Von Ursula Kollasch

Jetzt muss sich Oma Giesel aber sputen. In wenigen Stunden kommt ihr Enkel Gunnar aus dem Urlaub zurück und sie will ihn mit einem Festessen willkommen heißen.
Den Jungen hält sie – gelinde gesagt – seit Langem für eine Bohnenstange und in den vergangenen acht Wochen hat er garantiert nicht auf ausreichende Ernährung geachtet.
Er hat keinen Aufenthalt in einem dieser All-inclusive-Hotels gebucht, in denen die Gäste rund um die Uhr mit irgendwelchen Leckereien abgefüllt und gemästet werden.
Nein, solche Reisen lehnt ihr Gunnar ab, nennt sie „stupide“, denn er ist ein bildungshungriger Student. Er hat es vorgezogen, in den Semesterferien mit einem Rucksack auf dem Rücken per Bahn quer durch Europa nach Asien zu fahren. Um Länder und Leute kennenzulernen und seinen Horizont zu erweitern, wie er ihr erklärte. Vor der Abfahrt steckte sie ihm hundert Euro zu, aber die reichten bestimmt nicht lange.
Gestern rief ihr geliebter Enkel an und teilte mit, dass er heute zurückkehrt, sie am Abend gerne besuchen und mit ihr essen würde.
„Ach, er ist bestimmt sehr müde“, dachte Giesel nach dem Gespräch. „Ich hab‘ ja einen Notfall-Schlüssel zu seiner Wohnung. Ich werde bei ihm kochen. Und nach dem Festmahl kann er sich gleich hinlegen und ich nehme seine Schmutzwäsche mit.“
Beim Betreten der Einzimmerwohnung hatte sie scharf eingeatmet und die Augen aufgerissen. Die Unordentlichkeit, ja, der Dreck schockierten sie!
Es roch muffig, überall lagen schmutzige Socken und andere Kleidungsstücke herum. In der Küche stapelte sich verkrustetes Geschirr und auf dem Boden entdeckte sie einen Pappkarton mit einem Rest verschimmelter Pizza. Und erst das WC!
Aber dann stiegen Nachsicht und Mitgefühl in ihr auf.
„Mein armer Gunnar“, dachte sie, während sie die Fenster aufriss, „ich muss das verstehen. Er ist Philosophiestudent im achtzehnten Semester und hat schrecklich viel zu tun.“
Sie suchte Putzutensilien zusammen und schrubbte und wienerte den ganzen Morgen. Der Kühlschrank war leer, verständlich, wenn man eine lange Reise unternahm. Jedoch fand sich auch im Küchenregal kaum etwas Essbares, für Giesel ein weiterer Hinweis auf Gunnars entbehrungsreiches, dem Studium gewidmetes Leben.
Lediglich zwei Pakete Nudeln und eine Handvoll getrocknete Pilze in einer Keksdose entdeckte sie beim Aufräumen. Einen probierte sie, ob die überhaupt noch genießbar waren. Der Geschmack entpuppte sich als gewöhnungsbedürftig. Wie Sägemehl und es fühlte sich im Mund auch genauso an. Dennoch kaute und schluckte sie tapfer, denn Essen verschwendete man nicht, so hatte sie es gelernt.
Für ihr legendäres Geschnetzeltes mit Spätzle, das sie heute zubereiten wird, sind diese Pilze jedenfalls nicht geeignet. Darum fügt sie der Einkaufsliste „Champignons“ hinzu, bevor sie ihren Mantel nimmt und sich auf zum Supermarkt macht.

Auf dem Weg, die Sonne scheint mit einem Mal seltsam grünlich, rauscht eine Straßenbahn an ihr vorbei. Und hört gar nicht mehr auf vorbeizurauschen.
Giesel bleibt stehen. Wie lang ist denn bitte diese Bahn?, wundert sie sich, da das Gefährt erst nach Minuten ein Ende findet.
Es sind moderne Zeiten, sagt sie sich und schüttelt den Kopf. Die Straßenbahnschienen, die jetzt unbenutzt daliegen, schütteln sich ebenfalls, schlagen Wellen, genau, wie der sie umgebende Asphalt, und Giesel ist erleichtert, dass der Supermarkt vor ihr auftaucht.
Die rote Leuchtreklame und die automatischen Türen wirken heute wie der Eingang zu einem Hollywood-Filmstudio. Bombastisch.
