Von Lauretta Hickman

„Machen Sie sich keinen Kopf. Das ist nur pro forma. Das Protokoll sieht das vor seit zwei Jahren.“

 

Der Bürgermeister von Cucui, unverkennbar Mestize, nickte bekräftigend zum Statement des Ministers. Allerdings war ihm eine gewisse Unruhe anzumerken.

 

Mit den Worten: „Davon gehe ich aus. Schließlich sind für dieses kleine Pro Forma-Event, wie Sie es nennen, Leute angereist, die durchaus Wichtigeres zu tun hätten. Wie haben die Havannas gemundet?“, lenkte Tom Clore zügig die Aufmerksamkeit auf bereits reichhaltig geflossene Zuwendungen. Manolo Chavado lächelte dünn, nickte und gab dem Anwalt damit zu verstehen, dass er nach wie vor auf Linie war – nicht umsonst war er sowohl Minister für Lebensraum, als auch für Öl und Gas. Venezuela brauchte die Investition. Dafür wollten eben Zugeständnisse gemacht werden.

 

Mit ihnen auf dem Podium saßen: die Compliance Managerin von Texaco; die beiden Geschäftsführer des Subunternehmens „Petroguard“; Paul Andor, junger, deutscher Harvardabsolvent und weiterer „Berater“ der Anwaltskanzlei Lewell & Associates; außerdem eine UNO-Beobachterin, die zunächst gekauft, dann damit erpresst worden war und zwei Dolmetscher. Und natürlich die jeweils zuständigen Minister von Kolumbien und Brasilien, da das betreffende Gebiet sich über die Grenzen der drei Länder erstreckte. Am Rand standen Bodyguards.

 

Unerträglich heiß und feucht war es in der Aula der Schule, deren abgeblätterte, heruntergekommene Gesamtoptik in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts stehengeblieben schien. Eine Klimaanlage ratterte in unregelmäßigen Intervallen, durchaus störend, dafür ohne jeden fühlbaren Effekt. Bis auf den Bürgermeister, Chavado und die anderen Minister litten alle auf dem Podium sichtlich in graduellen Unterschieden. Das eisgekühlte Wasser vor ihnen hatte binnen Sekunden die Temperatur des allgemein rinnenden, wahlweise stehenden Schweißes erreicht; Wolken gieriger Moskitos und müder Fliegen rundeten den Angriff auf das körperliche Wohlbefinden ab.

 

Im Saal saßen zwei weitere, unparteiische UNO-Beobachter; lokale Unternehmer; drei Vertreter privater Organisationen zum Schutz indigener Gemeinschaften, zwei Häuptlinge in Begleitung einiger ihrer Leute; ein paar Mestizen; drei der „Aufseher“ bisher „wirtschaftlich erschlossener“ Gebiete im Amazonas;  eine Handvoll „moderat berichtende“ internationaler Presseleute, sowie einige nicht zuordenbare Menschen. Die Aula war zu einem Drittel besetzt. Man war zurückhaltend gewesen mit der Ankündigung.

 

Das „Angebot“ war vor vier Wochen unterbreitet worden, traf allerdings auf einen Aufstand. Das neue, circa 230 Quadratkilometer große Gebiet umfasste eines der Heiligtümer der Quichoan. Es lebten dort außerdem viele Stämme, die noch nie Kontakt mit der Zivilisation hatten.

 

Sturm im Wasserglas nennen wir so etwas in Deutschland“, tat sich Paul Andor hervor. „Was uns übrigens entgegenkommt, ist, dass viele der Stämme untereinander verfeindet sind. So schnell ist hier keine Einigung möglich. Davon ab sind sie uns ja in den Mitteln gnadenlos unterlegen. Giftpfeile. Thats it.“ ließ er die Runde auf dem Podium leise und mit herablassendem Grinsen wissen.

