Von Johannes Wöstemeyer

Müde steht er auf und stellt sich auf den neuen Arbeitstag ein. Schon im Badezimmer meldet sich das seit Langem gewohnte Herzdrücken. In der Küche begrüßt er seine Frau mit flüchtigem Streicheln und lächelt beinahe verschämt, als nähme er etwas, was ihm nicht zusteht. 

Beim Frühstück bemüht er sich um freundliche Unterhaltung mit ihr. Sie spricht ohnehin wenig und antwortet auch heute kaum. Wortkarg chauffiert er sie anschließend zu ihrer Firma und fährt dann auf den Parkplatz an dem Forschungsinstitut, an dem er arbeitet. Wie immer geht er mit Angst zur Arbeit. „Zum Glück“, denkt er, „merkt mir das niemand an, der mich nicht genau kennt“. Er hat viele Jahre Übung darin, seine Gefühle zu unterdrücken und sich mit der jeweils erforderlichen Maske überzeugend zu tarnen. 

Zu seinem Glück darf er für Studenten an der benachbarten Universität lehren. Die Vormittage mit Vorlesungen und Seminaren erlauben ihm – wie er es nannte – mit normalen Menschen zu arbeiten. Auf dem Rückweg vom Seminarraum in seine Forschungsabteilung fragte er sich oft nach dem Mechanismus, der aus aufgeschlossenen, überwiegend interessierten und kooperativen Studenten solche Ekelpakete werden ließ wie etliche seiner Kollegen. Neidisch, borniert und intrigant sind die Attribute, die er am häufigsten benutzt, wenn er insbesondere an die Leiterin seiner Nachbarabteilung im Institut denkt. 

Der Vormittag verläuft friedlich und sogar ungewöhnlich erfolgreich. Mehrere Mitarbeiterinnen seines etwa zwölfköpfigen Teams stellen in der Arbeitsbesprechung überaus gelungene Experimente vor, die intelligente Schlussfolgerungen erlauben. Sie sind zu Recht stolz auf ihre Arbeit. Die gesamte Arbeitsgruppe freut sich, und er selbst genießt den Rest dieses Morgens, der ihnen allen neue Erkenntnisse beschert hat und die noch notwendige Feinjustierung der Arbeiten für die nächsten Wochen erlaubt. Bald wird man die wissenschaftlichen Fortschritte gemeinsam veröffentlichen können. 

Am frühen Nachmittag hatte er dann eine Besprechung mit dem Institutsdirektor. Wie immer bei solchen Gelegenheiten hatte man ihm im Vorfeld trotz Nachfrage nicht gesagt, worum es geht. Angenehm waren diese Zusammenkünfte überaus selten und hatten im Übrigen niemals etwas mit den wissenschaftlichen Erfolgen seiner Abteilung zu tun.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie einen eher freundschaftlichen Umgang mit Ihren Mitarbeitern bevorzugen“, begann der Chef die Unterredung. „Professionell ist das nicht. Sie müssen auf die gebotene Distanz achten. Arbeiten Sie daran!“ 

Er erlaubte sich den Hinweis, dass alle im Team sehr erfolgreich arbeiteten. Gerade heute habe man gemeinsam ein neues Konzept … Der Chef unterbrach ihn ungehalten.

„Noch etwas wichtiges“, fuhr er fort. „Im Anschluss an das Impulsseminar mit Vorstand und Kuratorium in der vorigen Woche sind wir übereingekommen, die personellen Ressourcen im Haus besser auf die zentralen Zukunftsziele des Instituts auszurichten und folglich neu zu verteilen. Rechnen Sie daher damit, dass Sie im kommenden Jahr zwei Ihrer Doktorandenstellen abgeben müssen. Strategisch werden die eher anderswo gebraucht.“ 

Weiter hörte er nicht zu. Die Stimme des Chefs wurde noch eine Weile lauter, Inhalte schien es nicht zu geben. Alles war wie nur allzu oft. 

