Von Peter Burkhard

 

In Kuba dieser Tage …

 

Der Mann kauert entspannt auf der bröckelnden Quaimauer des Malecóns, sein Gesicht der Meeresbucht zugewandt. Aber das Geschehen auf dem unruhigen Wasser interessiert ihn nicht. Sein ganzes Augenmerk gilt einem kleinen Mädchen, das vor ihm steht und auf das er mit leicht geneigtem Kopf energisch einredet.
Sein linker Arm ruht ausgestreckt auf dem selbst gezimmerten hölzernen Kindersitz, den er eigenhändig auf den Rahmen seines Fahrrades montiert hat.
Ich beobachte die beiden verstohlen, kann aber nicht verstehen, was der Mann sagt. Ich höre nur, dass er das Kind Mariposa nennt: Schmetterling.
Von meinem Standpunkt aus kann ich nur den Kopf des Mädchens mit dem dunklen Haarschopf sehen und ihre in pinkfarbenen Sandalen steckenden Füße. Trotz allem fällt mir auf, dass die Kleine ihr erwachsenes Gegenüber völlig ignoriert und mit ihren tiefschwarzen Augen die ganze Zeit neugierig zu mir hinüberschaut.

„Mariposa, du hörst mir überhaupt nicht zu.“
„Papá, was ist das für ein Mann, der dort drüben steht?“
Enrique schaut sich kurz um. Dabei erblickt er den Touristen, der vorgibt, an seiner Kamera zu hantieren und darauf suchend auf das dunkle Wasser des Jachthafens hinausschaut.
„Das ist ein Fremder, Mariposa, ich kenne ihn nicht.“
„Was ist ein Fremder, Papá?“
„Jemand aus einem anderen Land, der mit dem Flugzeug oder dem Schiff zu uns gekommen ist.“
„Wozu denn, Papá? Was will er in Cienfuegos? Ist er böse?“
„Nein, mi corazón, das glaube ich nicht. Er ist zu Besuch in unserer schönen Stadt und wird sicherlich noch weiterreisen, vielleicht nach Trinidad oder sonst wohin.“
Unvermittelt küsst der Vater sein Töchterchen auf die Stirn, setzt es auf den Kindersitz und schwingt sich in den Sattel. Beim Vorbeifahren winkt er dem stillen Zaungast zu und hebt lächelnd den Daumen, bevor er Richtung Stadtzentrum abbiegt.

Eine halbe Stunde später, bei einem Mojito im El Palatino, komme ich dazu, Miriam von meiner Begegnung am Wasserrand zu berichten. „Weißt du“, bemerke ich nachdenklich, „für mich spricht diese Szene Bände.“ Ich halte ihr das Display meines Fotoapparates hin. „Schau dir die Haltung des Mannes und den Blick des kleinen Mädchens an. Ich konnte nicht hören, worum es ging. Der Vater – ich nehme an, dass er’s war – gab sich alle Mühe, ihr auf Augenhöhe etwas klarzumachen. Und sie? Hörte demonstrativ weg und schien sich viel mehr für mich oder zumindest für meine Anwesenheit zu interessieren. Dieses kleine Biest.“

„Die Aufnahme ist dir wirklich gelungen, Ferdi. Besser geht nicht. Aber dieses Intermezzo könnte ebenso gut bei uns zu Hause am Seeufer stattfinden. Kinder in diesem Alter sind nun mal neugierig.“

Der Sänger der Liveband nähert sich unserem Tisch: „Píntate los labios María …“ Ich mag Son Cubano, ich liebe die Rhythmen, aber in diesem Moment stört mich das Gedudel und ich wende mich ab.

