von Hajo Nitschke

Heiligabend 2016

 

Obwohl der eisige Wind eine Atempause einlegt, fröstelt es mich. Ringsum illuminieren winzige Lichter den Friedhof, und auch zu meinen Füßen glimmt der kleine, rötliche Schein. ‚Die Toten ruhn, aber mir ist, als würden sie mich von allen Seiten her beobachten. Wir wissen Bescheid, raunt es aus der Erde. Was wisst ihr schon, denke ich.

 

 

April 2014

 

„Herr Bollmann?“

„Ja. Was haben Sie für mich?“

„Einschreiben mit Rückschein. Bitte hier quittieren“

Schwungvoll unterzeichnete der Empfänger: „Sauwetter! Wollen Sie nicht auf ’nen Sprung reinkommen, Frau …?“

„… Weiß. Vielen Dank, aber ich will Ihnen keine Pfützen in die Bude tragen.“

„Halb so schlimm, kommen Sie, ich mach uns Kaffee. Übrigens, ich bin der Rainer. Rainer Bollmann, und Sie können ruhig Du zu mir sagen. Weil, ich werde noch häufig Ihr Kunde sein. Ich meine, Ihr Postkunde. Außerdem könnte ich Ihr Sohn sein.“ Der freundliche offene Blick wirkte … anziehend. Sieht verdammt gut aus, der Junge, musste sie sich eingestehn. So um die Dreißig, etwas größer als sie selbst, schlank, aber dem festen Händedruck nach kein Schwächling. Abgetragene Jeans, Rolli, braune Locken ungebändigt in der Stirn. Sie trat zögernd ein.

„Aber nur’n Augenblick, ja?“

 

Er nahm ihr die durchweichte Uniformjacke ab und warf sie über die Wanne im Badezimmer, wo er ihr ein Handtuch reichte: „Sie könnten glatt ein Trockendock vertragen, Frau Weiß“, lachte er, und sie tat, als bemerkte sie nicht, dass das Handtuch kein frisches mehr war. Ein eigenartiges Gefühl, sich mit dem selben Tuch abzutrocknen, das dieser Bursche vorher wer weiß für welchen Körperteil benutzt hatte! Eigenartig ja, aber auch so prickelnd, dass es sie überraschte.

 

Sie sah sich um. Keine Premiumqualität, aber auch nichts vom Sperrmüll. Bücherregal, Couch und Sessel. Gerade noch Platz für ein Bett, eine winzige Single-Kochecke und einen kleinen Tisch, darauf Bollmanns (ach ja, Rainers)  Laptop. Und eine Flasche Wein – Rotwein von der Mosel, aha. Das Tischtuch sauber. Kein Aschenbecher, es fehlte auch der typische Nikotingeruch (dicker Pluspunkt!). Zwei Stühle, auf die sie sich niederließen. Der Kaffee dampfte, sie nippte vorsichtig.

Damit hatte alles begonnen

 

 

***

 

 

Weihnachten 2015

 

Wen oder was sehe ich, fragte sie sich mit kritischem Blick in den Spiegel. Der Busen noch recht ansehnlich, aber sonst? Strähniges Blondhaar angegraut, in zartem Pink nachgezogene Lippen alles andere als sexy oder sinnlich, blaugraue Augen, die durch Mascara nicht ausdrucksvoller wurden. Die Falten um den Mund und am dürren Hals ließen sich durch kein Rouge verbergen. Eine abgearbeitete Fünfzigjähigge, aber Rainer liebte sie. Daran bestand kein Zweifel.

 

„Bleib. Bitte, bleib!“, hatte ihr Mann zuletzt, nach monatelangem Wechselbad aus Wut und Trauer, gestammelt, er tat ihr leid. Herbert war ein guter Ehemann, in mehr als zwanzig Ehejahren immer treu. Auch wenn sie schon lange nicht mehr miteinander schliefen, spürte sie doch, dass er sie noch liebte. Das machte den Abschied nicht leichter. Aber sie wusste um ihr reines Gewissen: Liebe war höhere Gewalt, daran war nichts zu ändern, sie war schuldlos. Sie blickten einander beide im Spiegel an. Schweigend, er Tränen in den Augen, die Hände ausgestreckt, als wollte er sie aufhalten. Doch sie drängte sich an ihm vorbei und stieg mit nichts als zwei Koffern ins wartende Taxi.

Allzu lang würde die Fahrt nicht dauern, aber Zeit genug, das Mitgefühl mit Herbert gegen jubelnde Vorfreude auf Rainer, den künftigen neuen Mann an ihrer Seite, zu tauschen. Und auch Zeit für einen Rückblick.

 

 

Welch aufregende Erfahrung das gewesen war, als es zwischen beiden knisterte. Welch lang entbehrte Gefühle, als aus dem Knistern Funken wurden, die Schmetterlinge im Bauch ein Eigenleben aufführten. Als sie einmal heimlich einen von ihm achtlos liegen gelasssenen angebissenen Apfel an die Lippen führte. Wer hatte es zuerst gesagt, dieses Ich-liebe-dich? Sie wusste es nicht mehr. Was sie wusste: er liebte sie wegen ihres inneren Reichtums, Äußerliches und Altersunterschied waren ihm, dem – Herbert zufolge – ’schamlosen Nichtsnutz‘, diesem ‚abgehalfterten Studenten‘, unwichtig. Hatte sie  sich anfangs noch gefragt, ob ihn mehr als nur die „mütterliche Komponente“ anzog, ob es ihre Brüste waren oder was sonst, so verzichtete sie in Rainers Armen längst auf jede Antwort, überließ sich ganz der Führung einer höheren Macht, ‚Liebe‘ genannt.

