von Monika Heil

 

Sie las das Thema der literarischen Monatsaufgabe und sofort überfiel sie die Erinnerung an eine lange zurückliegende Zeit.

 

1955

Eine langwierige Krankheit fesselte die damals Zehnjährige ans Bett, eingegipst von den Achselhöhlen bis zu den Fußspitzen des linken Beines. Am rechten endete der Gips schon oberhalb des Knies. Es war eine schwere Zeit für die ganze Familie. Morgens war Mini, wie sie als Jüngste in der Familie genannt wurde, meist allein im Haus. Viel beschäftigen konnte sie sich – da ans Bett gefesselt –  nicht. So wurde ihre halbtags berufstätige Mutter Stammgast in der Stadtbücherei. „Die Märchenbücher hast du jetzt alle ausgelesen“, verkündete sie eines Tages. Es folgten Jugendbücher wie Hanni und Nanni oder Robinson Crusoe. Damals manifestierte sich ihre lebenslange Vorliebe für Literatur.

 

Nach mehr als einem Jahr war es endlich so weit. Der Gips wurde im Krankenhaus entfernt. Mini musste erneut laufen lernen und intensive Krankengymnastik betreiben. Für den 20. Dezember wurde ihre endgültige Entlassung geplant.

Ein paar Tage zuvor erschien ihre Mutter mit einer großen Tasche, gefüllt mit diversen Kleidungsstücken. „Zur Probe“, wie sie erklärte, denn das Kind war ja im Wachstum und ihre vorhandenen Sachen passten nicht mehr. Ein dicker, buntgeringelter Pullover sowie eine abgewetzte Baumwollhose, aus denen ihre ältere Schwester herausgewachsen war, hingen schrecklich an ihr. Ein schmaler Gürtel hielt alles zusammen. Der rote Nylonrock mit farblich passender Bluse wirkte keinen Deut besser. Die anderen kleinen Patientinnen im ´Kinderzimmer` der Universitätsklinik schauten mitleidig bei der ´Modenschau` ihrer Mitbewohnerin zu. Keine war so lange bettlägerig gewesen, dass sie aus ihrer Kleidung herausgewachsen war.

Und es kamen auch noch ein paar neue Kleidungsstücke zum Vorschein, die ein örtliches Modegeschäft zur Ansicht herausgegeben hatte. Von da an strahlten die Mienen aller Kinder zunehmend bei den diversen Anproben, während die Mutter den Kopf schüttelte und: „unmöglich“, oder: „geht gar nicht“, murmelte, alles wieder einpackte und sich kurz darauf verabschiedete. Enttäuscht und den Tränen nahe, winkte Mini ihr nach.

 

Am 20. Dezember wurde sie, wie geplant, aus dem Krankenhaus entlassen und zu Hause mit großer Freude empfangen. Schnell war der Heilige Abend da. Traditionsgemäß blieb die Tür zum Wohnzimmer am späten Nachmittag verschlossen. Die beiden Schwestern saßen erwartungsvoll in ihrem Zimmer.

„Ob ich wohl den blauen Rock bekomme, den Mama mit im Krankenhaus hatte?“, fragte die Jüngere mit ängstlicher Miene. „Oder vielleicht sogar das blaue Kleid mit den weißen Rüschen?“

„Ja, geht´s noch?“, fuhr Inka, ihre große Schwester, sie barsch an. „Mama hat ein neues Kleid bekommen und ich auch. Wovon soll  denn Papa da noch eines für dich bezahlen?“ Entrüstet tippte sie sich an die Stirn. Mini war am Boden zerstört. Sie presste die Zähne in die Unterlippe und versuchte mit Gewalt, ihre Tränen zurückzuhalten.

„A-a-a-ber, ich“, schniefte sie, „habe doch nur …“ Die Glocke im Flur unterbrach die beiden. „Nun komm schon!“, forderte Inka ihre wie gelähmt dasitzende Schwester auf. Mini folgte der wütenden Großen mit zittrigen Beinen.

Die Flügeltür zum Wohnzimmer stand weit offen. Inka stürmte mit „Oh!“ und „Ah!“-Rufen hinein, ging ein paar Schritte nach rechts und verdeckte so teilweise den Blick auf den Nussbaumschrank mit diversen Türgriffen. Erwartungsfroh blickten die Eltern ihren Töchtern entgegen.

„Was machst du denn für ein Gesicht, Kleines?“, wunderte sich ihre Mutter. „Schau dich doch mal um.“ Inka feixte übermütig, ging auf den Weihnachtsbaum zu und gab endlich den Blick frei auf drei Kleiderbügel am Schrank.

„Das Kleid“, stotterte Mini überwältigt „und der Faltenrock! Oh, und ein Petticoat!“ Nun schrie sie laut, stürzte auf ihre Schwester zu und boxte sie wild, egal wohin sie traf. Inka aber lachte glücklich über die gelungene Überraschung, nahm die Kleine liebevoll in den Arm und meinte: „Hast du wirklich gedacht, dass wir solche Rabeneltern haben? War doch nur ein Spaß.“

„Unsere Töchter“, seufzte ihre Mutter. „Theatralisch wie immer. Aber ich liebe sie, alle beide.“

 

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Jetzt, fast siebzig Jahre später ging ihr jener „Sturm im Wasserglas“ noch immer nahe. Lächelnd rief sie das Forum auf und brachte ihre Erinnerung zu Papier.

 

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