Von Kornelia Wulf
1983
„Himbeerbrause“, nuschelt Franz. Den Bürstenstiel auf meinen Mund gerichtet spuckt er aus, und ein fetter Zahnpastaplacken in einen Schaumfaden verwandelt, zieht gluckernd seine Spur. Auf dem Weg ins Abflussrohr. „Zuerst – einen Schluck! Und dann Spülen – rechts, links – dabei ziehen, – oben, unten-, durch alle Zahnritzen. Und zum Schluss noch einmal kräftig gurgeln …“.
***
Gefangen im Brausen des Orgelklangs schrecke ich auf. Mit einem Knacken im Nacken schießt mein Blick zur Apsis hinauf. Dort hängt Er in den Höhen des Kirchengewölbes. Zwei Stahlschnüre in die Decke gedübelt tragen sein Kreuz. Die Arme weit ausgebreitet, gestreckt bis zum Anschlag. Vielleicht auch darüber hinaus, weil das Dehnen der Sehnen falsch austariert, bereit für die Meute. Für jene, die Haut als Fläche schätzen – selbstverständlich nur die unbefleckte – frei zu Benutzung, ganz nach Belieben. Fast wünschte ich mir, sie bräche durch die bunte Scheibe. Flüstere in Sein Ohr, die weiße Taube. Und lästige Splitter von der Zunge spuckend ergieße sich in Ihm ihr Zauber. Und Er beginne zu schwingen an den stählernen Schnüren – völlig frei rollen Muskeln, spielen geschmeidig – kraftvoll, wie ein Athlet. Mein Blick folgt Seinem Weg zum Kreuz. 14 Stationen, auf Blattgold gemalt, reihen sich unter der Empore. Und die Füße des kleinen Orgelmanns feuern die Pedale noch einmal kräftig an. Eins ist klar, denke ich – den Impuls unterdrückend auffällig zu schnaufen – auch heute muss Er den Weg wieder allein beschreiten, als ich auf den violetten Rand der Soutane starre, die er, der Geweihte, zum Altar hochschleppt. Er, Pfarrer Nillies, der Held des Tages. Der Pfad nach Golgata stieg steiler an – und meine Kontrolle knackt auf wie eine frivole Handfessel – ganz umsonst hat er sich schlachten lassen – ich höre mein Flüstern, laut und keuchend – wie ein blödes, vom Altruismus sediertes Lamm.
„Sch, sch“, versucht Franz mein Hirn zu schaukeln, „streite dich nicht mit dir.“, und seine Hand – seltsam zart für einen Mann – streichelt meinen Rücken warm. Und der Atem verflacht. Nur aus der Ferne noch höre ich es blöken. Das arme, arme, unschuldige Lamm.
***
1983
… Alles still um mich herum. Nur ein feines Knistern in meinem Trainingsanzug. Der Brausepapierbeutel, den Franz mir soeben in die Tasche stopfte, reibt sich am Nylon. Selbst Paul hat gerade den Waschsaal verlassen. „Paul mit dem Walstrahl“, tuscheln hier alle. Kaum hat der dem Klosett den Hintern zugewandt, muss er schon wieder pinkeln. Dann klemmt er die Schenkel zusammen, die Faust fest auf den Schniepel gepresst, als sei mal wieder was danebengegangen. Die Stille klebt an mir, schwerflüssig, zäh, lässt meine Füße am Steinboden haften.
Obwohl der Franz mich doch durchgerüttelt hatte.
Gestern, in der Nacht. Nachdem er durch die geöffnete Plane schlüpfend zum Schlafplatz zurückkam. Ein letzter Hauch Würstchenrauch stahl sich durch die Löcher der Holzknebelknöpfe, die den Eingang unserer Bleibe mit Stoff verschließen, als er raunte
„Augen auf! Werde endlich wach.“
Voll warf der Mond seinen Schein. An den Heringen vorbei in die Kothe* hinein.
