Karl Kieser
Was zum Teufel treibt die da oben?
Dieser Altbau ist wirklich nicht hellhörig. Normalerweise höre ich absolut nichts von meinen Nachbarn. Auch nicht von der Neuen, die vor ein paar Wochen über mir eingezogen ist. Eine junge Frau, die ich bisher nur zwei – dreimal gesehen habe.
Jetzt wieder. Ein Rumpeln und Stampfen, das ganz ungewöhnlich ist. Stellt sie die Möbel um? Das hätte ich dem zarten Persönchen gar nicht zugetraut. Sie muss sich ein paar Berserker fürs Grobe eingeladen haben.
Ich bemerke, dass ich mich in meinem Sessel vorgeneigt habe. Das Buch ist mir auf die Knie gesunken. Den Kopf zur Seite geneigt, versuche ich die Geräusche von dort oben zu identifizieren.
Ruhe.
Schrank und Sofa haben anscheinend endlich einen dauerhaften Platz gefunden.
Ich kuschele mich wieder in meinen bequemen Sessel. Das Buch kommt wieder in Leseposition.
Ich liebe es, ein verregnetes Wochenende mit einem guten Buch in meiner gemütlichen Wohnung zu verbringen. Der warme Schein der Leselampe über dem Sessel hat, wie ein kleines Zelt, die Dunkelheit um mich herum ausgeschlossen. Von draußen trommelt der Regen an die Fensterscheiben. Hier drinnen umschmeicheln mich ruhige Melodien aus dem ganz leise gedrehten Radio.
Wäre ich eine Katze, würde ich jetzt schnurren.
Da, es geht schon wieder los. Stampfen. Rhythmisch. Das sind doch keine Schritte. Hoppst da etwas Schwergewichtiges über den Boden?
Das Buch ist wieder auf meinen Knien. Mit geneigtem Kopf ist das gute Ohr zur Decke gerichtet. Was steckt nur hinter diesen rätselhaften Geräuschen?
Jetzt kann ich auch menschliche Stimmen unterscheiden und die hören sich nicht friedlich an. Sollte ich das ignorieren? Darf ich das ignorieren? Braucht sie vielleicht Hilfe?
Jetzt bin ich doch alarmiert. Es hält mich nicht mehr in meinem Sessel. Unschlüssig, das Buch noch in den Händen, stehe ich im Halbdunkel meines Wohnzimmers. Alles in mir sträubt sich dagegen, Mitbewohner zu belästigen. Ich kenne die neue Mieterin doch gar nicht. Andererseits funktioniert die Hausgemeinschaft. Man achtet aufeinander, aber ohne sich ungebührlich einzumischen.
So ein bisschen Krach ist doch kein Grund die Polizei zu benachrichtigen. Was sollte ich denen auch erzählen? Und was für einen Eindruck würde „das Haus“ von mir haben, wenn ich bei den ersten nicht identifizierbaren Geräuschen gleich die Polizei alarmiere?
Es ist schon wieder vorbei.
Kein Laut mehr. Absolute Ruhe. Mich macht das eher noch unruhiger. Ist da oben unter dem Dach etwas Schlimmes passiert? Müsste ich dem nachgehen?
Nach einer Weile dringen die sanften Klänge aus meinem Radio wieder in mein Bewusstsein. Ich bemerke auch meinen Puls, der sich gerade wieder beruhigt.
Meine Hirngespinste, die in Richtung Mord und Totschlag zielten, hatten sich schon zu einer steilen Klippe aufgetürmt. Die wird nun allmählich wieder eingeebnet.
Alles ist friedlich. Mach dir keine Sorgen.
Die heimelige Umgebung meines Wohnzimmers lockt mich wieder zurück in die kuschelige Lesestimmung. Mein Gewissen, und meine zum Helfersyndrom neigende Einstellung, halten mich noch ein Weilchen sensibilisiert für die Geräusche aus der obersten Etage. Es bleibt aber alles ruhig.
Nach einigem Zögern hat mein Sessel mich wieder.
RUMS!
