Von Regina W. Egger

Marlene Prisnitz war stets eine überaus konziliante Person gewesen. Ja, man könnte sogar so weit gehen, sie nicht nur als umgänglich zu bezeichnen, sondern als geradezu uneigennützig. Und dieses Zurückstellen der eigenen Interessen betraf sowohl den privaten als auch den beruflichen Bereich.

Als Marlenes Ehe sich vor einigen Jahren dem Ende zuneigte und ihr Mann – nach zahllosen heimlichen Affären – sich sogar offen mit seiner Geliebten zeigte, warf Marlene ihn nicht etwa aus dem gemeinsam erworbenen Reihenhaus, nein, sie zog selbst aus und suchte sich eine kleine Wohnung. Im nachfolgenden Scheidungsverfahren erwies sich das als nachteilig für sie, denn der Anwalt des Mannes legte es als böswilliges Verlassen aus und brachte sie damit um Unterhaltszahlungen, die sie sonst hätte geltend machen können.

Marlene nahm nach der Scheidung wieder den Job als Buchhalterin in ihrer alten Firma auf. Und obwohl sie fast fünfzig war, begnügte sie sich mit dem Gehalt einer Berufsanfängerin, denn sie war froh, überhaupt eine Anstellung gefunden zu haben.

Marlenes Freundin Britta allerdings machte ihr unmissverständlich klar: „Du bist ein Trottel, wenn du dich so ausnutzen lässt. Du musst dich auf die Hinterbeine stellen, dich wehren. Du darfst dir nicht alles gefallen lassen.“ Und sie schleppte die Freundin zu Selbstbewusstseinstrainings und Coachings für mehr Power im Alltag. Aber die dort vermittelten Tipps perlten an Marlene ab, wie die Wassertropfen am Gefieder der Wildenten im Schlosspark.

Dann aber änderte sich Marlenes Leben schlagartig, denn im Jahr 2020 brach auf der ganzen Welt die Coronapandemie aus und verwandelte Marlenes Alltag von Grund auf. Das Aufatmen nach dem ersten Lockdown währte nur kurz, denn bald darauf folgten die nächsten kontaktbeschränkenden Maßnahmen, beinah wöchentlich änderten sich die Regeln fürs Maskentragen, Testen und Impfen. Restaurants, Theater und Kinos sperrten auf und dann wieder zu, Urlaube mussten storniert werden und man hing in irgendwelchen Warteschleifen am Telefon, um die Kosten refundiert zu kriegen oder wenigstens einen Gutschein zu ergattern. Marlenes Stimmung begann sich zu verschlechtern. Sie wurde das, was sie früher nicht gewesen war: gereizt.

Als dann auch noch ihr geliebter Schlosspark, den sie jeden Tag zur körperlichen Ertüchtigung nutzte, wochenlang für Besucher gesperrt war, reichte es Marlene endgültig. Sie begann sich querzulegen. Zuerst schrieb sie Leserbriefe, um ihren Unmut kundzutun, dann folgten E-Mails an den Bürgermeister, den Bundeskanzler und sogar den Bundespräsidenten. Aber bald erkannte sie, dass sie damit deshalb wenig Erfolg hatte, weil sie einerseits die falschen Adressaten wählte und andererseits ihren Grant zu wenig fokussiert vorbrachte. Ihr Rundumschlag war vielmehr ein Ventil gewesen, änderte aber längerfristig nichts an ihrer schlechten Stimmung.

