Von Marcel Porta

Meine Damen und Herren,

alle Welt spricht von diesem Bild. Und es ist nicht zu leugnen, dass Herrn Dr. Charles Latan, Historiker an unserer Universität, höchste Anerkennung für das Aufstöbern dieser Rarität gebührt. Es ist mehr als siebenhundert Jahre alt und war all diese Jahrhunderte in den Untiefen der historischen Asservatenkammer in Luna Univer-City vergraben. Solche Zeitzeugnisse mit Abbildungen der damaligen Menschen sind äußerst selten, denn als wir die Erde völlig überstürzt endgültig verlassen mussten, waren andere Dinge von Bedeutung als solche Abbildungen. Doch damit erzähle ich ja niemandem etwas Neues.

Mit dieser Reminiszenz an die Findigkeit des Herrn Dr. Latan  ist der Ehre aber entschieden genug getan. Denn wenn ich seine Interpretationen dieses Bildes betrachte, schwanke ich zwischen ungläubigem Staunen über so viel blümenden Unsinn und Entrüstung über die Unverfrorenheit, solchen – bitte entschuldigen sie den Ausdruck – geschissenen Schwachsinn als wissenschaftliche Erklärung zu verkaufen.  

 

Selbstverständlich kann das Bild hier nicht gedruckt werden, es ist entschieden zu obszön. Wer es betrachten will, muss sich in die Universitätsbibliothek bemühen und den Raum für anstößige historische Darstellungen aufsuchen. Doch es sei jeder Besucher eindrücklich vor der ekelerregenden Darstellung  gewarnt. Eine kurze Beschreibung soll verdeutlichen, warum ich diese Warnung ausspreche. 

Nicht nur, dass sich darauf zwei Menschen berühren, was ja schon ordinär genug wäre. Nein, die beiden drücken sogar ihre Lippen aufeinander. Das kann sich niemand vorstellen, ohne dass es ihn vor Ekel schüttelt. Sich vorzustellen, wie viele Milliarden an Mikroorganismen dabei den Träger wechseln! Wir wissen, dass das Bild etwa aus dem Jahre 2020 stammt, dem Zeitalter der Fake-News also, und ich bin überzeugt, dass es sich dabei nicht um die wahrhafte Abbildung eines Geschehens handelt (es ist kein Foto!), sondern um ein gemaltes Fake, das provozieren soll. Sicher hat sich auch damals schon dem Betrachter des Bildes der Magen umgedreht.

Dr. Latan behauptet nun, die Darstellung sei ein Ausdruck der Liebe, der die beiden Menschen verbindet. Abwegiger kann eine Erklärung nun wirklich nicht sein. Allerdings liegt das hauptsächlich daran, dass Herr Dr. Latan eine unsinnige und falsche Definition von Liebe liefert.

Nach seinen völlig abstrusen Vorstellungen (seit der Erklärung des Frühlings hat er wohl nie mehr so daneben gelegen) handelt es sich bei Liebe um eine spezielle Art von Sexualität, welche die damaligen Menschen in wilden Orgien auslebten. Wobei er wieder nur ein Wort, das wir nicht mehr benutzen, durch ein anderes erklärt, das uns genauso fremd ist. Orgien kann man sich heute in etwa so vorstellen, dass mehrere Menschen ihren Big Masturbator gemeinsam benutzen. Also ganz sicher etwas, das es nie gegeben hat. Denn wer würde seinen Big Masturbator jemals mit anderen teilen? Das wäre genau so, als würde jemand seine persönliche Toilette …, nein, das führe ich jetzt nicht aus, das wäre zu unappetitlich. Es gibt Dinge, die teilt man einfach nicht!

Der gesunde Menschenverstand zeigt also schon, dass Latans Interpretation der Liebe und insbesondere des von ihm aufgefundenen Bildes jeder Grundlage entbehrt. Zudem ist es inzwischen längst allgemein anerkannte These, dass es die Liebe war, derentwegen wir hier auf dem Mond festsitzen und die Erde zu einem unbewohnbaren Klumpen geworden ist. Die damaligen Menschen waren aus heute nicht mehr erfindlichen Gründen aufgesplittet in sogenannte Nationen und diese konkurrierten miteinander. Jeder hielt seine eigene Nation für die beste, wichtigste, allen andere überlegene, und diese Einstellung nannte man Liebe. Wegen dieser Liebe also kam es zum alles vernichtenden Krieg und sie machte die Erde innerhalb weniger Tage auf immer unbewohnbar.

Die verfluchte Liebe hatte also mit Sexualität überhaupt nichts zu tun.  Dass dieser Herr Dr. Charles Latan sich auch immer mit seinen abartigen Interpretationen so weit von der gängigen Lehrmeinung entfernen muss! Liebe und Sexualität in einen Becher zu werfen, da kann man ja auch gleich Pornografie und Sodomie durcheinanderwerfen (was dieser Scharlatan wirklich getan hat). Dabei weiß doch jeder halbwegs historisch gebildete Bewohner von Luna, dass Pornografie auf das neunzehnte Jahrhundert begrenzt war und nur Einwohner der Weltstadt Paris dahinraffte, während Sodomie erst im einundzwanzigsten Jahrhundert auftrat und das postfaktische Zeitalter einläutete.

