Von Ute Scharmann
Im Auditorium maximum wurde die erste von vier Grundlagenklausuren des 3. Semesters Ingenieurwissenschaften geschrieben. 125 Studierende, darunter drei Frauen, hatten den verschlossenen Umschlag mit den Klausuraufgaben entgegengenommen und ihren namentlich gekennzeichneten Platz aufgesucht. Die Türen des Hörsaals wurden geschlossen, der aufsichtführende Assistent begrüßte die Anwesenden, wies darauf hin, dass die auf den Plätzen befindlichen Papiere mit Matrikelnummer, Namen und Datum zu versehen seien und dass nun die Umschläge mit den Prüfungsaufgaben geöffnet werden könnten. Die Bearbeitungszeit ende pünktlich nach vier Stunden um 13.04 Uhr, Verlassen des Raumes nur nach Abmeldung beim Aufsichtführenden.
124 Umschläge wurden aufgerissen, die Aufgabenblätter entnommen und glattgestrichen, hier und da ein Seufzer und dann absolute Ruhe.
Ella versah den obersten Papierbogen mit Vor- und Zunamen und Matrikelnummer, in der rechten oberen Ecke notierte sie das Datum: 26.2.1973. Erst jetzt öffnete sie den Umschlag und legte das Aufgabenblatt auf den Papierstapel.
Thermodynamik, drei Aufgaben, eine so unverständlich wie die andere.
Nutzlose Stunden hatte sie in der Vorlesung verbracht, die dazugehörigen Übungen zumindest in den letzten Wochen meistens geschwänzt.
Der Traum vom Diplom in Maschinenbau, Fachrichtung Schiffsbau war zu Ende geträumt. Das kleine Mädchen, das mit dem Großvater Schiffe aus Papier und später aus Holz gebaut, mit zehn Jahren den ersten von fünf Segelschein gemacht und als Berufswunsch „Schiffbauerin“ genannt hatte, war vergessen. Vergangenheit auch die vielen Wochenenden und Ferientage an denen sie mit dem Großvater an der Restaurierung des fast 70 Jahre alten Lotsenkutters „Norma“ gearbeitet hatte. Die geplante große Fahrt würde niemals stattfinden.
Kurz vor dem Abitur schien der Berufswunsch unumstößlich: Ingenieurin mit Fachrichtung Schiffsbau. Ein Traum? So hatte die Mutter es genannt und der Vater, der als Mechaniker in der Werft arbeitete, hatte gesagt, sie solle es gut überlegen. „Ein Männerberuf. Du wirst gegen den Strom schwimmen müssen.“
Das Abiturzeugnis nicht glänzend, Sprachen lagen ihr nicht aber Mathematik „sehr gut“. „Beste Voraussetzung für ein Ingenieurstudium“, hatte der Mathelehrer versichert, aber in Physik würde es Probleme geben. Die Physiknote „gut“ aus der zehnten Klasse würde sie nicht retten, in den folgenden Schuljahren war das Fach im Mädchengymnasium nicht mehr unterrichtet worden. „Machen Sie einen Vorkurs, das gibt es inzwischen an den Universitäten“, lautete sein Rat.
Im Vorbereitungspraktikum auf der Werft war alles gut gegangen. Gemeinsam mit Georg, einem anderen zukünftigen Studenten, war sie der Arbeitsgruppe von Kuddel zugewiesen worden. Kuddel hatte einen Narren an ihr gefressen: eine junge Frau im Blaumann, unter dem Schutzhelm ein Kopftuch, das die langen Haare zusammenhielt. Mit sicherem Tritt in den derben Arbeitsschuhen, kräftig und zupackend, geschickt im Umgang mit Werkzeug und Material.
„Denn man tau!“, hatte Kuddel gesagt, als er den beiden Neuen die erste Aufgabe übertragen hatte. Georg, der aus Süddeutschland stammte, hatte ihn fragend angesehen. „Du kannst anfangen, min Jung. Und wenn du was nicht verstehst, frag´ die Deern!“
Georg hatte die „Deern“ kaum angesehen, was vielleicht daran lag, dass er mit 1.75 m zu Ella hätte aufsehen müssen. Kuddel musste auch zu Ella aufsehen, aber er hatte genug Selbstbewusstsein, um mit der großgewachsenen angehenden Studentin auf Augenhöhe zu sprechen.