„Weißt du, Miriam, mich beunruhigt auch der Gedanke an die Zukunft der Kleinen. Die sieht im Moment alles andere als rosig aus. Entweder hält es den Glauben an die seit 70 Jahren andauernde Revolution aufrecht und schafft sich damit gewisse Chancen auf der Bühne, im Sport oder in der Politik. Oder“, ich lege die Kamera weg, „sie verlässt das Land und heiratet einen Ausländer. Kann das die Lösung sein? Und wenn sie im Land bleibt und sich für einen Wechsel und die Freiheit engagiert, dann weißt du, was das bedeuten kann.“

„Ich verstehe dich, Liebling, es wird so sein, wie du sagst.“ Miriam gibt dem Kellner ein Zeichen. „Zahlen bitte! –– Aber wie auch immer ihre Zukunft aussieht, wirst du daran nichts ändern können. Also, vergiss die beiden und lass uns noch spazieren gehen.“

Am folgenden Morgen, als Miriam und ich aus dem Hotel La Union auf die Straße treten, nieselt es.
Mit wenigen Schritten gelangen wir in eine der Fußgängerzonen, in denen zu gewissen Tageszeiten Scharen von Touristen flanieren, um sich mit Gegenständen des lokalen Handwerks oder mit billigem Ramsch einzudecken. Jetzt, in diesen trüben Morgenstunden, tummeln sich nur vereinzelte Passanten zwischen den eng aneinandergereihten Ständen.
Während ich mit einer Händlerin diskutiere, stößt mich Miriam plötzlich an. „Ferdi, schau mal.“
„Einen Moment Schatz, ich bin dabei, dir etwas Kleines zu kaufen.“ Wie ich ihre Ungeduld bemerke, zucke ich resignierend mit den Schultern, lege den Fächer zurück und kümmere mich um meine Liebste. „Was ist denn?“
Sie packt mich am Arm und deutet auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Dort drüben an der Hauswand. Sah nicht so das Fahrrad aus, das du mir gestern auf dem Foto gezeigt hast? Hatte es nicht einen metallisch grünen Rahmen und diesen auffälligen Kindersitz?“

Wir brauchen nicht lange zu suchen, bis wir Mariposas Vater an einem der nächsten Stände entdecken. Er ist damit beschäftigt, Ordnung in mit Che-Guevara-Porträts bedruckte T-Shirts zu bringen.
Während Miriam in sicherer Distanz bleibt und zum Schein in einer Auslage wühlt, gebe ich mir einen Ruck
„Hola, Señor.“
Der Händler blickt bedächtig auf. Wie er sieht, wer vor ihm steht und mich wiedererkennt, setzt er ein breites Lächeln auf. „Sie sind es. Buenas tardes. Sind Sie noch immer in der Stadt? Und gefällt Ihnen Cienfuegos?“
„Si, mucho, estoy entusiasmado!“
„Habla español? Aus welchem Land kommen Sie?“
Wir stellen uns einander vor und ich blicke suchend zu Miriam, die das Geschehen argwöhnisch beobachtet hat, bevor sie endlich näherkommt.
„Suiza? Und Sie sprechen so gut Spanisch? Das trifft sich gut, ich würde Sie gerne etwas fragen.“
„Ja, natürlich. Einen Moment. –– Schatz, das ist Enrique, der Vater des Mädchens, von dem ich dir erzählt habe. Señor, das ist Miriam, meine Frau.“

Enrique tritt ein paar Schritte in den Schatten des Standes zurück.
„Kommen Sie bitte näher, es braucht uns niemand zuzuhören. Vielleicht ist Ihnen gestern aufgefallen, wie sehr sich Mariposa, meine kleine Tochter, für Sie interessiert hat. Als wir bereits zu Hause waren, hat sie immer wieder den fremden Mann erwähnt. Sie ist vier Jahre alt und voller Fragen, aber auch Ängste, vor allem, wenn sie Dinge entdeckt, die sie nicht kennt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und ihr ein bisschen über Ihr Land zu erzählen?“
Enriques Anliegen überrascht uns in höchstem Maße.
„Nein, gar nicht.“ Ich bin ehrlich erfreut, fühle mich geehrt. „Wie denkst du darüber, Miriam? So viel Zeit werden wir wohl erübrigen können, um Mariposa diesen Gefallen zu tun.“
„Wenn du meinst.“ Sie wendet sich an unseren neuen Bekannten. „Wo ist denn Ihr Töchterchen und wo sollen wir uns mit ihr unterhalten?“
„Mariposa ist zu Hause bei ihrer Mutter. Ich werde heute Nachmittag während der Siesta in der Heladería Coppelia mit ihr ein Eis essen gehen. Ich schlage vor, dass wir uns danach um halb vier für ein paar Minuten am Malecón treffen. Bis dahin hat das bisschen Regen aufgehört und es ist einer der wenigen Orte, wo viel los ist und es nicht auffällt, wenn wir mit Touristen reden. So könnten wir ein paar Worte wechseln, ohne großes Aufsehen zu erregen.“
„Genau! So machen wir es. Hier noch meine Visitenkarte. Rufen Sie mich an, wenn wir uns verpassen sollten. Wir freuen uns. Nicht wahr, Miriam …?“