„Mein lieber Schwan, was ist mit mir? Nicht, dass ich es mit den Betablockern übertrieben habe …“ Sie steht weiter und staunt.  
„Papperlapapp, eine gestandene Frau wie ich hat schon Seltsameres erlebt“, beruhigt sie sich. „Mir sollte so schnell nichts zu viel werden.“

Sie schlingert auf die Türen zu. Selbst die Geranien am Eingang, die ihr zuwinken und ihren Namen skandieren, bringen sie nicht aus der Fassung. Im Gegenteil, sie fühlt eine Beschwingtheit und Energie wie seit Langem nicht mehr.
Mit einem Schmatzen, das in ihren Ohren nahezu obszön klingt, schluckt der Einkaufswagen die Münze, sie schiebt ins Geschäft und orientiert sich.
Wie zuvor die Straßenbahn rauscht sie durch die Reihen der Regale. Die Sachen fliegen wie von selbst in den Wagen.
Musik dudelt. Sie erkennt die Melodie, obwohl der Gesang fehlt. Es läuft „Ti amo“ von Howie Carpendale, das Lied kennt sie, es gefällt ihr und sie summt mit.
Der Howie gefällt ihr ebenfalls, er ist aber auch ein schmucker Mann! Kurz vor dem Refrain bleibt sie stehen, breitet die Arme aus, wiegt sich hin und her und schmettert: „Sinnliche Spiele und falsche Gefühle … Ti-ti-ti-ti-ti-ti amo, ti amo …“
Eine Frau starrt sie an, mit offenem Mund. Die Dame scheint beeindruckt zu sein von ihren Gesangskünsten und Giesel strahlt, ehe sie den Wagen in den Gang mit den Süßigkeiten lenkt.
„Ti amo, ti amo …“ Sie verstummt, denn aus einer Tüte Gummibärchen ertönen laute Protestrufe. Sie beugt sich vor.
„Verdammt, jetzt können wir wieder von vorne anfangen“, beschwert sich ein weißes Bärchen.
„Womit müsst ihr denn wieder von vorne anfangen?“, fragt Giesel.
„Na, mit dem Zählen. Wir versuchen herauszufinden, wer hier in der Mehrheit ist. So demokratiemäßig, du weißt schon.“
„Und das ist wichtig?“ Giesel hat sich nie sonderlich für Politik interessiert.
„Na ja, mir nicht so, ich bin da eher liberal“, meldet sich ein gelbes Gummibärchen zu Wort.
„Natürlich ist das wichtig! Wie lange sitzen wir hier schon in dieser Tüte fest. Da wurde es höchste Zeit für ein Plenum“, ereifert sich ein grünes.
„Ich schwöre euch, niemand hatte die Absicht, eine Tüte zu errichten!“, erwidert ein rotes.
Eins der wenigen blauen Bärchen mogelt sich nach vorne, wirft sich in die Brust und plärrt: „Diese sogenannte bunte Gesellschaft hier, auf engstem Raum, das klappt nicht, das ist unnatür …“
„Fresse!“, tönt es von einigen anderen und Oma Giesel zuckt zurück. So was! Das ist ja der Untergrund!
Sie schüttelt erneut den Kopf und geht weiter, denn das ist ihr jetzt alles zu anstrengend und es gibt Wichtigeres. Weshalb ist sie noch hier? Ach ja, sie will für ihren Gunnar kochen.
Sie braucht Fleisch für das Geschnetzelte, fällt ihr wieder ein, und frohen Mutes steuert sie die Metzger-Theke an. Die ist leicht zu finden, denn ein großes Schild mit einem Schwein und einer Kuh hängt daneben.
Der Mund der Verkäuferin, die hinter dem Tresen steht, ist rot. Aber so was von rot, ist denn das nötig? Solche Lippen haben doch nur …
„Flittchen“, schnarrt es neben Giesel.
„Bitte?“, fragt sie und schaut sich um. Das Schwein auf dem Schild grinst sie an.
„Sie ist ein Flittchen, ja.“ Das rosige Tier nickt zur Bekräftigung.
„Das habe ich auch gerade gedacht.“
„Ich weiß. Bin doch kein dummes Schwein.“ Es zwinkert ihr zu.