Dagegen war nichts zu machen. Außerdem wusste er genau, von welcher Seite dem Institutsdirektor etwas ‚zu Ohren gekommen‘ war. Er verabscheute diese Formulierung, die er gar nicht kannte, bevor er an dieses Institut kam. Auch war ihm klar, wohin die beiden angesprochenen Stellen abwandern würden. Diese Machtspielchen zwischen Kollegen und dem Prinzip ‚Divide et impera‘ an der Institutsspitze brachten ihn nahezu um. Es tröstete wenig, dass er nicht der Einzige war, der so behandelt wurde.

Der Rückweg in seine eigene Abteilung fiel schwer. Seine Tarnung mit unbekümmerter Mimik und energischem Gang bereitete Mühe. Nötig war sie; alles hatte unbedingt locker und flockig zu wirken. 

In seinem Arbeitszimmer genehmigte er sich einen kräftigen Schluck Cognac. Das löste zwar kein Problem, kam selbst ihm falsch vor, doch es betäubte und ließ sowohl die gedrückte Stimmung als auch die Herzschmerzen etwas vergessen. 

Heute geht er früh; zur Tagesschau ist er zu Hause. Manchmal überkommt ihn Rachsucht, wenn er abends in Wohnzimmer hockt. Er hofft, dass solche Attitüden nicht eines Tages unbeherrschbar werden. Reden kann er daheim nicht. Er hatte es wenige Male versucht, wollte auch über die Depression sprechen, die ihn niederrang. Die Reaktion seiner Ehefrau „Stell dich nicht so an, andere bekommen das ohne Probleme hin!“, versenkten ihn in Verlorenheit.

Am Morgen war er sich sicher, dass es so nicht weitergehen konnte. Egal, ob er mit seinen 61 Jahren eine andere Arbeit finden würde, er hatte vor, seine Kündigung einzureichen. Es reichte.

Schon an der Tür zu seiner Abteilung kam ihm eine seiner Mitarbeiterinnen in den Weg. Mit ihr arbeitete er seit mehr als zwei Jahrzehnten an Universität und verschiedenen Forschungsinstituten vertrauensvoll zusammen. 

„Ich habe auf Sie gewartet“, sagte sie. “Zwei Dinge sind passiert. Am frühen Morgen sind die Messungen fertig geworden, die Sie neulich vorgeschlagen hatten. Ich bin sicher, wir haben einen weiteren Baustein für unsere neue These erhalten.“

Er genoss ihren Enthusiasmus. So ganz überzeugt war er nicht mehr, ob er vor dem Druck und den Erniedrigungen am Institut fliehen wollte. Konnte er dieses großartige Team wirklich allein lassen? 

„Und zweitens?“, fragte er. „Das ist fast noch besser“, antwortete sie, „Ich gebe Ihnen die Einzelheiten bei einem Becher Kaffee“, lächelte sie ihm zu. „In unserer Nachbarabteilung ist die Hölle los, eigentlich etwas Schreckliches, doch für uns wird es gut sein. Ein Doktorand hat wesentliche Daten gefälscht oder mindestens manipuliert. Ihre geschätzte Kollegin hat es nicht bemerkt, und die darauf aufbauende Publikation ist schon eingereicht. Den Gutachtern bei der Zeitschrift sind die Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Sie haben sich in dieser Sache außer an sie selbst auch an den Institutsdirektor gewandt.“

Er begriff sofort, dass ihm dieser Zwischenfall für lange Zeit Ruhe und somit Muße zum konzentrierten Arbeiten verschaffen würde. Kein Institut kann es sich leisten, mit Berichten über falsche Daten, Ergebnisse und Interpretationen in die Schlagzeilen zu geraten. Seine Kollegin würde sich auf eine Eiszeit einstellen müssen. Mit Sicherheit verstand sie selbst, dass Zurückhaltung für lange Zeit geboten war.

 Im Grunde interessierte ihn das alles nicht sonderlich. Er hatte durch dieses Ereignis den nötigen Freiraum für sich und seine Arbeitsgruppe zurückbekommen. Das allein zählte. Für den Abend lud er das gesamte Team zu seinem Lieblingsitaliener ein. 

 

 6727 Zeichen