Von Sven Palapies
Als ich noch ein Kind war, las ich gerne im Guinness Buch der Rekorde. Am meisten beeindruckte mich ein Rekord, den ein Mann namens Osborne aufgestellt haben soll und über den ich in all den Jahren, nachdem ich zum ersten Mal darüber gelesen hatte, immer wieder nachdenken musste. Der aus Iowa stammende Landwirt Charles Osborne litt Jahre lang unter einem Schluckauf, der ihn im Jahr 1922 beim Wiegen eines 350 Pfund schweren Schweines befallen und seither nicht mehr losgelassen hatte. Beim Hochwuchten des zur Schlachtung vorgesehenen Tieres sei er nach eigenen Angaben gestürzt, wodurch er sich eine Hirnverletzung zugezogen habe, was, nach Meinung seines Arztes, für den unüberwindbaren Hickser verantwortlich gewesen sein soll. Etwa 40 Mal in der Minute meldete sich dieser Quälgeist und peinigte seinen Wirt sage und schreibe 68 Jahre lang mit einer beispiellosen Beharrlichkeit, ehe er ein Jahr vor seinem Tod im Jahre 1991 plötzlich von ihm abließ und verschwand. Während der schätzungsweise 430 Millionen Hickser gelang es Charles Osborne jedoch, ein relativ normales Leben zu führen. Eigentlich unvorstellbar. Zwar war er aufgrund seines Handicaps gezwungen, sein Essen in einem Mixer zu zerkleinern, damit es beim Schluckauf nicht wieder oben rauskam. Dennoch war er verheiratet und zeugte acht Kinder. Wie mit acht Kindern ein normales Leben möglich sein soll, verriet das Buch nicht.
Da ich dazu neige, auch den tragischsten Geschichten etwas Komisches abzugewinnen, versuchte ich mir als Heranwachsender vorzustellen, wie sich der Geschlechtsverkehr von Mr. Osborne mit seiner Gattin wohl gestaltet haben mag, während all der Schluckaufe (oder Schluckaufs?), und wie oft sich wohl sein Schluckauf während seines Orgasmus` gemeldet hatte. Zehn Mal bestimmt. Bei aller Kuriosität, diese Geschichte machte mich betroffen, auch wenn ich nur erahnen konnte, wie sehr das Leben von Charles Osborne durch die Verkrampfungen seines Zwerchfells beeinträchtigt wurde. Das war früher so. Mittlerweile habe ich jedoch, bedauerlicherweise, eine ziemlich genaue Vorstellung von seinem Leid, da ich seit nunmehr 18 Jahren unter ganz ähnlichen Beschwerden leide wie er. Etwa alle 10 Minuten drängt sich mir ein unwiderstehlicher Würgereflex auf, der genauso wie der Schluckauf des Landwirts aus Iowa nicht mehr verschwinden will. Alle 10 Minuten habe ich einen Würgereiz, der sich meiner Kontrolle entzieht.
Angefangen hatte alles während der Beerdigung eines Nachbarn von mir, zu dessen Ehren der Pfarrer in der Kirche eine salbungsvolle Rede hielt. Von einem treusorgenden Gatten war die Rede, einem Mann, der mit seiner Lebensfreude seine Mitmenschen angesteckt habe und an den man sich habe wenden können, plagten einen Kummer und Sorgen. Einem Mann, der im wahren Leben jedoch – das muss die Witwe dem Mann Gottes verschwiegen haben – seine Frau windelweich prügelte, wenn er sturzbetrunken vom Dorffest oder vom Stammtisch in der Dorfkneipe nach Hause kam. Der trotz aller ihm attestierten Lebensfreude seine Verachtung für alles ihm Fremde nicht verhehlte und den Stammtisch als Forum nutzte, seine eigenen Sorgen zum Ausdruck zu bringen. Vor allem seine Sorge darüber, dass das Dorfleben zum Teufel gehen würde, würden, wie vom Bürgermeister verkündet, Asylanten hier in naher Zukunft sesshaft werden. Ich weiß nicht mehr, was genau an der Rede das Würgen ausgelöst hatte, ein einzelnes Wort, ein Satz, das betroffene Gesicht des Pfarrers oder sein bedeutungsschwangerer realitätsferner Sermon insgesamt. Was ich weiß, ist der Umstand, dass ich mich damals darüber wunderte, dass mir trotz Würgens gar nicht schlecht war. Ich musste mich auch nicht übergeben, es war lediglich der Würgereiz, der mich in die Mangel nahm. Mein Frühstück war fast verdaut, nichts berührte Zunge oder Gaumen, er schien aus dem Nichts zu kommen. Und er blieb. Und mit ihm das Geräusch, das jeder kennt, der sich mal übergeben hat. Das Geräusch, das in dem hohen Gewölbe der Kirche und in der andächtigen Stille des Gottesdienstes ganz besonders zur Geltung kam. Der Pfarrer unterbrach mit einem Stirnrunzeln und einem strafenden, auf mich gerichteten Blick seine Laudatio, meine Frau flüsterte mir ins Ohr, ob mit mir alles in Ordnung sei, und die übrigen Trauergäste seufzten und scharten ungeduldig mit den Füßen. Als ich zum dritten Mal würgen musste, sprang ich auf, beugte mich über das Weihwasserbecken, da ich befürchtete, mich gleich über den Marmorboden des Gotteshauses zu erbrechen und bellte hinein. Doch mein Mageninhalt blieb da, wo er bleiben sollte: im Magen. Auf der Heimfahrt – den Leichenschmaus sparte ich in der Erwartung aus, Schweinebraten mit Klößen und Rotkraut vorgesetzt zu bekommen – würgte ich weiter munter vor mich hin. Am nächsten Morgen konsultierte ich meinen Hausarzt, der mit einem Spatel meine Zunge niederdrückte und in meinen Rachen schaute. Er überwies mich an einen Gastroenterologen, der eine Magenspiegelung durchführte. Ein Neurologe schließlich untersuchte jene Hirnnerven, die am Zustandekommen des Würgereflexes beteiligt sind. Niemand fand etwas. Der Würgereflex traktierte mich weiterhin alle 10 Minuten. Sogar im Schlaf soll ich laut meiner Ehefrau ohne Unterlass gewürgt haben, so dass sie mitten in der Nacht regelmäßig wach wurde, ehe sie mich zum Schlafen ins Wohnzimmer verbannte.
