Von Anne Zeisig

„Wer will mit der Bildbeschreibung anfangen? Freiwillige?“, fragte Herr Lühters-Hellmreich die Schüler und Schülerinnen der Klasse Sieben B. Seine Stimme klang recht lahm, denn er wusste, was nun folgen würde.

Keine Wortmeldungen. Desinteresse.

Stattdessen Getuschel in den hinteren Reihen.

 

„Der Lüthi-Ha. Wieder die reinste Schlaftablette.“ Chantall gähnte, dann blickte sie in den kleinen Handspiegel, zupfte ihren Haarpony zurecht.

 

„Hat seine Alte heut Nacht bestimmt wieder durchgebumst.“

 

„Roger-Wilhelm? Du willst also der Erste sein! Bitte! Wir hören!“ Auf die obszöne Bemerkung reagierte er nicht, wollte sich nicht provozieren lassen.

 

Der Schüler erhob sich wie in Zeitlupe und streifte noch langsamer die Kapuze von seinem Sweat-Pulli hinunter, hielt den Kopf bei seinen Ausführungen gesenkt.

„Dieses Schwarz-Weiß-Bild is von äh, ‘nem männlichen Maler, den kenn ich aber nich. Müsst ich nochma nachgoogeln. Gefällt mir aber nich, taugt nix für Facebook, keine Farben zu seh’n, keine Titten, deshalb keine Likes.“

 

„Mehr fällt dir nicht dazu ein?“ Die Lehrperson rückte die schwarze Nerd-Brille zurecht und setzte sich auf die Kante vom Lehrertisch.

 

„Doch. Erst knutschen die wie wild auf dem Bild, stecken sich die Zungen bis in den Hals“, er nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn unter den Tisch, „und danach geht es ab in die Kiste zum Vö…“

 

„Danke! Das reicht!“, unterbrach der Lehrer den Schüler, der sich grinsend setzte.

 

Chantall warf ihren Spiegel auf den Tisch. “Mensch Roggi, du bis total abgepeilt! Das sind Typen von früher, mindestens Mittelalter, als mein Oppa und die Omma noch jung war’n! Das siehste an den Haaren! Kein Mensch traut sich heute mit solchen Frisuren Out-Door!“

 

Roger-Wilhelm steckte sich einen neuen Kaugummi in den Mund. „Wenn das so lange her is, lebt der Maler nich mehr, dann kann ich den nich kennen. Muss ‘n Depri-Typ gewesen sein, weil der nur schwarze Farbe nimmt.“

 

Allgemeine Unruhe kam auf.

 

„Das is doch der mit dem appenem Ohr!“

 

„Aber zu dem seiner Zeit gab es doch schon alles in Farbe!“

 

„Dat is doch der mit den Sonnenblumen aus Frankreich!“

 

„Neee! Belgien!“

 

„Quatsch! Der Viktor von Koch kommt aus Holland! Der hat die Sonnenblumen so gelb angemalt, weil der Gouda auch so gelb aussieht!“

 

„Könnte passen! Mittelalter Gouda!“

 

„Der war nich depri, der war bekloppt! Hat wegen Trinitas sein Ohr abgesäbelt!“ Ravanna war stolz auf ihr Hintergrundwissen.

 

„Leute! Ruhe!“, Herr Lühters-Hellmreich klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch, und sagte dann ruhig zu Ravanna: „Tinitus. Da hört man ständig ein Pfeifen aus dem Innenohr. Jaaaaa, das kann verrückt machen. Besonders nachts, wenn der Dauerton nicht von Umweltgeräuschen übertönt wird.“

 

Die Schülerin blickte in die Runde, setzte sich aber enttäuscht hin, weil keine anerkennenden Kommentare von der Klasse folgten. Dennoch nickte sie allen zu. „Ich hab ‘s gewusst!“

 

„Streberin“, zischte Chantall.

 

„Ihr meint Vinzent van Gogh, jaaaa, der hat Sonnenblumen gemalt, eines seiner berühmten Gemälde, neben seinem Selbstbildnis, aber weder bei dem einen noch bei dem anderen stand der Gouda Modell.“ Nun lächelte er, ein bißchen Freundlichkeit kann nicht schaden, dachte der Pädagoge.

 

„Merkste? Lüthi-Ha wird wach“, säuselte Roger-Wilhelm.