„Halte dich hier nirgendwo alleine auf. Hörst Du? Niemals“, und wie eine Stoffpuppe, ohne Glieder geboren, schlenkerte ich in seinem Griff, „nicht im Waschsaal und auch nicht im Zelt.“
Das Mondlicht rahmte sein Gesicht. Spuckebleich sah es aus, und ich glaubte, ein verstohlenes Würgen zu hören. Vielleicht eins der Würstchen – vielleicht verdorben – das sich querstellte in seinem Schlund. Und als er sich in den Schlafsack eingrub, zitterte der Stoff über seinem Kopf. Ey, dachte ich – und ein achtkantiger Drops blockierte meine Kehle – flenn bloß nicht.
Durch meine Adern fließt dicker Brei. Jetzt wünsche ich mir einen Zauber herbei. Irgend so einen Kinderkram – einen fliegenden Teppich, vielleicht – auf dem sitzt man weich – oder, – heiliger Strohsack, das denke ich nicht wirklich – eine Prise Feenstaub. Die trägt mich dann zurück nach Haus.
Dabei habe ich mich auf diese Freizeit doch so gefreut. Oder auf das klerikale Unternehmen Fähnlein Fieselschweif.* So ulkte mein Nachbar, der Herr Marx, als wir uns beim Büdchen trafen. Was für ein Klugscheißer. Oder ein Heide mit verfaulter Seele. Das sagt meine Oma – und die muss es wissen – als Oberfanin von unserem Vikar Nillies.
„Was für ein Mann“, ihre Wangen glühten ein wenig, wenn sie von ihm sprach und der private Schnappschuss von seinem Abbild schien Fältchen aus ihrer Stirnhaut zu bügeln. Von ganz unten herauf atmete sie auf. Letzten Sommer, als er in unsere Gemeinde kam. Denn an Herz Jesu während des stillen Gebetes will sie Pfarrer Kunzes Geschnarche gehört haben. Und Sein verbackener Leib, noch nicht ganz in sie eingedrungen, sei beinahe wieder aus ihr herausgesprungen. Na ja, an jedem dritten Sonntag darf der Pfarrer nun ausschlafen. Auch Mama tupft sich ein Tröpfchen hinter das Ohr. An jedem Morgen vor dem Kirchgang. Von dem duftenden Wasser aus der kristallenen Flasche. Die sie fest mit dem Stopfen verschließt, damit das Odeur nicht verfliegt.
Selbst Vaters Blick – so hart – der stets wie Argus starrt, konnte ihn nicht erkennen. Diesen Fleck. Von weißen Schichten bedeckt. Der in seinem dunklen Versteck verharrt auf der sakralen Weste.
Die Gedanken in einen Tresor gesperrt – für den nur ich die Geheimzahl kenne – gleitet mein Blick über den Waschtisch bis zu dem rostigen Ausguss hinab. Wo – zum Kuckuck – ist das Ding nur geblieben? Hoffentlich haben sie es nicht weggenommen. Noch immer quiekt in meinem Kopf Pauls Geheule. Gebückt über der Kloschüssel erstarrte er zur Salzsäule, als er sie endlich wiederfand. Seine Zahnspange, die im Wasser schwamm. Na, die sollen sich trauen. Dann gibt’s einen auf die Fresse, noch vor der Morgenmesse, bis ihre Schädel wie Kreisel brummen, ersoffen in Bier und Wodka.
Halt. Stopp! Hinter dem Becher hat sie sich versteckt.
