Von Ludwig Anson

Der seltsame Fall von Murphy M. begann an einem ganz unscheinbaren Tag. Sie war gerade für eine neue Arbeitsstelle umgezogen und auf dem Rückweg vom Schwimmbad, wo sie wie jeden Sonntag seit ihrem Umzug ein paar Bahnen geschwommen war, als sie plötzlich mit einem kalten Schauer bemerkte, dass die Zugangskarte zu ihrem Arbeitsplatz, die sie am Freitag noch in die Innentasche ihrer Jacke gesteckt hatte, nicht mehr dort war. Da sie schon immer ein ängstlicher und zur Panik neigender Mensch gewesen war, wurde ihr bei der Vorstellung, am Montagmorgen beim Sicherheitsdienst eine gerade einmal vor einem Monat ausgestellte Zugangskarte als verloren zu melden, schwindlig und sie rannte zurück zum Schwimmbad, dem einzigen Ort, der ihr auf die Schnelle eingefallen war, wo sie sie hätte verlieren können. Sie war so gefangen in der Vorstellung, wie der schlechtgelaunte Sicherheitsmann sie maßregelte und wie sie ihrem neuen, dünnlippigen Chef erklären müsste, was passiert sei, dass sie, als sie eine Straße überquerte, nicht bemerkte, dass die Ampel bereits auf Rot geschaltet war, und plötzlich hörte sie nur noch quietschende Reifen, einen dumpfen Knall und kurz darauf aufgebrachte Stimmen – sie hatte einen Auffahrunfall zweier Autos provoziert. Kurz glaubte sie, ihr würde schwarz vor Augen werden, aber der Schaden war eher gering, kleine Kratzer im Lack und eine leichte, kaum wahrnehmbare Delle in der Stoßstange. Sie entschuldigte sich unaufhörlich bei den beiden Fahrern, tauschte ihre relevanten Daten mit ihnen aus, und nachdem beide Autos wieder losgefahren waren, rannte sie zurück zum Schwimmbad, nur um ihre Zugangskarte später, als sie die Suche bereits aufgegeben hatte, auf der kleinen Kommode neben ihrer Wohnungstür zu finden. 