Gespannt sitzen wir über dem Wasser, lassen die Beine baumeln und blicken einem Frachter nach, der die Bucht verlässt. Es ist kurz vor halb vier.
„Würdest du hier baden wollen?“ Ich rümpfe die Nase.
„Nein, natürlich nicht. Glaubst du, dass sie kommen?“
„Ich denke schon, er hat ja um dieses Treffen gebeten. Habe ein wenig Geduld, Miriam, das Mädchen wird sich freuen, uns zu sehen.“
„Ich traue ihm nicht. Irgendetwas ist faul an der Sache, der bringt uns noch in Schwierigkeiten. Vielleicht benötigt er Geld und benutzt seine Tochter als Lockvogel, um mit uns ins Gespräch zu kommen.“
„Wenn ich dich nicht sehr gut zu kennen glaubte, würde ich mich fragen, woher dein Misstrauen stammt. Liebling, die Sache mit dem Ventil ist Geschichte, Arturos Trickserei ebenso. Tempi passati, zum Glück. Die beiden werden auftauchen, du wirst es sehen.“

Die strahlende Sonne erwärmt die Seelen der Menschen und die bunten Bootsrümpfe reflektieren das Glitzern des Wassers. Hunderte strömen an diesem Nachmittag ans Meer, um auf dem Malecón zu flanieren. Nur Enrique und Mariposa kommen nicht.

* * *

Pirro schiebt seinem Freund die Flasche Ron Mulata über den Tisch.
„Hast du wieder Krach mit Quela“?
„Si. Sie hat gestern mir und Mariposa eine gute Gelegenheit versaut.“
„Worum geht es? Sag schon!“
Enrique nimmt einen kräftigen Schluck und berichtet seinem Kumpel von den Begegnungen mit dem fremden Ehepaar und über das geplante Treffen am Malecón.
„Quela ist sauer geworden und sie droht mich zu verlassen, wenn es diesmal wieder nicht klappt.“
„Du meinst mit der Lizenz für den punto de venta?“
„Ja. Wie du weißt, haben wir eine Garage in Aussicht, von der aus wir Gemüse und Früchte verkaufen können.“
Er sieht, wie Pirro die Lippen kräuselt.
„Hör zu, Enrique, ich muss Raquel recht geben. Wenn nur der geringste Zweifel an deiner parteipolitischen Gesinnung aufkommt, bist du die Lizenz los, bevor du sie hast. Es wäre einfach zu riskant, dich mit Touristen im Freien zu treffen.“
„Mag sein. Aber erstens wollte ich Mariposa diesen kleinen Gefallen tun und zweitens hat man mir schon als Kind eingetrichtert, dass ich ein Versprechen zu halten habe. Auch wenn es wie in diesem Fall nur Yumas sind.“ Pirro lacht gequält auf, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf.
„Du bist großartig. Vor siebzig Jahren hat unser heroisches Trio deinen und meinen Eltern die Wiederherstellung der demokratischen Grundrechte versprochen … Vor sieben Jahrzehnten, Amigo. Und wo stehen wir heute?“
Enrique schlägt mit der Faust auf den Tisch und seine Pupillen weiten sich. „Verdammt, es genügt. Ich habe dich verstanden und Quelas Argumente ebenso.“ Zerknirscht tastet er mit der linken Hand in seiner Hosentasche nach Ferdis Visitenkarte, während er mit der anderen erneut zur Flasche greift.
„Ich habe es begriffen!“

 

 

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