Von Andreas Schröter

Ich habe eine ausgesprochen seltene Krankheit. Genau genommen gibt es auf der ganzen Welt nur einen einzigen dokumentierten Fall: mich. Portaphobia heißt sie, die Angst davor, Türen zu öffnen. Gottseidank habe ich eine Freundin, die viel Verständnis aufbringt. Ohne sie könnte ich praktisch nichts erledigen. Denn nahezu überall, wo man hingeht – und ich weiß nicht, ob Ihnen das schon aufgefallen ist –, muss man irgendwelche verdammten Türen öffnen: bei der Post, im Supermarkt, bei der Sparkasse, im Baumarkt, im Schwimmbad und beim Türken, bei dem ich so gerne eine Dönertasche esse … Sogar der abgezäunte Park vor unserem Haus hat eine dicke Eisenpforte. Ich frage Sie: Was soll das? Falls ich mal in den Himmel komme, dann ist es hoffentlich ein Himmel ohne Türen. Ich halte mir immer Ohren und Augen zu und drehe mich weg, wenn wir zwei irgendwo hingehen und meine Freundin eine der vielen aberwitzigen und nutzlosen Türen auf unserem Weg öffnet. Ja sicher sieht das beknackt aus! Manchmal denken die Leute, ich mache irgendeine Art von schrägem Witz. Und natürlich lasse ich sie in dem Glauben.

Zu Hause in unserer Wohnung haben wir selbstverständlich keine Türen. Kennen Sie diese Pergolavorhänge? Genau die haben wir in sämtlichen Durchgängen – auch zum Badezimmer, was manchmal zu peinlichen Situationen führt: geräusch- und sichttechnisch, Sie wissen schon. Leider konnte ich weder meine Freundin, noch unseren Hauseigentümer davon überzeugen, die Wohnungs- und die Hauseingangstür durch diese Pergola-Dinger zu ersetzen. Die kamen mir doch tatsächlich mit solch skurrilen Argumenten wie Schutz vor Einbrechern und Kälte. Ich bitte Sie! Also bin ich an die Wohnung gefesselt, während meine Freundin auf der Arbeit ist oder auf die vollkommen bösartige Idee verfällt, irgendeine Unternehmung ohne mich zu starten. Ich mein, sie weiß doch, was sie mir damit antut. „Was ist, wenn in einer solchen Situation das Haus in Flammen aufgeht?“, frage ich sie immer wieder, „ich käme hier nicht lebend raus.“ Sie streichelt mir dann zärtlich übers Haar und zieht die Tür von außen zu. Grausam, wie nur Frauen es sein können! Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, kann ich selbst keiner Arbeit nachgehen. Ich bin dauerhaft krankgeschrieben.

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Ich war allerdings nicht immer so krank wie jetzt. Sie werden lachen, wenn Sie erfahren, was ich früher gemacht habe. Ich war sozusagen „Türöffner“. Auf jeden Fall habe ich lange als ungelernte Aushilfskraft in einer Firma gearbeitet, die Türen und Fenster hergestellt hat. Meine Aufgabe war es in der Tat, die fertigen Produkte zu öffnen und zu schließen, um zu prüfen, ob das leichtgängig funktionierte oder ob sie irgendwo quietschten. Wenn Letzteres der Fall war, musste ich die Scharniere etwas ölen oder ein paar kleine Justierschräubchen nachstellen. Ein leichter Job, sagen Sie? Gut, mag sein, aber nach der 250. Tür, die Sie an einem einzigen Tag überprüft haben, sieht das anders aus. Ich kann Ihnen sagen, ich habe von Türen geträumt. Bis tief in die Nacht habe ich sie weiter geöffnet und geschlossen. Und wenn ich irgendwo unterwegs war, habe ich unweigerlich geprüft, ob die Türen in Ordnung waren. Bei einer Fete von einem alten Schulfreund hat das sogar mal für Irritationen gesorgt, weil ich gerade mal ein schlappes Viertelstündchen – allerhöchstens – damit beschäftigt war, die Tür zum Fetenraum zu öffnen und zu schließen. Das wäre vielleicht nicht weiter aufgefallen, wenn ich nicht gleichzeitig alle anderen Gäste um absolute Ruhe gebeten und auch darauf bestanden hätte, die Musik auszuschalten. Aber wie bitte hätte ich sonst die feinsten Quietsch-Nuancen wahrnehmen sollen, die schließlich Aufschluss darüber geben, was genau an der jeweiligen Tür nicht in Ordnung ist?

Auf meiner Arbeit gab es eine eiserne Regel. Eine einzige uralte Tür, die sich ungefähr in der Mitte des riesigen dreistöckigen Firmengebäudes befand, durfte unter keinen Umständen geöffnet werden.

„Sir, warum nicht?, Sir“, fragte ich unseren Boss. Ja, ich war damals entschieden cooler als heute.