Einige Wochen vergingen und Murphy hatte den Unfall schon beinahe wieder vergessen, als sie eines Abends ein Schreiben von einem der Autofahrer in ihrem Briefkasten fand, in welchem neben einer kurzen Erklärung eine so horrend hohe Rechnung beilag, dass ihr kurz die Luft wegblieb. Sie las das Schreiben mehrfach, studierte die ganz vorschriftsgemäß in der Rechnung angegebenen Reparaturen und kam schnell zu dem Schluss, dass man hier versucht hatte, sie für Schäden zahlen zu lassen, die sie auf keinen Fall verursacht hatte, und so schrieb sie zurück, dass sie nur einen Teil der Rechnung begleichen würde. Es folgte ein kurzer Briefwechsel, bis eines Tages ein Anwaltsschreiben bei ihr einging, und damit stand fest, dass der Streit vor Gericht geklärt werden würde. Sie nahm sich einen Anwalt, erschien pünktlich zum Gerichtstermin und erschrak, als die Gegenseite nicht mehr nur die Schäden am Auto, sondern ebenfalls ein Schleudertrauma und einen psychischen Schaden, der dem Fahrer seine Arbeit als Notfallsanitäter unmöglich machen würde, einklagte. Auch der andere Autofahrer erschien vor Gericht, beklagte ebenfalls einen beinahe Totalschaden an seinem Wagen und anhaltende Schmerzen in seinem rechten Knie. Murphy war schockiert und wütend über die dreisten Lügen der Ankläger, schließlich hatte es sich nur um einen kleinen Auffahrunfall gehandelt. Doch der Anwalt der Gegenseite machte seinen Job gut und drängte sie, als sie im Zeugenstand saß, so weit in die Ecke, bis sie schließlich die Nerven verlor und aufgeregt begann, die beiden Autofahrer anzuschreien, ob sie sich nicht dafür schämten, so dreist vor Gericht zu lügen. Als einer von ihnen ihr lautstark und, wie sie fand, ziemlich dreist widersprach, verlor sie gänzlich die Beherrschung und überzog ihn mit einer wüsten Schimpftirade. Der Richter ermahnte sie streng und vertagte die weitere Sitzung auf einen anderen Tag. In genau diesem Moment schoss ein Journalist, der mehr zufällig der Verhandlung beigesessen hatte, ein Foto von ihr, das sie neben einem Artikel, der mehr Verriss als Berichterstattung war, am nächsten Tag in einer Lokalzeitung fand. In dem Artikel schien der Sachverhalt ganz eindeutig: Murphy M. hatte durch ihr rücksichtsloses und gefährliches Verhalten einen Unfall provoziert. Sven A., der Notfallsanitäter, hatte ihr durch seinen selbstlosen und heldenhaften Einsatz auf Kosten seiner eigenen Gesundheit das Leben retten können. Obwohl die Beweislage ganz eindeutig war, hatte er, ob aus Bescheidenheit oder Menschenliebe, das durfte der Leser selbst entscheiden, darauf verzichten wollen, sie für ihre Taten anzuklagen, und hatte sie stattdessen lediglich gebeten, die Schäden an seinem Auto zu begleichen. Murphy M. jedoch hatte sich geweigert, auch hier konnte der Leser entscheiden ob aus Gier oder einfacher Boshaftigkeit, und dadurch hatte sich Sven A. dazu gezwungen gesehen, Murphy M. am Ende anzuzeigen. Während des gesamten Prozesses hatte Murphy M. zu keinem Zeitpunkt Reue oder Einsicht für ihr Verhalten gezeigt. Schlimmer noch, am Ende hatte sie den armen Sven A. sogar lauthals angeschrien und beschimpft.

Als Murphy den Artikel las, brach sie in Tränen aus. Es kam ihr alles so schrecklich ungerecht vor. Immerhin war sie doch im Recht und die beiden Autofahrer waren diejenigen, die logen. Aber sie hatte noch immer die Hoffnung, dass sich die Dinge in den darauffolgenden Tagen wieder richtigstellen würden. 

Als sie zum nächsten Termin erschien, bemerkte sie, dass ihr Fall mittlerweile größere Aufmerksamkeit gefunden hatte. Eine kleine Hand voll Boulevardjournalisten mit Kameramännern umdrängte sie bereits vor dem Gerichtssaal. Man hielt ihr ein Mikrofon ins Gesicht und stellte Fragen wie: „Warum wollen sie sich nicht für ihren Fehler entschuldigen?“ oder: „Tut es ihnen nicht leid, was sie diesem Mann angetan haben?“. Murphy hätte am liebsten auf alle Fragen sofort geantwortet und ihre Sicht der Dinge dargestellt, aber ihr Anwalt hatte ihr dringendst nahegelegt zu schweigen, um weiteren Schaden zu verhindern, und so betrat sie, ohne ein Wort zu sagen den Gerichtssaal und blieb auch die ganze Sitzung über stumm auf der Anklagebank sitzen. Am nächsten Tag hatte sie es in eine große, landesweit gelesene Boulevardzeitung geschafft: «Erst Beschimpfungen, dann Langeweile – Angeklagte schläft vor Gericht beinahe ein». Auch in Social Media schaffte sie es bald zu einer gewissen Bekanntheit: «Müsst ihr euch mal vorstellen: Sie provoziert einen Unfall, der Typ rettet ihr das Leben, will nicht mal Schmerzensgeld, obwohl es ja doch ganz eindeutig ihre Schuld war, sondern nur die Reparatur von seinem Auto bezahlt bekommen, will also weniger, als ihm rechtlich zusteht, und sie beschimpft ihn einfach! Kann man sich nicht ausdenken, oder?!». Wieder weinte sie bittere Tränen, aber es gab nichts, was sie hätte machen können. Sie selbst hatte keine Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge mitzuteilen, und ihr Anwalt hatte ihr eindringlich davon abgeraten, mit Journalisten über den Fall zu sprechen, bevor er abgeschlossen war. 