 

„Halt die Klappe Roggie!“, regte Ravanna sich auf und warf ihrem Mitschüler ihr Lineal hinüber. „Du musst alles in den Dreck zieh’n! Die da auf dem Bild, die küssen sich innig!“ Sie seufzte theatralisch. „DAS ist wahre Liebe! Voll geil romantisch!“

 

Alle  kicherten. Chantall presste ihre Handflächen auf die linke Brustseite und schmatzte mit gespitzten Lippen Küsse in die Luft.

 

„Kitschnudel! Kitschnudel! Kitschnudel!“, erklang es im Chor.

 

Herr Lühters-Hellmreich musste sich abermals Gehör verschaffen.

 

„Mensch Leute! Ihr solltet das Bild und die Hintergründe gründlich recherchieren! Es gibt nicht nur Suchmaschinen! Die Bücherei ist auch in der Nähe!“

 

„Bücher?“

 

„Aus Papier?“

 

„Wenn ich in mein PC wat Wissenschaftliches eintippen tu, dann, Herr Lehrer, dann kricht meine Festplatte ‘nen Schreck und stürzt ab ins Nir, äh, Nirwa, äh, ins Nirgendo.“ Murat sackte in sich zusammen.

 

„Die nichtvorhandene Festplatte in deinem Kopp?“ Chantall gluckste.

 

Herr Lühters-Hellmreich holte das gerahmte Bild aus seinem Aktenkoffer heraus und stellte es vor sich auf seine Oberschenkel.

 

„Es handelt sich um das Unikat eines handgemalten Filmplakates aus den Zwanziger Jahren. Es existieren keine Aufzeichnungen darüber, für welchen Film es erstellt worden ist. Die Technik ist Tusche auf Reispapier von der Malerin Schütterlin-Selbmacher.“ Und bevor erneut Unruhe entstehen konnte, erhob er seine Stimme nochmals, um der Klasse die Wichtigkeit seiner Ausführungen zu signalisieren. “ Die Malerin ist in der Kunstwelt relativ unbekannt, damals wie heute, jedoch hat das Modern-Art-Museum in London ihr 2014 eine Ausstellung gewidmet, wo man auch noch andere Tuschezeichnungen bewundern konnte.“

 

„Gab es denn damals so wenig Bäume?“, fragte Ravanna.

 

„Bäume?“ Der Lehrer blickte hinaus auf die schneebehangene Vegetation. „Warum fragst du nach Bäumen?“

 

„Weil die Malerin Papier aus Reis genommen hat! Oder kommt die Malerin aus Basmati?“

 

„Basmati?“, nun war Herr Lühters-Hellmreich vollends irritiert.

 

Die Schüler und Schülerinnen lachten.

 

Die Lehrperson hatte sich wieder in Griff. „Die Malerin lebte in Berlin und ist nur vierzig Jahre alt gworden, weil sie im KZ vergast worden ist.“

 

Betretenes Schweigen.

 

„Oh wie schlimm. Aber warum Reispapier?“, wisperte Ravanna leise, kaum hörbar.

 

Der Lehrer rückte abermals seine Brille zurecht.

 

„Tusche zerfliest auf dem Reispapier anders, das war wohl der Grund.“ Genau wusste er das aber auch nicht. Könnte man ja recherchieren. Oder die Kunst-Kollegin fragen.

„Reispapier hat eine feine, aber unregelmäßige Struktur, denke ich, ähnlich wie handgeschöpftes Papier.“ Er machte eine Pause. „Nur feiner halt.“

 

Weil es bereits zum Stundenende klingelte, erinnerte er die Klasse noch an den bevorstehenden Weihnachtsbasar, wo jeder Jahrgang Selbstgefertigtes zum Verkauf als Überraschung fertigen solle. Vom Erlös sollten Tischtennis-Platten angeschafft werden. Oder wenigstens eine. 

 

‘Da können sich meine Pappenheimer mal handwerklich betätigen’, dachte Herr Lühters-Hellmreich, weil er an den geistigen Fähigkeiten zweifelte.

 

Er hatte sich diese sogenannte Brennpunktschule nicht freiwillig ausgesucht, aber seine Frau wollte unbedingt in dieser Stadt, in diesem Viertel ihre Praxis für Logopädie eröffnen. Sie meinte, wegen der Zielgruppe.

 

* * *

 

Während der letzten Tage hatte Herr Lühters-Hellmreich seine Klasse nicht einmal im Werkkeller gesehen.