 Deshalb konzentrierte sich Marlene fortan auf die ausgeprägte Beschwerdelandschaft Österreichs, die eigens dafür geschaffen schien, Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlten, einen Ansprechpartner zu liefern. Und es gab in dieser Zeit wahrlich unzählige Anlässe, sich diskriminiert zu fühlen. Da waren einmal die elendslangen Schlangen an den Teststraßen, die nicht nur Zeit kosteten, sondern auch ein Ansteckungsrisiko darstellten. Dann das leidige Thema Reisen und schließlich die Möbelhäuser. Marlene hatte gleich im ersten Lockdown beschlossen, sich neu einzurichten und eine gefühlte Ewigkeit auf den letzten noch fehlenden Küchenschrank gewartet. Lieferverzögerungen aufgrund der Pandemie hieß es, aber für Marlene war es eine bloße Ausrede. Sie kontaktierte also stundenlang die Beschwerdehotlines und schrieb Briefe mit ausführlichen Sachverhaltsdarstellungen an Volksanwälte. Immer öfter bemühte sie auch den Konsumentenschutz. Ja, letzterer wurde zu ihrem Sparringspartner. Ihre Eingaben häuften sich und bald schon war sie als eine bekannt, die es liebte, sich an den Juristen und Beratern zu reiben, um des Prinzips willen.

Egal, Marlene konnte beim „Motschgern“ Dampf ablassen, und es ging ihr gut damit.

Und schließlich hatte sie sich durch ihre Hartnäckigkeit schon so manches Zuckerl erstritten, das sie später auskosten konnte – so wie beispielsweise an einem strahlenden Frühsommertag im Jahr 2021.

Die Stornierung einer Reise im ersten Lockdown hatten ihr und Freundin Britta einen Gutschein für einen Aufenthalt samt Bustransfer an einem Kärntner See eingebracht. Diesen genoss sie im Moment. Obwohl, von Genießen konnte keine Rede sein, denn Marlene vermerkte soeben in ihrem Notizbüchlein, auf das sie vorne „Reisemängel“ geschrieben hatte, dass der Busfahrer die Kurven viel zu schnell genommen habe, der Kellner mit dem Nachschenken des Hausweins viel zu langsam gewesen sei und jetzt hatte sie auch noch entdeckt, dass die Rutsche auf dem Kinderspielplatz verschmutzt war. Nicht dass Marlene Kinder gehabt hätte, aber gesetzt den Fall, sie hätte welche oder auch Enkelkinder, und die würden vor dem Abendessen noch eine Rutschpartie machen wollen. Die bedauernswerten Eltern müssten sie in diesem Fall noch einmal umziehen.

Die sonst durchaus beschwerdefreudige Britta lauschte stumm den Schimpftiraden der Freundin, und irgendwo im Hinterkopf formte sich eine Gedichtzeile und materialisierte sich zur Mahnung: „Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los“.
Und so ließ sie sich zur Bemerkung hinreißen, die Freundin „sehe mittlerweile sogar Raupen im Sauerkraut.“

Das fand Marlene gar nicht witzig. Mit säuerlicher Miene verabschiedete sie sich von der Freundin und verschwand auf ihrem Zimmer.

Dort widmete sie sich der Planung des nächsten Tages und hier insbesondere des Frühstücks, jener Mahlzeit, die sie auf ihren Urlauben immer ganz besonders genießt, da man am Büffet unendliche Auswahlmöglichkeiten hat und nach dem Schlafen auch ausreichend Appetit, um herzhaft zugreifen zu können. Es gibt nun verschiedene Arten, der überbordenden Mannigfaltigkeit eines Büffets zu begegnen. Die einen probieren wahllos von allem und jedem und laborieren dann tagsüber an einer Magenverstimmung. Nicht so Marlene! Sie erstellt schon am Vorabend eine „Best-of-Liste“ und studiert dazu in der Regel genau das Sortiment.
So auch an diesem Abend, nachdem sie leicht vergrätzt mit dem Hotelprospekt auf ihrem Bett lag. Die Matratze war viel zu weich, was zu einem Vermerk in ihrem Notizheft führte. Die dargebotene Palette aber stimmte sie versöhnlich: Da wurde Gusto auf Tee/Kaffee/diverse Fruchtsäfte sowie hausgemachte Marmeladen/Honig aus der eigenen Imkerei gemacht. Weiters konnte man zwischen Brot/Jourgebäck/Blätterteigteilchen wählen und schließlich wurde auch noch eine Auslese an unterschiedlichsten Eierspeisen angeboten: weiches Ei/ Spiegelei/Bacon and Eggs/Eierspeise.