In meiner Verzweiflung begann ich eine Therapie bei einem Psychoanalytiker, der mich bat, in horizontaler Position über meine Kindheit zu sprechen, meine Beziehung zu meinen Eltern zu erläutern und zu schildern, wie ich bisher versucht habe, meine sexuellen Sehnsüchte auszuleben. Er wühlte hartnäckig in meiner Vergangenheit, drehte jeden Stein um, bohrte ganz tief im Morast meiner Erlebnisse und Träume, ehe er mir in der 127. Sitzung mit einer beispiellosen Selbstgewissheit und nicht ohne Stolz seine Schlussfolgerung präsentierte. Mein zwanghaftes Würgen sei, seiner fachlichen Expertise nach, als Symptom meines Selbstekels zu verstehen, als vergeblicher Versuch, mich meines Innersten, womit im übertragenen Sinne mein Wesen gemeint sei, zu entledigen. Zudem gebe es deutliche Hinweise, dass in der oralen Phase nicht alles rund gelaufen sei, auch ein sexueller Missbrauch mit Zwang zum Oralverkehr müsse er, so leid es ihm tue, in Erwägung ziehen. Mein Hinweis, ich könne mich an einen solchen gar nicht erinnern, tat er mit der Bemerkung ab, das sei nicht verwunderlich, schließlich entspreche es dem Wesen unseres Abwehrmechanismus` der Verdrängung, alles zu tun, um solche traumatischen Erfahrungen im Unterbewusstsein zu verwahren. Hierfür sollte ich dankbar sein. Eine Antwort auf meine letzte Frage, aufgrund welcher Äußerungen meinerseits er denn zu der Deutung gelangt sei, ich sei als Kind Opfer einer Vergewaltigung, blieb er mir schuldig mit dem Hinweis, die Zeit der Sitzung sei nun abgelaufen und die Sitzung selbst die letzte der Therapie. Ratlos und vor mich hin würgend verließ ich die Praxis und ging nach Hause.
So gingen die Jahre ins Land. Ich würgte im Büro, beim Wasserlassen, beim Fernsehen (wobei ich den Eindruck hatte, dass die Häufigkeit bei Polit-Talkshows zu-, bei Tierdokumentationen hingegen abnahm), anfangs auch im Restaurant, später dann nicht mehr, weil ich mit meinem Würgen und dem dazugehörigen Geräusch den anderen Gästen den Appetit verdarb und aus diesem Grund samt Ehefrau von den Kellnern höflich, aber bestimmt aus dem Lokal hinauskomplimentiert wurde. Bei einer Polizeikontrolle erregte ich den Verdacht der Beamten, die mich zunächst aufgrund eines defekten Bremslichts angehalten haben, ich wäre betrunken und zwar in einem Maße, dass ich drauf und dran wäre, mich vor deren Füße zu übergeben. Würgend zeigte ich ihnen meinen Führer- und meinen Fahrzeugschein und ließ sie schließlich stirnrunzelnd zurück mit ihrem Alkoholtestgerät, das null Promille anzeigte. Den ehelichen Geschlechtsverkehr stellten wir in beiderseitigem Einvernehmen ein. Es sei ihr, meiner Frau, nicht zuzumuten, in mein würgendes Gesicht schauen beziehungsweise, in Positionen ohne Blickkontakt, das Würgegeräusch hören zu müssen. Eigentlich wisse sie, dass sie es nicht persönlich nehmen dürfe, doch sie könne nicht anders.
Ein unentwegt würgender Mensch scheint für seine Mitmenschen eine ungeheure Belastung zu sein. Ich kann das verstehen und bedauerte zutiefst, daran nichts ändern zu können. Ich bedauerte dies, denn ich bin voller Hoffnung, dass sich mein Würgereiz nun verabschiedet hat. Seit gestern nämlich muss ich nicht mehr würgen. So ähnlich wie bei Charles Osborne, der ihn ein Jahr vor seinem Tod … ich will gar nicht dran denken. Ich hoffe nicht, dass sich mein Würgereiz zugunsten meines herannahenden Todes verflüchtigt hat. Aber ein Jahr ohne zu würgen ist eine solch` verlockende Vorstellung, dass das Jahr sicherlich wie im Fluge vergehen wird.