Am Ende des Praktikums hatte Kuddel Georg bescheinigt, keine linken Hände zu haben, aber von der Deern könne er sich noch ein Scheibchen abschneiden. Nach der letzten Schicht, als Georg schon auf dem Heimweg nach Stuttgart war, hatte Ella mit Kuddel und seinen Jungs beim Bier im „Windjammer“ gesessen. „Weißt du eigentlich wie du bei uns heißt?“, der lange Pitter hatte Ella freundschaftlich den Ellbogen in die Seite gerammt. „Nee“, Ella hatte nichts mitbekommen. „Die Fregatte!“, sagte Pitter und die anderen hoben die Biergläser und prosteten in Ellas Richtung. Nicht böse gemeint sei das. Eine Fregatte sei ein stattliches Schiff und liege noch ruhig, wenn viele kleine Kutter längst beidrehen müssten.
Zum Vorkurs Physik hatte Ella sich angemeldet aber zwei Tag bevor sie zum neuen Studienort aufbrechen wollte, war der Großvater ins Krankenhaus gekommen: Schlaganfall, nur ein leichter aber doch einschränkend, das Sprachzentrum betroffen. Ella saß mit der Mutter am Bett des Großvaters, hielt seine Hand und versuchte zu verstehen was er sagen wollte.
„Du musst fahren,“ sagte die Mutter, aber Ella blieb, der Vorkurs begann ohne sie. Eine Woche später starb der Großvater an den Folgen eines weiteren Schlaganfalls. Das Semester begann ohne Ella, die erste Vorlesungswoche versäumte sie ebenso wie den Vorkurs.
Zu ihrer ersten Vorlesung kam sie spät, noch fehlte ihr die Orientierung in dem großen Gebäude. Die meisten Plätze im Hörsaal waren bereits besetzt. „Ihr Auftritt, Fräulein Iwersen!“, dachte sie als sie sich in die Mitte der ersten Reihe quetschte.
Georg hatte sie am nächsten Tag im Konstruktionssaal getroffen, vielmehr hatte sie ihn aus der Entfernung gesehen. War schon sein Umgang mit ihr während des Praktikums nicht freundschaftlich gewesen, so ging er ihr nun aus dem Weg.
In der Praxis bei Kuddel hatte Ella bestanden, nicht vorbereitet war sie auf Professoren, die die Anwesenden grundsätzlich mit „meine Herren“ ansprachen und auf Hochschulassistenten, die Hausaufgaben mit einem süffisanten „leider, Fräulein Iwersen, kaum genügend“ zurückgaben. In der Studiengruppe, zu der sie eingeteilt war, fühlte sie sich nicht wohl, bei Gesprächen über Fußball konnte sie nicht mitreden, gemeinsames Arbeiten war kaum möglich. Auch zu den beiden anderen Studentinnen ihres Semesters wollte sich kein rechter Kontakt herstellen lassen. Eine von ihnen war bereits verheiratet, der Mann Maschinenbauer kurz vor dem Diplom, die andere mit einem der Kommilitonen fest liiert, man wolle in den väterlichen Betrieb einsteigen, erklärte sie Ella. Das Diplom, na ja, wenn Markus es habe, würde es eigentlich reichen.
„Gegen den Strom schwimmen“ – Ella hatte immer gedacht, die Kraft dafür zu haben. Schon am Ende des ersten Semesters spürte sie, dass es schwer wurde. Der Strom teilte sich nicht vor ihr, er schien sich zu einer Mauer aufzutürmen. Mehr Kraft war nötig. Am Ende des zweiten Semesters hatte sie zehn Kilo zugenommen. Das Mensaessen reichte dazu nicht. Abends kochte sie im Studentenwohnheim. Nahrhaftes Essen, das sie gerne mit anderen teilte, ohne dass ihre eigenen Portionen klein wurden.
„Du hast zugenommen,“ stellte Gitta fest. Gitta, die Germanistikstudentin, mit der sie sich das Zimmer im Studentenwohnheim teilte. Gitta musste nicht gegen den Strom schwimmen, sie war schlank mit langen Beinen, die sie in sensationellen Miniröcken zeigte. Gitta, die das gemeinsame Zimmer manchmal für sich in Anspruch nahm und anbot, es Ella ebenso zu überlassen. Ella zeigte keinen Bedarf, zum Erstaunen von Gitta. „Bei euch im Studium sind doch fast nur Männer, da kannst du doch an jeder Hand zehn haben.“
In der Kneipe des Studentenwohnheims bediente Gitta sich gerne aus dem Angebot an Ingenieurstudenten, Ella saß manchmal mit einem von ihnen beim Bier.