Das hat mich nun aber buchstäblich aus dem Sessel katapultiert. Etwas Schweres muss über mir auf den Boden gefallen sein. Mein Blick wandert nach oben. Beinahe erwarte ich, dass die Deckenlampe wild schaukelt, aber in meinem Wohnzimmer ist sie an der Decke festgeschraubt.
So geht das nicht weiter. Meine Nerven flattern schon wieder. Das kann ich einfach nicht mehr ignorieren. Ich muss mich wenigstens vergewissern, dass da oben alles in Ordnung ist.
In meinem legeren Freizeitdress mache ich mich schneidig auf den Weg.
Im Treppenhaus kommen mir schon wieder Bedenken. Sollte ich Nachbarn aus den unteren Etagen zu Hilfe holen?
Die werden mich doch für einen Schlappschwanz halten. Und wenn sich alles in Wohlgefallen auflöst, bin ich die Lächerlichkeit in Person.
Ach, zum Teufel, ich bin doch wohl selber Manns genug, bei bedrängten Nachbarinnen nach dem Rechten zu sehen!
Entschlossen nehme ich die Treppe in Angriff. Mit jeder Stufe bröckelt etwas von meinem Selbstvertrauen, aber jetzt werde ich die Sache durchziehen.
Vor der Wohnungstür habe ich den Finger schon über dem Klingelknopf, da bemerke ich, dass die Tür nur angelehnt ist. Versuchsweise öffne ich sie zu einer kleinen Diele. Sauber aufgereiht an der Wand stehen fünf Paar aufgeweichter Schuhe verschiedener Größe. Gleich neben der Tür stecken einige Regenschirme in einem Ständer, immer noch tropfnass. Ganz offensichtlich hat sie einige Leute zu Besuch; Männer und Frauen. Hinter der gegenüberliegenden Tür kann ich die Quelle von Gesprächen in neutraler Tonlage ausmachen.
Also ist wohl doch alles in Ordnung.
Mein Einsatz erscheint mir plötzlich lächerlich. Erleichtert will ich mich gerade unbemerkt zurückziehen, da verstummen die Gespräche hinter der Tür.
Unwillkürlich verharre ich noch einen Moment.
Mit unerwarteter Lautstärke, sodass mir die Worte selbst durch die geschlossene Tür in den Ohren gellen, brüllt eine männliche Stimme los:
„Das machst du nicht mit mir, du nicht! Du verdammtes Aas!“
Und dann eine Frauenstimme in höchster Verzweiflung:
„Nein, tu das nicht.“
Unmittelbar darauf knallt es, dreimal. Dann, nach einer kurzen Pause, der schwere Fall eines Körpers.
Stille.
Adrenalin schießt durch meinen Körper, treibt mich vorwärts. Ich schnappe mir den Schirm mit dem massiven Messingknauf aus dem Ständer, stürme durch den Vorraum und reiße die nächste Tür auf. Den Schirm wie einen Totschläger in der erhobenen Faust, bin ich bereit, mich in die nächstbeste Bresche zu werfen.
Was mich aber in dem von Möbeln weitgehend freigeräumten Wohnraum erwartet, lässt mich in der Bewegung erstarren.
Die jungen Leute der Theatergruppe blicken erschrocken auf den Wüterich, der wie ein Racheengel in der plötzlich aufgerissenen Tür erscheint.
Sie sehen einen Opa in Strickjacke, Schlabberhosen und Filzpantoffeln, der mit wildem Blick und erhobenem Regenschirm offensichtlich zu einem Mord bereit ist, dem nun aber allmählich dämmert, dass er nur die Probe einer Dramaszene angehört hat.
Die Theaterleute bekommen eine eindrucksvolle Gratisdemonstration, wie sich in einem Gesicht, innerhalb von Sekunden, der Ausdruck von Mordlust über Verblüffung und Erkenntnis in abgrundtiefe Verlegenheit wandeln kann.
Das befreiende Gelächter füllt durch die nun weit offenen Türen das gesamte Treppenhaus und muss in den nächsten Tagen bei den anderen Mietern noch mehrfach erklärt werden.