Marlene verengte die Augen zu Schlitzen und ließ ihren Finger kreisen. In ihrem Kopf entstand die Vorstellung von vier Streifen kross gebratenem Speck und zwei großen Spiegeleiern, die sich an den Rändern knusprig braun einkringeln, das Eiklar vollkommen gestockt, aber das Eigelb warm und flüssig, sodass sie es – nachdem sie es mit frischgemahlenem Pfeffer bestreut hatte – mit einem winzigen Joursemmerl würde auftunken können. Mit dieser Ahnung und dem zu erwartenden Geschmack auf der Zunge schlief Marlene schließlich ein.

Aber schon am nächsten Morgen ereignet sich das, was sie später als die absolute Katastrophe bezeichnen wird.

Nachdem Marlene, um ihre Vorfreude auf Bacon and Eggs noch ein wenig zu steigern, zuerst den Gruß des Tages überflogen und sich noch einmal bezüglich der Auswahl versichert hat, begibt sie sich zum Büffet. Sie füllt ein Körbchen mit zartem Jourgebäck und schnappt sich ein Kännchen Kaffee. Sie setzt alles auf ihrem Tisch ab und steuert erneut die Anrichte an, um die Eierspeise zu ordern.

Aber so sehr sie auch umherspäht, sie kann nirgends einen Koch entdecken, der ihr etwas zubereiten könnte. Alles was an Eierspeisen angeboten wird, sind weiche Eier, die aus einem Beet mit weißem Sand hervorlugen. Die rasch herbeizitierte Servicemitarbeiterin schüttelt den Kopf. „Der Kollege ist krank. Es gibt heute leider niemanden, der Eier braten kann, aber da sind gute weiche Eier aus Freilandhaltung.“

„Hören Sie“, erwidert Marlene und greift nach der Auswahlkarte. Mit dem Finger tippt sie auf den Schriftzug weiches Ei/ Spiegelei/Bacon and Eggs/Eierspeise. „Hier steht es doch! Wenn Sie nichts davon anbieten können, dürfen Sie es auch nicht hinschreiben!“

Die Servicemitarbeiterin zuckt die Schultern und besinnt sich dann. „Ich hole die Chefin.“

Die anderen Gäste haben sich nach Marlene umgewandt, einige schütteln den Kopf. Britta, die eben den Frühstücksraum betreten hat, macht auf dem Absatz kehrt. Diese Szene möchte sie sich keinesfalls anhören.

Mit der herbeigerufenen Chefin wird Marlene schließlich laut, denn diese begeht einen entscheidenden Fehler, indem sie behauptet: „Der Schrägstrich steht für eine Alternative, die wir anbieten. Also entweder weiches Ei oder Spiegelei oder…“

„Was ist denn das für eine Schnapsidee?“, fährt Marlene sie an. „Der Schrägstrich steht schließlich auch zwischen Kaffee, Tee und Fruchtsaft und da gibt es ja die volle Palette! Da haben Sie also entweder den Schrägstrich völlig falsch gesetzt oder … Nein, das bringt nichts, mit Ihnen zu diskutieren, wenn Sie nicht einmal die Grundbegriffe der Zeichensetzung beherrschen!“, empört sich Marlene und ruft umgehend den Konsumentenschutz an.

Der Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung hört sich alles an und teilt ihr dann in ruhigem Ton mit, dass es dem Hotel zustehe, die Auswahl für die Gäste selbst zu bestimmen. Marlene ist entrüstet angesichts dieser Ignoranz und beschließt Kontakt mit ihrer Rechtsschutzversicherung aufzunehmen.

Der Konsumentenschützer aber resümiert an seine Kollegin gewandt, die ihn fragend anblickt: „A Mords Bahö um an Schaas!“

 

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