Von Agnes Decker
Das Geräusch der hochfahrenden Motoren drängt die aufgeregten Stimmen in den Hintergrund. Ein Ruck geht durch die mächtige Maschine. Dann setzt sie sich in Bewegung, schneller, immer schneller, bis sie endlich abhebt. Heute fliege ich zum ersten Mal. Ich bin 20 Jahre alt und es ist der 16. August 2021.
Ich schaue direkt in Papas Gesicht. Er hat die rechte Hand gehoben und drückt Daumen und Mittelfinger in die Winkel seiner geschlossenen Augen. Die Geste ist mir so vertraut, dass sie mich mehr schmerzt, als alles andere. Neben ihm sitzt Mutter, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und wiegt sich vor und zurück. Dabei stößt sie schrille, spitze Laute aus, wie ein verletztes kleines Tier. Ich versuche, ihre Hand in meine zu nehmen, aber sie zieht sie weg. Ihr Blick geht in die Ferne und durch mich hindurch, als wäre ich transparent.
Jetzt sind die Motorengeräusche leiser geworden. Die Soldaten haben das Licht gedämpft. Die Konturen der eng an eng sitzenden und liegenden Gestalten vermischen sich zu einer wabernden Masse. Ihre Gespräche sind zu einem Flüstern geworden, dazwischen erklingen lautes Weinen, das Schreien kleiner Kinder und das Schnarchen der Glücklichen, die vor Erschöpfung eingeschlafen sind. Wie gerne würde auch ich schlafen, so wie meine kleinen Brüder, die in halb liegender, halb sitzender Position in einen unruhigen Schlummer gefallen sind. Mutter hat eine Hand ausgestreckt und streicht ihnen über die Wangen.
Mir ist übel. Ich würde gerne etwas trinken, aber wir haben nur noch einen kleinen Rest Wasser. Der Geruch nach Urin, Erbrochenem und scharfem Schweiß liegt über allem wie ein stinkender Hund. Als ich an meinen Achseln schnüffele, stelle ich fest, dass ich auch so rieche. Scharf und stinkend, nach Angst und Verzweiflung. Ich bin müde. Meine Augen fallen zu und ich hoffe, dass sie mich in die gnädige Dunkelheit entlassen. Doch jedes Mal, wenn der Verstand hinweg driften will, ist es, als würde jemand in mir das Licht anknipsen. Dann bin ich hellwach, erlebe diesen Tag wieder und wieder.
„Traut ihnen nicht. Sie sind gewalttätig, Mörder, Vergewaltiger, Folterer. Auch, wenn sie jetzt sagen, dass wir Frauen weiter berufstätig sein dürfen, glaubt ihnen nicht. Gestern haben sie in einigen Banken die dort tätigen Frauen nach Hause geschickt und ihnen gesagt, sie sollen nicht wiederkommen.“
Im Seminarraum ist es still. Meine Studienkolleginnen schauen, ebenso gebannt wie ich, nach vorne zum Rednerpult. Dort steht unsere Professorin. Von allen verehrt und geliebt. Eine moderne, starke Frau. Stets perfekt gekleidet und geschminkt. Heute nicht, heute wirkt sie müde. Tiefe Falten haben sich links und rechts ihrer Nase und auf der Stirn eingegraben und geben ihrem Gesicht eine nie zuvor gesehene Härte. Schnell spricht sie, redet auf uns ein, so als würde sie nicht Zeit genug haben, um alles noch sagen zu können, was ihr wichtig ist.
„Geht nach Hause. Und seid vorsichtig. Versteckt eure lackierten Fingernägel, wischt euch die Schminke ab und lasst eure Jeans und Sneaker nicht hervorschauen“, sagt sie gerade. „Ich verabschiede mich jetzt von euch. Wir sehen uns heute das letzte Mal. Ich muss weg hier, mit meiner Familie, weit fort.“
Dann geht sie von einer zur anderen und gibt die letzten Hausarbeiten zurück. Als sie vor mir steht, kann ich nur mit Mühe meine Tränen zurückhalten.