Als sie nach dem zweiten Semester nach Hause kam, war sie fest entschlossen, die Niederlage einzugestehen. Aber zuhause war alles anders; auf der Werft fuhr man Kurzarbeit, es hieß hunderte von Arbeitsstellen seien in Gefahr, Ellas Vater bangte, die Arbeit zu verlieren. Die angespannte Situation im Elternhaus schien kein neues Problem aufnehmen zu können. Nach ihrem Studium fragte niemand. Als sie zum Hafen ging, suchte sie die „Norma“ vergeblich. „Verkauft“, sagte der Vater knapp, der Onkel habe das Geld gebraucht.
Nach zwei Wochen fuhr Ella zurück, sie habe einen Praktikumsplatz, den sie annehmen wolle, war ihre Ausrede für die frühe Rückkehr in den Studienort. Am Ende der Semesterferien, in denen sie kein Praktikum machte, sondern ins Schwimmbad ging oder in der Küche im Studentenwohnheim neue Rezepte ausprobierte, hatte sie weiter zugenommen.
Und dann hatte sie es in den ersten Tagen des neuen Semesters gehört: „die Fregatte ist wieder da“.
„Georg“, dachte sie. „Der Verräter.“ Trotzdem konnte sie fast darüber lachen. Die Schiffbaustudenten bildeten unter den Ingenieurstudenten eine Minderheit, manchmal mit Respekt und manchmal mit Staunen betrachtet. Eine Frau in dieser Minderheit fiel besonders auf. Eine Frau mit einem Volumen, das im Wasser eine große Verdrängung hatte, war eine Fregatte. Bei den Jungs auf der Werft war es eine Anerkennung gewesen, hier klang es nach Spott.
„Die Fregatte, geht unter!“ Ella spürte es mit immer größerer Deutlichkeit. Dagegen half kein „sehr gut“ in Mathematik. In Thermodynamik, Strömungslehre und Werkstoffkunde flogen ihr die Begriffe und Formeln um die Ohren, Elektrotechnik für Maschinenbauer war ihre Schlacht von Trafalgar, der Untergang war besiegelt.
Wenig Trost war, dass andere bereits untergegangen waren, die Ankündigung im ersten Semester hatte gelautet: 25 % von denen, die hier in der Erstsemestervorlesung sitzen, werden das Diplom nicht erreichen. Da hatte Ella sich noch stark gefühlt, der Rücken gestärkt vom Großvater und von Kuddel. Am Ende des ersten Semesters hatten sich die Reihen bereits gelichtet, zu Beginn des dritten Semesters waren sie in der Vorlesung „Grundlagenphysik für Ingenieurstudenten“ mit „Willkommen den Überlebenden!“, begrüßt worden. Da hatte sich Ella noch einmal aufgebäumt, noch einmal versucht, mitzuhalten: Mathematik sehr gut, das rettete nichts.
„Einen schweren Weg wollen Sie da gehen“, hatte die Frau in der Studienberatung gesagt und dann hatte sie gefragt, was Ella in ihrem Studium schwer- und was ihr leichtfalle. Mathematik sei kein Problem, da habe sie gute Grundlagen, Konstruktionszeichnungen gingen ihr gut von der Hand. Sie verschwieg den Kommentar des Assistenten, der ihr einen Entwurf zurückgegeben hatte „Hochachtung, Fräulein Iwersen, Sie haben das Zeug zu einer guten technischen Zeichnerin.“
„Triff eine Entscheidung“, sagte Christopher am Vorabend der Klausur. Christopher, ihr Cousin, ihr Vertrauter seit Kindertagen, Lehramtsstudent im ersten Semester. „Mach´ es wie ich: Lehrer brauchen sie doch immer. Mathe und Geographie, das wären doch deine Fächer.“
„Eine Entscheidung treffen.“ Ella sezierte den Satz.
Entscheidung: sich von etwas scheiden, sie musste sich von sich selbst scheiden, von der Studentin, die gegen den Strom schwimmen wollte, von der Ingenieurin.
Treffen, der Treffer würde sitzen.
Sie musste diese schon längst fällige Entscheidung treffen, sich selbst treffen mit der Entscheidung.
Stille im Hörsaal – 124 Studierende arbeiteten mit Konzentration, darunter einige, die durch die Thermodynamik flogen; viele, die gequält nach dem rechten Weg zur Aufgabenlösung suchten.
Ellas Blatt war leer, es würde nicht leer bleiben.
Der Satz schrieb sich von ganz alleine:
„Hiermit beantrage ich meine Exmatrikulation.“
Die Unterschrift darunter war nur noch eine Kleinigkeit.
Sie knickte den Bogen und stand auf. An dem aufsichtführenden Assistenten vorbei ging sie zur Tür. Seine Stimme zerschnitt die Stille:
„Fräulein Iwersen!“
Fräulein Iwersen öffnete die Tür und verließ den Raum.