Von Miklos Muhi

»Heute werden wir wieder einen schönen Tag haben: Sonne satt, an einigen Stellen bewölkt, gebietsweise Aufhellungen. Wir wünschen euch allen einen guten und produktiven Tag.«

Gerd schaltete das altmodische Radio aus. Wieder keine guten Nachrichten. Er seufzte und öffnete den Brief von seiner Bank.

 

Dessen Inhalt war keine Überraschung. Die Bank forderte die Zahlung der ausstehenden Kreditraten und wies auf das Hilfsprogramm der Regierung hin. Es war vor fünf Jahren ins Leben gerufen worden und versprach in Not geratenen Bauern staatliche Hilfe. Dem blauen Brief legte die Bank sogar das Antragsformular bei. Die beschriebenen Rahmenbedingungen passten zu seiner Lage wie angegossen.

 

Die Insolvenz essenzieller Betriebe stand unter Strafe. Dafür gab es lebenslänglich mit anschließendem Sicherheitsverwahrung für die ganze Familie, in verschiedenen Haftanstalten, versteht sich. Ein landwirtschaftlicher Betrieb war in den Befehlen der Regierung als essenziell bezeichnet worden und solche Befehle hatten Gesetzeskraft.

 

Gerd wollte nicht pleitegehen. Er hätte nichts lieber getan, als seine Kredite bedient und weiter auf seinen Feldern gearbeitet. Heutzutage waren die Preise für alle Arten von Getreide sehr hoch. Das lag daran, dass kaum etwas wuchs.

 

Vor der Revolution von Vernunft und Normalität waren die Preise niedriger und die Erträge höher. Einfacher war es nicht, denn es gab allerlei Vorschriften zu beachten. Man wurde angehalten, so wenig Pestizide wie möglich einzusetzen. Sein Vater musste den alten Traktor wegen des hohen Treibstoffverbrauchs stilllegen und einen neuen, weniger durstigen beschaffen. Es gab auch eine Prämie dafür.

 

Dann wurde alles anderes. Nach einem halben Jahr wirrer Kämpfe kehrte Ruhe ein. Zunächst waren alle froh, dass das Morden ein Ende hatte.

 

Die Einschränkungen wurden aufgehoben. Man konnte nach Belieben mit Pestiziden umgehen, der Treibstoffverbrauch war nur durch die eigenen finanziellen Ressourcen eingeschränkt. Man sprach nicht mehr von Energiewende. Man baute neue Atommeiler. Der CO2-Ausstoß war kein Thema mehr.

 

Alles schien größer und freier zu werden.

 

Eine Reihe fast regenloser Sommer ließ die Produktion einbrechen und die Lebensmittelpreise ins Unendliche steigen. Die Regierung startete umfangreiche Programme zur Bewässerung der Felder. Flüsse und Seen wurden angezapft, man bohrte überall Brunnen und alles wurde wieder gut.

 

Damals verschwanden die ersten Familien aus dem Dorf. Zuerst die Villingers, die in Bioqualität anbauten. Vor ihrem Verschwinden meinte der alte Sepp Villinger in der Kneipe, dass man doch etwas gegen den Klimawandel hätte unternehmen müssen. Er war auch der Meinung, dass das Wasser aus Flüssen, Seen und Brunnen nicht ewig reichen würde. Man lachte ihn aus und er kam nicht mehr.

 

Soldaten rissen kurz darauf das alte Bauernhaus der Villingers ein. Bald berichtete die Zeitung, dass die Regierung Ackerland im Dorf zu verkaufen hatte. Keiner war interessiert. Bald verschwanden auch die Herbergers und die Trottas.

 

Als der Lech austrocknete und aus dem Ammersee nur eine größere Pfütze übrig blieb, wurde den Bauern verboten, pleite zu gehen. Viele müssten auf dem eigenen Leibe erfahren, dass das nicht als Ansporn gemeint war. Das Beantragen von Hilfeleistungen wurde als Pleite gewertet und hatte entsprechende Konsequenzen.

 

Selbst wenn das Hilfsprogramm keine Falle für Leichtgläubige gewesen wäre und die Regierung die versprochenen Zahlungen geleistet hätte, wäre das alles vergeblich. Die Bauern brauchten Regen.

 

Wenn es hin und wieder donnerte und sich dunkle Wolken zusammenzogen, erreichte das Regenwasser nie die Felder. Es verdunstete unterwegs. Das ging so, bis der Wind die Wolken wegblies oder die erbarmungslose Sonne dem Schauspiel ein Ende setzte. Dieses Phänomen bezeichneten offizielle Stellen als ›gebietsweise Aufhellungen‹. Der Wetterbericht klang seit Jahren so, als wäre das ganze Land ein riesiger Urlaubsort. Keine Wolken, Sonne satt und wunderschönes Wetter.

 

Gerd fand die ausgetrocknete Felder und die eingegangenen Pflanzen nicht schön. Viele dachten so, aber der öffentliche Gebrauch von Wörtern wie ›Dürre‹ oder ›Trockenheit‹ war nicht empfehlenswert. Auf dem Papier bestand zwar das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber den Soldaten war das gleichgültig. Keiner kam mit Papieren gegen Schlagstöcke und Feuerwaffen an.

 

*

 

Er hörte, wie jemand durch das Tor kam und in den Keller ging. Gerd konnte bisher elf Ankömmlinge zählen. Einer fehlte noch.

 

Bald hörte er das Tor erneut und die Kellertür ging auf und zu. Nach einer kurzen Pause kam das Klopfzeichen. Er holte eine große Schachtel aus einem wurmstichigen, alten Schrank und ging selbst in den Keller.

 

Da saßen, um einen Tisch, die zwölf Bauern, die demnächst mit den Soldaten Bekanntschaft machen sollten. Sie alle waren insolvent.

 

Gerd setzte wortlos die Schachtel auf den Tisch. Ein kurzes, metallisches Klirren war zu hören. Die Stimmung im Raum erhellte sich merklich.

»Hier habt ihr’s«, sagte Gerd. »Ich werde heute den Antrag abschicken. In der Nacht treffen wir uns hier wieder. Bringt eure Büchsen mit, so alt sie auch sein mögen.« Er griff in die Schachtel und zog eine Schrotpatrone heraus. »Hergestellte vor der sogenannten Revolution, erstklassige Qualität.«

»Wie viele hast du?«, fragte Hajo.

»Tausend Stück.«

»Wird das ausreichen?«

»Nein«, antwortete Gerd, ohne zu zögern, »aber ich bevorzuge, mich nicht ohne Weiteres verschleppen zu lassen. Wer nicht mitmachen will, weiß, was zu tun ist. Einfach den Antrag in den Briefkasten werfen und dann braucht ihr euch keine Gedanken mehr zu machen.«

Alle nickten.

»Jetzt geht nach Hause und besäuft euch nicht zu sehr.«

 

*

 

Gerd der Große, auch der Mutige genannt, war der Erste einer langen Reihe von Rebellen, deren Ausdauer und Zielstrebigkeit letztendlich zum Sturz des Nationalen Wirtschaftsrates, wie die Regierung der klimaskeptischen Diktatur sich nannte, geführt hatte.

 

Obwohl er als erster organisierten Widerstand leistete, war sein Beitrag, militärisch gesehen, unerheblich. Er brachte jedoch den Stein ins Rollen und zeigte, dass keiner machtlos und zum Nichtstun verdammt war.

 

Geeint wurden die Rebellen erst wesentlich später, als …

 

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