 

Der Bürgermeister von Cucui, Samuel Saldheña, sah zunächst betreten nach unten, dann in den Saal. Sein Blick landete bei den drei Menschen in der letzten Reihe: ursprünglich ebenfalls Mitglieder eines indigenen Stammes, die sich einst auf den Deal, wie es stets so beschönigend hieß, eingelassen hatten. Damals ging es um Palmöl. Das Land: unwiederbringlich zerstört, erodiert und verwüstet. Die übriggebliebenen Dorfbewohner lebten krank, süchtig, gebrochen und ihrer Identität beraubt in einem billigen Trailerpark, der Ende der Neunziger schnell irgendwohin gestellt worden war. Ein „Zugeständnis“, das heute keines der Unternehmen mehr machte.

Dieser würde ebenfalls dem neuen Deal zum Opfer fallen. Er war angehalten worden, den Mund zu halten. Aber mit den mindestens zwei Herzen in seiner Brust war das nicht so einfach. Einerseits fand er Bildung wichtig, Anschluss an die Zivilisation. Andererseits hatte ihn das zunehmend rücksichtslose, zum Teil grausame Gebaren der Unternehmen und ihrer Leute vor Ort zutiefst abgestoßen. Zudem war seine Mutter eine Yamuna gewesen – somit war sein kontinuierliches Lebensgefühl, beständig zwischen allen Stühlen zu sitzen.

Er spürte eine steigende Nervosität.

 

Das Gespräch wurde eröffnet.

Die Dolmetscher gaben wieder, was die beiden Häuptlinge der Stämme zu sagen hatten, die bereits Kontakt hatten mit dem „weißen Mann“. Stolz, zornig und verzweifelt waren sie sehr offensichtlich bereit, über ihr Leben hinaus für ihr Land einzustehen. Ihr Erscheinungsbild war beeindruckend: Federschmuck; schwarze Streifen und Symbole im Gesicht; Armreifen; sowie ihre „Autoritätsstäbe“. Köcher und Pfeile mussten draußen bleiben. Das war die einhellige Regel für alle: keine Waffen im Saal.

 

Es gab das übliche Geplänkel: welche Vorteile den jeweiligen Bevölkerungen dieser Abschluss bieten würde; Chavado ließ Bilder einer idyllischen Siedlung herumgehen.

Alle Leute auf dem Podium und einige im Saal wussten, dass das eine Lüge war: In der Realität kam der Share nie bei irgendeiner Bevölkerung an; den Indigenen gab man ein paar Tage, ihr Dorf zu verlassen und sich selbst irgendwo etwas Neues zu suchen. Falls sie das nicht freiwillig taten, wurden sie schlicht niedergemetzelt und das Dorf abgebrannt.

Es war nur, Dank Lewell & Associates und ihrem weitverzweigten Netzwerk, unmöglich, das nachzuweisen.

 

Plötzlich war von draußen Tumult zu hören. Die Türen flogen auf. Eine Masse von Menschen drängte in den Saal, die hilflose Security vor sich her schiebend.

Samuel konnte spontan einige Weiße ausmachen; Presse, manche mit Kamera; Südamerikaner; Mestizen wie er und, das erstaunte ihn am meisten: Vertreter mehrerer Stämme, die, wie Paul so richtig bemerkt hatte, bislang verfeindet waren. Und noch nie in Kontakt mit der westlichen Welt.

 

„Wer sind all diese Leute?“ fragte Tom Clore, reichlich verärgert.

 

„Ich kenne nur einen von ihnen.“, sagte Chavado. „Will Jenkins, Ex-Wirtschaftskiller der USA, der gerade in Saulus zu Paulus-Manier durch Südamerika tourt und um Vergebung bittet für seinen Verrat.“

„Er lebt noch?“ fragte Tom Clore. „Erstaunlich.“

 

Zusammen mit Will traten ein Paar um die Fünfzig, ein weiterer Weißer etwa gleichen Alters und eine sehr junge, indigene Frau ans Podium.