„Was darf’s denn sein?“, fragt die Verkäuferin mit dem Erdbeermund. Giesel wendet sich ihr wieder zu und blinzelt. Sie ist unschlüssig, wie sie sich angesichts der Freundlichkeit des Schweines verhalten soll. Hier kann man viel falsch machen.
„Hm, eigentlich wollte ich ja Schwein, aber vielleicht nehme ich doch lieber Rind.“ Sie überlegt. „400g Geschnetzeltes brauche ich – vom Rind – oder doch vom Schwein?“
„Hey, jetzt aber mal vorsichtig, Oma. Ich meine, muh mal, nur weil du das Frauenbild einer Sau teilst, musst du doch nicht gleich alles über den Haufen werfen, was in deinen Rezepten steht“, meldet sich das Rind zu Wort. Welches, da ist sich Giesel sicher, gleich beschwören wird, keine dämliche Kuh zu sein.
„Waaas daaarf eeeees deeeenn nuuuuuun seiiiinnnnnn?“, wiederholt die Verkäuferin, es klingt nicht astrein in Giesels Ohren.
Zu gedehnt und übermäßig tief. Sie hätte sich lieber weiter mit dem Schwein unterhalten sollen. Das scheint nett zu sein. Es ist auf jeden Fall unkomplizierter als die Kuh und moralischer als diese angemalte Bordsteinschwalbe hinter der Theke …
Andererseits ist ihr neuer rosiger Kumpel halt ein Schwein, im Gegensatz zu der Kuh, und erst recht im Hinblick auf die schweinische Kuh von Verkäuferin, die …
Giesel merkt, dass sie sich in ihren Gedanken verheddert und da liegt kein Segen darin.
„Gib mir irgendein Geschnetzeltes, 400g, du entscheidest!“, sagt sie zu Rotmunde und muss über den Namen kichern, den sie der Frau gegeben hat. Hat sie den etwa laut ausgesprochen?
Plötzlich steht sie an der Kasse, ohne zu wissen, wie sie dahin gekommen ist.
Die Waren fahren auf dem Fließband vorbei, versinken in der kleinen Fuge kurz vor der Kassiererin und tauchen dann aus der hinteren wieder auf.
Darüber wundert Giesel sich ein wenig, bis sie die Melodie von „New York, New York“ erkennt, die aus den unsichtbaren Lautsprechern erklingt.
Oh, Sinatra, Se Wois, den liebt sie ebenso wie Howie! Sie greift nach einer Gurke auf dem Fließband, hält sie wie ein Mikrofon an den Mund und schließt die Lider.
„If I can make it there, I’ll make it Anywhere, It’s up to you New York, New York!“  
Jemand nimmt ihr das Mikro ab, überreicht ihr Wechselgeld.
Giesel schlägt die Augen auf. Ein Herr mit weißem Bart steht direkt neben ihr – er flucht, warum ist der denn so aufgebracht? Seine Stimme klingt wie eine Messerschneide, die auf Eis kratzt.
Er ist kleiner als sie, stopft die Einkäufe in ihre Tasche und drückt ihr diese in die Hand. Sie gluckst und kichert. Der sieht ja aus wie …
„Ach wie gut, dass niemand weiß“, prustet sie, „dass ich Rumpelstilzchen heiß!“
„Unglaublich, eine Schande ist das, vor allem in Ihrem Alter!“, zischt der Zwerg ihr zu und drängt sie vorwärts, weg von der Kasse.
Also bitte! „Warum sollte ich zu alt sein, um hier einzukaufen? Bist doch viel älter als ich!“, empört sie sich und verlässt dann diesen seltsamen Supermarkt. Draußen verfliegt ihre Entrüstung wie eine Seifenblase im Wind, sie fühlt sich lebendig, ihr Herz pocht, ihre Sinne sind wieder rasiermesserscharf. Die Farben leuchten, die Welt sieht anders aus.
Auf dem Weg zu Gunnars Wohnung erfasst sie ein Schwindel, aber ein galanter Laternenpfahl, ganz Kavalier der alten Schule, eilt rasch drei Meter zu ihr herüber und stützt sie.
Sie lacht und kann gar nicht mehr aufhören damit. Nach einer Weile bedankt sie sich bei der Laterne und wünscht ihr noch einen angenehmen Tag, ehe sie weiterwankt und dabei I did it my way singt.

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