieht sie, wie er kurz den Kopf hebt, um, sie nimmt es an, die Störung zu identifizieren. Als Nora die Tür hinter sich schliesst, hat er sich bereits wieder den Unterlagen auf seinem Tisch gewidmet. Nora lässt sich nicht von seiner Ignoranz beeindrucken. Sie stellt sich vor seinen Schreibtisch und beginnt zu sprechen. Nicht vorsichtig und leise, wie man es von ihr gewohnt war, sondern laut und deutlich.

 

«Sie haben mir diese Rechnung auf den Tisch gelegt. Weshalb haben sie das getan?» Der Chef blickt erneut auf. Nora meint, in seinen Augen Unsicherheit wahrzunehmen. 

Er antwortet entrüstet, «Sie wollen von mir wissen, weshalb ich das getan habe? Sind sie übergeschnappt? Können sie nicht lesen? Geben sie die Rechnung her,» und sie gibt ihm die Rechnung. «Diese Rechnung ist falsch,» liest er laut vor und fährt ohne Luft zu holen fort, «Sie halten den ganzen Betrieb auf. Ihre Unterlagen muss man besonders sorgfältig kontrollieren. Ich weiss nicht, wie lange wir sie noch tragen können.» Wegen des fehlenden Sauerstoffs ist sein Kopf inzwischen purpurrot angelaufen.

 

Nora reisst sich zusammen. Es hat keinen Wert, die Vergangenheit wiederzubeleben. Sie spürt das. Sie hätte jedes Missverständnis sofort aufklären müssen. Jetzt ist es zu spät. Aber, es ist nicht zu spät, Heute einen Baum auszureissen. Sie muss sich zwingen im Jetzt zu bleiben. Gedanken befreien, Gedanken befreien, Gedanken befreien, sagt sie ein paar Mal im Stillen, um sich auf keinen Fall von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen.

 

«Sagen sie bitte, was an dieser Rechnung falsch ist,» erwidert sie mit dem neu gewonnen Selbstbewusstsein.

 

Da der Chef in der Unterlage auf Anhieb keinen Fehler findet, sagt er, «Die Stückzahl wird falsch sein.» Nora antwortet, «wenn sie es genau wissen, geben sie die Rechnung bitte Frau Munster.» 

«Was fällt ihnen ein. Es ist nicht ihre Aufgabe, mir zu sagen, wem ich die Rechnung zu geben habe.» 

Nora bleibt ruhig und erwidert, «Mu, sehen sie das Zeichen oben rechts, es steht für Munster. Ich bin Frau Mü wie Müller.» Sie macht kehrt und verlässt den Raum, ohne darauf zu achten, was der Chef brummt.

 

Sie setzt sich an ihren Schreibtisch und beginnt zu arbeiten.

«Was?», fragt ihre Freundin neugierig.

«Wie, was?», antwortet Nora. Unverständliche Satzgefüge will sie in Zukunft nicht mehr tolerieren.

«Was hat er gesagt?», ergänzt die Freundin. «Weshalb willst du nicht wissen, was ich gesagt habe?»

«Irgendwie bist du Heute komisch,» stellt die Freundin leicht verwirrt fest.

«Heute beginnt ein neues Leben. So kann es nicht mehr weiter gehen,» resümiert Nora.

«Na, wenn du meinst, du brauchst das. Vielleicht können wir in der Mittagspause darüber reden.»

 

Als Nora am Abend die überfüllte U-Bahn betritt, sich unangenehme Gerüche verbreiten und Fahrräder keinen Platz finden, zieht der Tag in ihren Gedanken noch einmal vorbei. Der Chef hat sich nicht mehr gezeigt, das ist auffällig. Nora ärgerte sich viel weniger als an anderen Tagen und es scheint, als würden die Menschen sich überlegen, was sie zu ihr sagen. Aber warum sollten sie das tun. Es hat ihnen doch niemand gesagt, dass sie nun Bäume ausreissen kann, wenigstens ab und zu. Es ist Noras Geheimnis.

 

Als sie müde zuhause eintrifft, öffnet die alte Nachbarin die Tür und fragt, «haben sie Susi, meine Katze gesehen?» «Nein, es tut mir leid, ich habe Susi nicht gesehen.»