Der Boss antwortete: „Weil ich befürchte, dass diese Tür schon sehr marode ist. Sie könnte auseinanderfallen, wenn man sie bewegt. Sie erinnert mich aber an meinen Großvater, der die Firma vor über 70 Jahren gegründet hat. Es war die allererste Tür, die er gebaut hat. Und ich möchte mir die Erinnerung daran gerne bewahren.“

Alles klar, meine Kollegen und ich würden die Tür in Ruhe lassen. Es bestand auch überhaupt keine Notwenigkeit, sie zu öffnen. Sie war eingefasst in ein Stück Mauerwerk, das zwar oben mit der Hallendecke abschloss, aber die Mauer war seitlich nur vielleicht drei Meter lang. Man konnte sie umgehen und sah dann die Tür von der anderen Seite. Es gab also kein Geheimnis, was es hinter dieser Tür zu entdecken galt oder so. Sie war einfach nur eine halb verrottete Opa-Erinnerungstür, die mitten im Raum im Weg stand, und sonst zu nichts gut war.

Einmal nach einer Weihnachtsfeier – das ist jetzt genau 20 Jahre her – bat mich der Chef, noch einen Kontrollrundgang zu machen, bei dem ich alle Lichter löschen und alles abschließen sollte. Er müsse weg, weil er noch eine andere Verabredung habe. Verabredung? Er war verheiratet. Ich fragte nicht nach. „Klar, Chef, mach ich gerne.“ Das stimmte sogar. Auch wenn der Job gelegentlich anstrengend war, kam ich gerne zur Arbeit.

Ich weiß heute nicht mehr, was mir damals in den Kopf gekommen war, der Alkohol, die friedlich-weihnachtliche Stimmung, das gute Essen oder alles zusammen – jedenfalls trat ich direkt vor die Opa-Erinnerungstür: Es war still im Raum, ich traf tatsächlich diese unsäglichste Entscheidung meines Lebens und öffnete die Tür. Zuerst ließ sie sich kaum bewegen. Erst als ich mehr Kraft anwendete, begann sie sich ganz langsam zu öffnen. Das Quietschen, das sie dabei von sich gab, war herzzerreißend. Hier musste so einiges nachjustiert werden. Was mich etwas wunderte, war, dass das Quietschen anhielt, nachdem ich die Türklinke bereits losgelassen hatte. Seltsam. Wenn ich ehrlich war, dann war es auch gar kein richtiges Quietschen mehr, eher vielleicht ein Knirschen oder auch Reißen. Ich schaute mir die Tür und die Einfassung, in der sie hing, genauer an. Ein dicker Riss zeigte sich oben auf der Türzarge. Und dieser Riss wurde unter noch lauteren Geräuschen schnell größer. Ich griff zur Klinke und versuchte, die Tür schnell wieder zu schließen. Keine Chance. Die ganze Konstruktion war bereits komplett verzogen. Jetzt fielen auch erste Stückchen aus dem Mauerwerk darüber. Ich musste zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden. Heilige Scheiße! Der Boss würde sauer werden.

Fünf Minuten später existierte keine Mauer mehr. Die kostbare Erinnerungstür lag platt auf dem Boden. Doch nun setzte eine eigentümliche Vibration in der Decke über dem Raum ein, der mit einer Art Summen einherging. Aus der Vibration wurde ein Schwingen, bis schließlich ein Teil der Decke einriss, und mir die Schreibtische, die im oberen Stockwerk gestanden hatten, mit allem, was auf ihnen lag, entgegenfielen. Das einzig Gute an dieser Situation war, dass ich jetzt sofort sterben würde, sodass ich dem Chef nicht mehr erklären musste, wie es dazu kommen konnte.

Was folgte, war ein zweiminütiges Inferno mit ohrenbetäubendem Lärm – und dann plötzlich eine allumfassende Stille. Das gesamte Firmengebäude war zusammengebrochen. Um mich herum lagen Berge von Trümmern: Mauerteile, Computerbildschirme, Telefone, Kaffeeautomaten, Schreibtischschubladen und die sämtlichen 250 Türen und Fenster, die ich an diesem Arbeitstag gecheckt hatte. Nur komischerweise gab es in einem Umkreis von vielleicht 50 Zentimetern um mich herum kein einziges Trümmerteilchen. Gab es doch einen Gott?

Ich wäre gerne zur Salzsäule erstarrt und hätte mich nie wieder bewegt. Aber das ging nicht. Um mich herum war es so staubig, dass mich die schiere Atemnot weg von diesem Ort trieb.

Mein Chef erholte sich von diesem Schlag nie mehr. Offenbar war das Gebäude, das irgendwann mal eilig und in Leichtbauweise zusammengeschustert worden war, nur unzureichend versichert gewesen. Ich hatte mit dem Öffnen einer einzigen Tür 25 Menschen mit einem Schlag in die direkte Arbeitslosigkeit befördert.  

Naja, jetzt wissen Sie, woher ich meine Portaphobia habe.

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P.S.: „Portaphobia“ gibt’s wirklich, ist aber eigentlich die Angst davor, eine mobile Toilette zu benutzen.