Aber ich will hier gar nicht weiter die Irrtümer dieses Herren ausräumen, das wird die Zeit für mich erledigen. Nein, ich will Ihnen die wahrhaftige Bedeutung dieses Bildes aufzeigen, und damit darlegen, dass auch ein blindes Ei manchmal ein Huhn finden kann (eine Redewendung aus dem frühen 20. Jahrhundert, die den Sachverhalt hervorragend widergibt).

Selbst damals, in diesen rückständigen Zeiten, wurde die Fortpflanzung schon mittels Fertilitätsdrohnen vorgenommen. Direkten sexuellen Kontakt gab es genau so wenig wie heute, zumal die Bakterien und Viren damals weitaus gefährlicher und weiter verbreitet waren. Allerdings war es noch nicht wie heute verboten, sich näher als einige Zentimeter zu kommen oder sich gar zu berühren. Die Ganzkörperfrühwarnsysteme waren noch nicht erfunden, also mussten die damaligen primitiven Menschen selber darauf achten, sich nicht zu nahe zu kommen. Vor allem den Kindern musste man beibringen, dass körperlicher Kontakt etwas Schlechtes und unbedingt zu vermeiden war. Unsere Kinder saugen das mit der Drohnenmilch auf, doch man muss sich immer die damaligen Umstände vor Augen halten. So ging man dazu über, drastische Abbildungen als Warnhinweise zu verwenden. Sie mussten einerseits eingängig sein, sodass auch Kinder sie verstehen konnten, anderseits so abstoßend, dass die Ekelgefühle sich einprägen mussten. Wie gut, dass wir heute nicht mehr zu solch widerwärtigen Methoden greifen müssen, wenn wir ein erwünschtes Verhalten etablieren oder ein unerwünschtes eliminieren müssen. Konditionierung ist doch so viel einfacher geworden als damals, der Chemie sei dank!

Dieses Bild ist also keine Abbildung eines Ereignisses oder Erlebens, wie uns Herr Latan weismachen will, sondern gewissermaßen ein hochgehaltenes Verbotsschild, das jedem damaligen Menschen sofort verständlich war. Auch heute noch versteht jeder diese Botschaft, auch wenn die Drastigkeit längst nicht mehr angemessen ist.

 

Da ich gerade schon mal dabei bin, die Interpretationskünste dieses “Wissenschaftlers” zu zerpflücken, möchte ich noch kurz auf seine Interpretation des sogenannten Stillens eingehen. Es ist ein Wort, das uns im Zusammenhang mit Kindern des Öfteren in Texten aus dem 20. Jahrhundert begegnet. Wie der Wortstamm schon sagt, geht es darum, die Kinder zu beruhigen, sie still zu bekommen. Was uns heute mittels der entsprechenden Nahrungsmittelzusätze ohne weiteres gelingt, war damals ein Problem, dem man irgendwie zu Leibe rücken musste. Wer sich schon mal aus wissenschaftlichen Gründen künstlich induziertem Kindergeschrei ausgesetzt hat, weiß genau, wovon ich rede.

Soweit sind Herr Latan und ich uns einig. Doch dass er allen Ernstes behauptet, man habe dazu sogenannte Schnuller benutzt, von denen gerade mal zwei die Reise zum Mond angetreten haben und deren Funktion durch das feste Saugen eines Kindermunds in Gang gesetzt worden sein soll, ist lächerlicher als ein rohes Ei, wie man früher zu sagen pflegte. In Wirklichkeit wurde auch damals schon mittels der Nahrung dafür gesorgt, dass die Kinder ruhig blieben. Allerdings wurde dazu nicht das völlig unschädliche Sedipais verwendet, sondern dem Babybrei wurden geringe Mengen Äthylalkohol zugesetzt. “Stille mit Promille”, wie ein geflügeltes Wort aus dem 21. Jahrhundert besagt.         

 

Ich komme nun zum Ende meiner Ausführungen, und ich möchte betonen, dass es mir in diesem Artikel keineswegs darum ging, meinen geschätzten Kollegen Dr. Charles Latan mangelnder Wissenschaftlichkeit zu überführen oder ihn gar der leichtsinnigen Behauptung falscher Tatsachen zu bezichtigen, obwohl der Eindruck durchaus aufkommen könnte. Nein, in erster Linie fühle ich mich der Wahrheit verpflichtet und kann solchen kindischen Unsinn nicht unkommentiert belassen. Und so meine ich, obwohl es dafür bisher keinen Präzedenzfall gibt, der oberste Wissenschaftsrat sollte durchaus einmal über ein Publikationsverbot nachdenken, damit ernsthafte Wissenschaftler nicht ihre wertvolle Zeit damit zubringen müssen, solchen Hanebuch zu widerlegen. 

 

Professor Dr. Wi N‘ Dei, erster und führender Historiker in Luna Univer-City, gegeben am 20.12.2703

 

 

© Marcel Porta, 2017

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