 

Gerührt erinnerte sie sich daran, Rainer dabei ertappt zu haben, wie er an sich selbst adressierte Postsendungen anfertigte: daher also die vielen Zustellungen, die sie so oft zu ihm geführt hatten. Er hatte stockend sein Geheimnis preisgegeben: die Gleichgültigkeit gegenüber jüngeren Frauen,  den Hang zu älteren. „Das war Monika, meine große Liebe“, hatte er auf ein Foto mit Trauerflor gewiesen, welches eine ältere Blondine zeigte. „Krebs“, hatte er traurig hinzugefügt, sie hatte ihn in den Arm genommen, gestreichelt, bis er sich an sie schmiegte. Küsse, immer heißere, waren die Folge und nun war Edelgard die neue Monika. Es machte ihr nichts aus. Sie war bereit, sich hinzugeben, aber Rainer nahm in seinem Edelmut Rücksicht auf ihren Mann. „Du bist noch bei ihm, Liebste“, gab er zu bedenken, „Ja, wenn du dich trennen würdest …. Wenn wir zusammenleben würden … Aber hier, in dieser winzigen Spelunke …? Das ist deiner nicht würdig, Ele.“

 

Von ihren Dienstbezügen kaufte sie ihrem Geliebten nach und nach teuren Mosel-Rowein, eine neue Polstergarnitur, einen größeren Fernseher und einen neuen Laptop. Sie vermaß das kleine Bad und schaffte es, dass eine Waschmaschine hineinpasste, die sie bezahlte. Aber irgendwann sah sie ein, dass es so nicht weitergehen konnte, ihr Verlangen nach diesem Menschen war zu stark. Und so unterschlug sie Geldsendungen und bestahl Herbert, bis sie eine größere Summe beisammen hatte.

Von Jahren hatte sie das kleine Einfamilienhaus der Eltern geerbt. Herbert und sie wohnten selber im Eigenheim und hatten das geerbte Haus leerstehen lassen, da es renovierungsbedürftig war. Einmal würden sie es instand setzen und dann sollte es der gemeinsamen Tochter Ute gehören, die momentan eine Straße weiter bei ihrem Freund wohnte.

 

Edelgard hatte lange mit sich gerungen, aber die Sehnsucht nach Rainer gab den Ausschlag. Mit dem gestohlenen Geld hatte sie jenes Haus aus dem Dornröschenschlaf erlöst, es bewohnbar gemacht, um es anschließend mit notarieller Schenkung ihrem Geliebten zu übertragen. Umzug und Aufstockung der Enrichtung waren organisiert, nun stand ihrem Glück nichts mehr im Wege.

Vergessen das Drama mit Herbert und auch die Wut Utes darüber, dass „ihr“ Haus nun einem Wildfrermden gehörte. Mutters Glück war der Tochter schnuppe, sie dache nur an sich. Und ihr Freund erst! Der sah wohl auch seine Felle davonschwimmen. Es hatte schlimme Szenen gegeben, die Edelgard nur in der Gewissheit bestärkten, richtig zu handeln. Ihr Rainer war das alles wert …

 

 

Sie waren am Ziel. Ein kleines graues Häuschen, aber in Schuss und mehr als ausreichend für sie beide. Ab jetzt die ersehnte Heimat. Edelgard klingelte und schob sich, als er öffnete, freudestrahlend mitsamt ihren Koffern an Rainer vorbei. Er folgte ihr in das geräumige, anheimelnde Wohnzimmer, wo sie die Arme ausbreitete und „Da bin ich, Liebster, frohe Weihnacht!“ rief.  Sie konnte es kaum erwarten, ihn an sich zu ziehen, aber es kam anders. Rainer Bollmann fixierte sie eiskalten Blickes und zischte: „Raus aus meinem Hasus!“. Für Edelgard brach eine Welt zusammen. In seinem Gesicht las sie nur Spott und Aussichtslosigkeit. Eine Maske war gefallen, ihre Liebe mit Füßen getreten. Vorbei! Und deshalb hatte sie Mann und Tochter verraten …

 

Später stand sie vor Utes Tür.und wusste nicht, wie sie dorthingekommen war. „Alles aus, er hat mich nur benutzt, Ute. Verzeih mir. Kann ich erstmal bei euch wohnen?“ Aber Ute verzieh nichts und wies der weinenden Mutter die Tür. Dann schleppte Edelgard sich mit ihirem Gepäck nach Hause.  Zu Herbert, den sie so schnöde behandelt hatte. Der  sie ohne Fragen zu stellen hineinließ. Ihm in die Augen zu sehen wagte Edelgard nicht.

 

 

***

 

 

Heiligabend 2016

 

 Der Friedhof schließt in Kürze. Hörst du, rede ich sie an, es tut mir leid. Dass du dich aus Verzweiflung und Scham vor den Zug geworfen hast, ist auch meine Schuld.  Ein Jahr ist es her, aber ich schäme mich immer noch.

Komm, lass uns gehen, Ute, sagt Vater.

 

 

 

It’s nothing to tell about, it’s nothing to picture out, and the only thing special is, it’s home.

(The little gray house, aus Lost in the stars, Kurt Weill)

 

 

 

(C)Hajo Nitschke –  V3