„Wenn wir uns kurz vorstellen dürfen – John und Linda Brand, Fundraiser aus den USA. Seit zwanzig Jahren schützen wir im Rahmen nachhaltiger Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit indigene Gemeinschaften und ihr Land. Der eine oder andere von Ihnen mag uns kennen. Wir waren am Gesetzesentwurf beteiligt, der es untersagt, länderübergreifendes Regenwaldgebiet ohne Zweidrittelmehrheit in den jeweiligen Parlamenten – und ohne hundertprozentige Zustimmung der indigenen Vertreter der jeweiligen Parlamente – erschließen zu lassen. Die Sie bisher nicht haben.

 

Das ist noch nicht alles. Mit uns hier ist Scott Theobald, Interpol London, der seit Jahren versucht, Lewell & Associates das Handwerk zu legen. Dank eines Whistleblowers hat er nun Material, das Lewell & Associates unzählige Menschenrechtsverletzungen, Auftragsmorde und weitere Ungeheuerlichkeiten nachweisen kann.“

 

Die Kameras liefen.

 

„Und diese junge Lady hier, Maria“ – Linda wies auf die junge indigene Frau – „hat uns mit Bildmaterial versorgt, das nichts für schwache Nerven ist.“

Sie ließ eine leicht verwackelte Smartphone-Aufnahme auf einem Laptop abspielen. Das Abschlachten eines gesamten Dorfes war zu sehen, sowie ein nur dürftig zugeschüttetes Massengrab. Einer der „Aufseher“ im Saal war auf den Bildern deutlich erkennbar.

 

Die Compliance-Managerin sah äußerst irritiert, mit äußerst hochgezogener Augenbraue wechselnd zu einem zornerstarrten Tom Clore, den Geschäftsführern von Petroguard und zu Chavado.

 

Während die erpresste UNO-Beobachterin sich auf die Schuhe des kolumbianischen Ministers übergab, sprang die Klimaanlage nach ihrer bislang längsten Pause wieder an, was im ersten Moment wie eine Maschinengewehrsalve klang. Fast alle zuckten zusammen. Vier Menschen im Publikum zogen daraufhin ihre Waffen, zunächst hektisch in alle Richtungen schwenkend; allgemeines Wegducken, sich Verstecken, vereinzelt Schreie. Als der betreffende Aufseher seine Waffe etwas unbestimmt Richtung Podium richtete, warf der zuständige Bodyguard Chavado vom Stuhl und sich selbst über ihn. Die anderen sprangen vom Podium Richtung Waffenträger.

 

Tom Clore hatte sich unter den Tisch verkrochen und zischte zum kreidebleichen Paul neben ihm: „Sturm im Wasserglas, ja?“

 

Samuel blieb als einziger auf dem Podium unbewegt sitzen. Sein Blick traf sich mit dem der ebenfalls unbewegt und aufrecht stehenden indigenen Krieger. Etwas in ihm hatte sich tief beruhigt – als hätte sich sein lebenslanger innerer Konflikt nach außen verlagert.

Als Militär in den Raum stürmte und zunächst die Waffenträger überwältigte, dann für Ruhe im Saal sorgte, sortierten sich die Dinge etwas.

 

Vor weiterhin laufenden Kameras erklärte Linda, die Schamanen der bislang verfeindeten Stämme hätten sie vor mehreren Monaten gemeinsam um Hilfe gebeten, da alle die gleiche düstere Vision empfangen hatten: ihre Lebensgrundlage würde für immer zerstört, der Rio Negro dauerhaft vergiftet werden. Wie es der Zufall wollte, waren sie gerade in Venezuela, trafen dort auf Will und kurz danach auf Scott. Man beschloss, aufgrund gleicher Interessen, intensiv zu kooperieren.

 

Bis heute ist dieses Gebiet unberührt. Texaco musste sich zurückziehen. Lewell & Associates hatten sich vor dem internationalen Gerichtshof zu verantworten. Aufgrund astronomischer Reparationszahlungen meldeten sie im Anschluss Konkurs an. Samuel blieb noch lange Bürgermeister. Scott setzte sich nach zehn nervenaufreibenden Jahren mit Erfolg zur Ruhe.

Will lebt immer noch. So wie Maria.

 

Und Paul. Unter anderem Namen. In einem Zeugenschutzprogramm.

 

V3 | 9919 Z