 

In einer Stunde würde der Basar beendet werden.

Und die Sieben B glänzte durch Abwesenheit.

 

Enttäuscht war er er an den Tischen in der Mensa vorbeigeschlendert und hatte die Werke der anderen Klassen bewundert. Zugegebenermaßen keine Meisterstücke, aber man sah, was die Schüler und Schülerinnen aus den geringen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, gezaubert hatten. Und weil das alles, dem Förderverein sei Dank, recht preiswert veräussert werden konnte, blieb kaum ein Teil unverkauft.

 

Resigniert trank er den lauwarmen Kaffee und nahm einen Bissen des viel zu süßen Kuchens zu sich, die Sieben A war dieses Jahr für die Bewirtung zuständig, und der Kollege Mühlenhaupt hielt bereits die Laudatio auf seine Klasse, weil der Kassensturz einen Reinerlös von zweihundert Euro ergeben hatte, da stürmte die Sieben B in die Mensa auf die Bühne.

 

Mühlenhaupt stieß ihn an, damit er aus seiner Lethargie erwachte und zeigte zur Bühne: „Sind wohl zu faul gewesen zum Werken, jetzt singen sie uns bestimmt zum Abschluss ‘Ihr Kinderlein kommet’ in der falschen Tonlage vor und gehen hinterher mit dem Hut durch die Reihen.“

Lag da ein Spötteln im Gesicht des Kollegen?

 

Roger-Wilhelm und Ravanna stritten sich zunächst, wer ins Mikrophon sprechen soll, am Ende siegte Ravanna mit den Worten: „Gib mich das Mikro, ich sprech besser Deutsch als du.“

 

„Aber ich hab die Pipimente besorgt!“, jaulte Murat, dessen PC-Festplatte keine wissenschaftlichen Recherchen verträgt und trötete so laut in das Mikro, dass es unangenehm quietschte und sich alle Anwesenden die Ohren zuhielten. „Mein Baba is nämlich Anstreicher!“

 

„Nicht Pipimente“, alle lachten, „Pigmente, Farbpigmente, weil, es ist so, wir habn dieses Schwarz-Weiß-Bild von der Malerin Schütterlin-Selbstmacher, oder so ähnlich“, führte Ravanna nun aus, „wir haben das zigmal kopiert, da küsst ein Kerl seine Tusse, aber früher haben die wohl anders dazu gesagt, also“, ihre suchenden Blicke gingen durch den Saal, „unser Klassenlehrer, Herr Lühters-Hellmreich, kann bestimmt mehr dazu sagen, aber egal, … „

 

Chantall riss ihr das Mikrophon aus der Hand. “Die redet echt wieder Romane, die keiner kapiert. Wir ham jede Kopie von dem Bild, Insider wissen, welches ich mein, wirklich jede, selbst bunt angemalt, Pigmente in Flüssigkeit, oder so, zusammengerührt vorher; wegen der Leuchtkraft. Hat Murats Alter, äh, Vater, gesagt. Jede Kopie is also ein farbiges Urikat.“

 

„Unikat!“, rief Ravanna dawischen.

 

„Und rein damit in ‘Nur-Glas.Rahmen’ für ‘n paar Euros von ‘Woolworth’“, erklärte Murat.

 

„Ham alle auf dem Marktplatz in der West-Stadt verkauft, da, wo die Villen vonne Reichen steh’n!“ Rief Roger-Wilhelm. „Meine Elern ham jedenfalls kein Geld für Bilder anne Wand zu hängen. Nur ein Poster vom BVB.“

 

Ravanna zog ein Bündel Geldscheine aus ihrer schwarzen Kunstlacktasche und wedelte damit herum: „Dreihundert Mucken! Kosten für die Rahmen schon abgezogen!“

 

„Und für ‘s Druckerpapier auch. Allet schon wechgerechnet!“, ergänzte Chantall.

 

Roger-Wilhelm klebte seinen Kaugummi an den Mikroständer und zog sich die Kapuze seines Pullis über den Kopf. „Auf unserem Werbeplakat stand: „Farbpippi, äh, …“

 

„Farbpigmente auf feinstem Holzpapier!“, vollendete Murat den Satz fehlerfrei, „und meine Festplatte hat voll durchgehalten beim Kopieren!“

 

„Der Drucker war ‘s! Der hat nich schlapp gemacht, du Blödie“, zischte Chantall und zupfte ihren Haarpony zurecht.

 

ENDversion