„Nicht weinen, Maryam“, sie reicht mir die Mappe mit dem Referat über Hightech-Armprothesen, die alleine durch Gedanken gesteuert werden, und das ich eigentlich morgen halten sollte. „Du bist klug, ein heller Kopf, eine moderne, starke junge Frau.“ Dann legt sie mir die Hand auf die Schulter und drückt sie leicht.
Schweigend, ohne mich von den anderen zu verabschieden, verlasse ich das Universitätsgebäude. Neben mir geht Samira, meine beste Freundin. Als wir die Straße erreichen, fährt eine Kolonne LKWs an uns vorbei. Auf den Ladeflächen stehen dicht an dicht schwerbewaffnete Männer. Verwegen sehen sie aus, mit langen Locken und Bärten, schwarze oder schwarz-weiße Tücher um die Köpfe geschlungen. Die Maschinengewehre in die Luft gestreckt, feiern sie ihren Sieg. Ich sehe nur ihre Augen und das Böse darin.
Samira winkt den Männern zu, klatscht in die Hände. Am Arm ziehe ich sie in den nächsten Hauseingang, verdecke sie mit meinem Körper. Ich senke den Kopf, wackele mit ihm hin und her, wie es die alten Frauen tun.
„Hast du ihre Muskeln gesehen?“ Samiras Augen funkeln. Sie drückt sich an mich, flüstert mir ins Ohr und kichert.
„Wie kannst du sowas sagen. Du bist verrückt. Sie werden uns alle umbringen“, antworte ich ihr.
Samira schubst mich in die Seite. „Nun gib es doch zu, dir gefallen sie auch.“
„Sei ruhig. Lass uns schnell nach Hause gehen.“ Glücklicherweise ist der Tross an uns vorbeigezogen, ohne uns wahrzunehmen.
Vorsichtig treten wir wieder auf die Straße. Alles ist fast so wie immer. Die Läden sind geöffnet, die Straßenhändler verkaufen ihre Waren, Kinder betteln, Frauen tragen Taschen, gefüllt mit Gemüse und Brot, nach Hause zu ihren Familien, Männer stehen in Gruppen zusammen, trinken Tee und reden. Was anders ist, ist die Spannung, die über der Stadt liegt, die man nicht sehen, nur fühlen kann.
Mit einer Umarmung verabschiede ich mich von Samira, warte noch, bis sie im Eingang des Nebenhauses verschwunden ist. Als ich die Haustür öffnen will, schwingt sie wie von selbst nach innen. Tante Ava, die jüngste Schwester meines Vaters, nimmt mich in Empfang. „Da bist du ja endlich, Maryam. Ihr müsst weg von hier. Pack dir ein paar Kleidungsstücke ein. Nur das Notwendigste.“
Im Wohnzimmer ist die ganze Familie versammelt, meine Eltern und die Zwillinge, Oma und Opa, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen. Mir ist schwindlig. Ich wanke in mein Zimmer und stopfe wahllos Kleidung in meine Sporttasche. Dann gehe ich zurück zu den anderen.
Mutter klammert sich an Oma und weint in hohen, schrillen Tönen. Opa zieht sie weg. Jetzt klammert sie sich an ihm fest. Ihr Weinen wird immer lauter. „Geh, meine Tochter. Wir sind zu alt für ein solches Abenteuer. Wir bleiben hier und warten. Hab keine Angst. Sie werden uns nicht weh tun. Wenn sie kommen, schlafen wir schon. Geh jetzt.“ Er löst Mutters Arme, schiebt sie von sich weg und schlägt ihr ins Gesicht. Ihr Kopf fällt zur Seite, sie greift sich an die Wange, dann hört das Weinen endlich auf. Die beiden schauen sich an. „Ja, Vater“, sagt Mutter, nimmt die Zwillinge an die Hand und verlässt mit ihnen das Zimmer.