Und meine Zahnspange fest zwischen die Kuppen geklemmt, drehe ich mich um …
***
Die letzten Stufen schreitet er hinauf. Ich will ihm nachlaufen. In sein Gesicht schauen. Von Mann zu Mann. Nicht wie ein Kind, das stets nach oben starrt. Ihm die Soutane von den Armen reißen. Allen den Fleck in der sakralen Weste zeigen. Bereits eingewachsen. Doch der Franz, der hält mich auf. „Sch, sch“, versucht er mein Hirn zu schaukeln. Ein feiner Hauch streicht über mein Haupt. Und ich sehe Ihn schwingen, an den stählernen Schnüren, höre Ihn singen – ach, so leise – die La Palomaweise. Den Zenit erreicht am Hochaltar, breitet er die Hände aus. So weiß leuchtet sie, Pfarrer Nillies Haut, in Unschuld gewaschen. Und ich sehne mich nach einem Lupenglas. Will in den Linien lesen. Vielleicht steht es ihm ja ins Gesicht geschrieben. Aber zöge ich es aus der Tasche heraus, schicken die mich ins Irrenhaus. Zum geistlichen Rat wird er heute ernannt – und noch einmal strengt der Orgelmann sich fürchterlich an – ehrenhalber. Ehre, will ich schreien, doch mir stößt etwas auf (warum nur schmecke ich jetzt Salzlake auf meiner Zunge?), und die Gedanken rappeln sich auf. Fordern lautstark Vergeltung ein …
***
1983
… „Nicht jetzt“, raunt er, als ich die Spange einsetzen will,
baut sich vor mir auf. Den gesamten Türrahmen füllt er aus. Seine rechte Hand wirkt wie ein Magnet. Die hat mir gezeigt, wie man Pfeilspitzen schnitzt. Doch als die linke aus dem Schatten schnellt, spüre ich Lähmung träg in mir hochkriechen. Für die Flucht ist es nun zu spät. Heiß rinnender Schweiß tropft auf meine Zunge, die über trockene Lippen leckt, Omas Hering schmeckt, den sie in Salz einlegt. Verwandelt in eine brettharte Pratze – gestreckt die Finger, flach der Teller – schiebt sie sich auf meinen Hinterkopf.
Zentimeter für Zentimeter die Grenze überschreitend, holt er ihn nah heran.
(… „Spülen“, – Franz´ Stimme so hohl – in meinem Hirn – „sonst wird dir übel“, …)
Und während die Wange im Breitcord versinkt, öffnet er für mich den heiligen Stall.
Ochs´ und Esel – lange fort.
Nur eine Schlange wohnt jetzt dort. Richtet sich auf. Im schwarzen Stroh.
***
… Meine Finger fühlen die Kühle. Krabbeln über den glatten Lauf, der in der Hosentasche schon auf Einsatz wartet. Umfassen entschlossen den geriffelten Schaft, als ich noch einmal die Wärme spüre. Franz. So weich seine Hand, die über meinen Rücken gleitet.
„Vorbei, vorbei“, raunt er, „lass es bleiben.“
Alles still um mich herum. Selbst Franz hat gerade Sein Haus verlassen. Ganz allein sitze ich auf der Kirchenbank und mit einem Knacken den Kopf in den Nacken gelegt, winke ich Ihm zu.
Danke – stumm hallt mein Ruf durch das Kirchengewölbe -, dass ich Franz wiederfinden durfte. Nach so vielen Jahren. Als wir uns ansahen, durchbrachen die Augen die unsichtbare Linie. Denn manche Grenzen muss man überschreiten. Wir trafen uns im Bürgerhaus. Raum 218 stand im Selbsthilfe Fleyer. Von irgendwoher strömte Himbeerduft, als er mich mit der flachen Hand auf den freien Platz neben ihm lotste. Völlig entspannt saß er da, den Blick auf die faltigen Mienen gerichtet. Franz, das ewige Alphatier, leitet die Gruppe an jedem Dienstag hier. In der jeder weiß, worüber man spricht, auch wenn der Mund versiegelt bleibt. Doch wenn die Worte nur müde plätschern, dann springt Franz auf.
„Wie wollen wir das Schweigen der Popen brechen, wenn wir nicht selbst darüber sprechen? Man erstickt, falls man glaubt alles schlucken zu müssen!“, warnt er.
Sie schimmert grasgrün. Wiegt so leicht. Die Wasserpistole. Erst heute gekauft. Und mein Finger streicht über den Plastiklauf, über Wattebauschentchen, die schwimmen und schnattern, bevor er sich krümmend am Abzug zieht.
Rosafarben schillern die Blasen. Voll kitschig sieht das aus. Als könne man Wunden, die in tiefen Schichten schwären, mit Sirup heilen. Zur Apsis schweben sie hinauf. Bis sie zerplatzen, auf Seiner Haut.
Sich auflösen. In Himbeerbrauseschaum.
V3
* Kothe (die) ist ein Zelttyp. Sie gehört zu den Schwarzzelten der deutschen Jugendbewegung (z.B. der Pfadfinder)
* Unternehmen Fähnlein Fieselschweif war eine 18 – teilige Comicreihe der Walt Disney Company