Der Prozess zog sich hin. Ihr Anwalt leistete ordentliche, aber unspektakuläre Arbeit und konnte nach und nach die Argumente der Gegenseite entkräften. Nach dem dritten Prozesstag verschwanden die Journalisten (ein Tiger war aus einem Privatzoo ausgebrochen, was bedeutend interessanter war), und so gab es niemanden, der am Ende darüber berichtete, dass Murphy nach fünf Prozesstagen vor Gericht gewonnen hatte und beiden Autofahrern lediglich die durch den Unfall entstandenen Schäden und dem einen eine Minimalstrafe für die Beleidigungen bezahlen musste. Sie reichte über ihren Anwalt sogar eine Gegenklage ein, gewann diese und erhielt von da an von beiden Autofahrern Schmerzensgeld. Doch auch das interessierte außerhalb des Gerichtssaals niemanden mehr. Sie versuchte sich an die Zeitungen zu wenden, bekam jedoch jedes Mal nur die Antwort, dass der Fall schon lange keinen mehr interessiere.

Monate vergingen, und obwohl Murphy M. sich ihrer Unschuld bewusst war und sie sogar vor Gericht hatte beweisen können, wurde sie den Verdacht nicht los, immer wieder auf offener Straße angestarrt zu werden. Sie ging in ein Café und glaubte zu sehen, wie zwei der Angestellten verstohlen zu ihr hinüberblickten, kurz die Köpfe zusammensteckten und sie von da an etwas kälter behandelten. Sie überlegte lange, was sie dagegen machen sollte, denn sie konnte ja nicht einfach zu den Leuten hingehen und ihnen sagen: „Hey, ich habe den Gerichtsfall, über den ihr gerade redet oder nachdenkt, gewonnen. Ich bin unschuldig!“ Schließlich hatte sie keine Beweise dafür, dass die Leute sie überhaupt angestarrt hatten, und selbst wenn sie es getan hätten, dass der Gerichtsfall der Grund dafür war, und so beschloss sie irgendwann einfach die Orte, an denen die Blicke besonders unangenehm waren, zu meiden. Es begann mit dem Café, bald folgte der Buchladen, dann das Sportstudio, und als auch das Schwimmbad auf die immer länger werdende Liste der zu meidenden Orte kam, beschloss sie erneut umzuziehen, schließlich war über den Fall in der Lokalpresse am meisten berichtet worden. Sie besaß einen erstklassigen Lebenslauf und wurde bald zu einem Jobinterview in einer Stadt am anderen Ende des Landes eingeladen. Wie vor jedem Bewerbungsgespräch war sie etwas nervös, das war nun mal ihre Art, aber sie glaubte doch, sich ganz gut angestellt zu haben, als der Abteilungsleiter sich am Ende freundlich von ihr verabschiedete und mit ihr durch die Büroräume zum Aufzug ging. Bevor sie sich voneinander verabschiedeten, versprach er ihr, sich möglichst bald wieder bei ihr zu melden. Sie freute sich und glaubte die Dinge würden sich jetzt endlich wieder zum Guten für sie wenden. Die Türen des Fahrstuhls hatten sich beinahe geschlossen, als sie den Abteilungsleiter noch leise hören konnte, wie er seine Sekretärin fragte: „Vera, kannst du bitte einmal kurz etwas überprüfen. Die Bewerberin, die gerade hier war, Murphy M. – ist das dieselbe Frau, die diesen armen Rettungssanitäter vor ein paar Monaten vor Gericht so angeschrien und beleidigt hat?“

 

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