Den Rest erlebe ich wie in Trance. Die Autofahrt durch die Häuserschluchten, die Ankunft in dem Haus am Stadtrand, das Warten darauf, dass es endlich dunkel wird. Dann kommt ein Mann und flüstert mit Tante Ava. Sie nickt und zeigt auf uns. Der Mann schiebt einen schweren Schrank zur Seite und öffnet die dahinterliegende Tür. Er winkt uns, ihm zu folgen. Zögernd treten wir durch die Tür, einer nach dem anderen. Nur Tante Ava bleibt zurück. „Ich komme nach. Morgen, spätestens übermorgen.“ Das sind ihre letzten Worte.
Wir gehen eine steile Treppe hinunter, die vor einem dunklen Gang endet. Ich muss die ganze Zeit an Tante Ava denken, die als Journalistin bei Tolo TV arbeitet und, wie Papa, der als Übersetzer für die Deutschen tätig war, sicher ganz oben auf der Liste der Todgeweihten steht. Während dessen gehen wir immer weiter in die Dunkelheit, vor uns das zuckende Licht der Taschenlampe unseres Führers. Der Gang wird enger und niedriger. Es riecht modrig, nach abgestandenem Wasser, und ich stolpere ständig. Meine Schultern und mein Nacken schmerzen. Die Zwillinge weinen und jammern. Mein Vater beginnt, ein altes Kinderlied zu summen. Hohl verklingt es zwischen den felsigen Wänden.
Endlich bleibt der Mann stehen und öffnet eine Tür. „Lauft“, zischt er uns zu. Ein kalter Luftstrom umfängt uns, als wir hinaus in die Nacht treten. Wir hören noch, wie die schwere Tür hinter uns zufällt. Dann laufen wir los, durch dorniges Gebüsch, das sich an unsere Kleidung heftet, zwischen Unrat und eingestürzten Mauern bis zur Straße, auf der im fahlen Licht einer Laterne ein dunkler Wagen zu sehen ist. Die Türen sind geöffnet. Der Motor läuft.
„Beeilt euch, los, los“, ruft uns ein Mann zu, der hinter dem Steuer sitzt. Schnell steigen wir ein. Vorne der Vater, hinten die Mutter, die Zwillinge und ich. Durch die geschwärzten Scheiben sehe ich die verlassenen Straßen vorbeiziehen. Ab und zu hält uns eine Straßensperre an, spricht mit dem Fahrer, der ein Dokument vorzeigt, und lässt uns passieren. Danke, Tante Ava, denke ich und mir wird schwer ums Herz.
Schon bevor wir den Flughafen erreichen, sehen wir sie. Wie ein Film läuft alles vor meinen Augen ab: die durcheinander laufenden und schreienden Menschen, die vielen Soldaten, die in die Luft schießen und die Flüchtenden auseinandertreiben, damit sie nicht über die Mauer klettern oder sich durch das Tor drängen, das jetzt für uns geöffnet wird und hinter uns wieder schließt.
Auch im Flughafengelände herrscht das Chaos. Unerbittlich bahnt sich unser Fahrer den Weg durch die Menschenmasse bis zu einer riesigen Transportmaschine der amerikanischen Luftwaffe. Dort werden wir von Soldaten aus dem Auto gezerrt, die Gangway hinauf und ins Flugzeug geschoben.
Ich bin die Letzte. Hinter mir schließt sich die Tür. Als ich mich umdrehe, sehe ich die schmale Hand, die gegen das Fenster schlägt, wieder und wieder. Dann hält sie inne, rutscht langsam an der Scheibe herunter. Ich strecke meine Hand aus, lege sie ans Fenster, spüre das kalte Glas und sehe, wie die andere aus meinem Blickfeld verschwindet.
„Wir kommen zurück, wenn alles vorbei ist“, Vaters Stimme dringt aus weiter Ferne zu mir, tief und ruhig, wie immer, wenn er mit uns Kindern spricht.
„Ja, Papa“, sage ich „wenn alles vorbei ist, gehen wir wieder nach Hause.“
Nachsatz: Die Personen und die Handlung sind fiktiv, die Ereignisse leider real. Am 16.August 2021 um 6.50 Uhr wurde Kabul von den Taliban besetzt. Das US-Militär hat am späten Nachmittag 640 Flüchtende ausgeflogen.
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