Von Hubertus Heidloff

„Soll das wirklich alles sein? Soll das unser Leben sein?“ Issum schaut verzweifelt auf die zerstörten, scheinbar grenzenlosen Ruinenfelder vor ihm. Nichts lässt ahnen, dass es an dieser Stelle einmal eine blühende Stadt gab.

„Ich kann mich kaum noch daran erinnern, hier Häuser gesehen zu haben, in denen Menschen mit ihren Familien lebten und glücklich waren“, pflichtete ihm Zohra bei.

„Weißt Du noch, dass diese Stufen hier der Eingang zu einer Bäckerei war. Als Kind habe ich oft Brot geholt.“

Zohra schaut Issum an. Sie hat das Gefühl, als ob im nächsten Augenblick ein Sturzbach über ihre Wangen fließen sollte. Erfreulich ist in diesen Tagen kaum etwas.

 „Das waren mal Wohnhäuser“, sinniert Issum. „Seit mehr als zehn Jahre wird unser Land systematisch zerstört, so als wolle man uns die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben nehmen. Es sind über 5 Millionen Syrer geflohen.“

Die junge Frau, die bislang ihrem Freund zugehört hat, fügt hinzu: „Ob diese Menschen jemals zurückkommen und beim Wiederaufbau des Landes helfen?“

Die beiden schauen auf die Ruinenwelt von Al Kasakah, die sie nie als heile Welt erlebt haben. Nur ganz dunkel kommt die Erinnerung an die frühere Zeit.

„Können wir etwas bewirken? In dieser Zeit sind weit mehr als 400.000 Menschen hier in diesem Land umgekommen. Sind dir diese Zahlen bekannt?“

Zohras Wangen glühen, sie ist aufgebracht. Sie springt auf und tritt wütend gegen die Treppe.

Was können die Menschen, die noch hier sind, machen? Wohin sollen sie gehen? Was soll aus diesen Menschen werden? Was soll aus uns werden?“  

Sie ist kaum noch zu bremsen, so sehr erregt sie der Gedanke an ihr zerbombtes und zerschossenes Land. Keine Mauer, die nicht zahlreiche Einschusslöcher aufweist. Sie hat sich wieder neben ihn gesetzt. Die beiden rücken näher zusammen, so als wollten sie sich durch die Nähe gegenseitig Mut machen.

Sie trägt ein Kopftuch, nur locker um ihren Kopf gewunden. Die beiden schauen sich in die Augen. Werden sie zusammen bleiben? Sie wohnen mit ihren Eltern nur wenige zerbombte Straßen auseinander.

Bei Zohra ist es nur die Mutter, die sich um sie und ihren kleinen Bruder kümmert.

„Mein Vater hat das Risiko der Flucht auf sich genommen, um in Europa Geld für die Familie zu verdienen. Er ist schon vor einigen Monaten weg gegangen. Wir haben nur einen Brief bekommen, in dem er mitteilt, dass er es geschafft hat, über Grenzen hinweg bis nach Österreich zu kommen.“ Sie kann ihre Tränen bei der Erinnerung an ihren Vater nicht zurückhalten.

Issum hat beide Eltern in der Stadt wohnen. Sein älterer Bruder ist bereits vor einigen Monaten durch die Tat eines verrückten Fanatikers, der sich selbst in die Luft gesprengt hat, in den Tod mitgerissen worden. Kaum kann man sich an irgendeinem Ort aufhalten, eine Straße überqueren. Nirgendwo hat man ein Versteck.

In wenigen Tagen wird der Wintereinbruch erwartet. Hier, in den Bergen, im Norden des Landes, ist es bereits empfindlich kalt und die getragene Kleidung reicht schon nicht mehr aus. Aber viel mehr steht den beiden ohnehin nicht zur Verfügung. Nur dicke Schals und lange Mäntel können sie ein wenig vor der Kälte schützen. Wenn der Strom wieder einmal abgeschaltet wird, spürt man die Not noch deutlicher. Nicht einmal eine Tasse Tee zum Aufwärmen kann man sich dann kochen. Issum und Zohra und ihre Familien haben häufig quälenden Hunger. Den  Blick auf eine bessere Zukunft gibt es nicht.

„Früher hatten wir ein kleines Stück Wiese hinter dem Haus, so dass wir einige Ziegen halten konnten. Nun gibt es keine Ziegen mehr. Sie sind den Militärtrupps in die Hände gefallen.“ Auch Issum fallen die Worte schwer.

 „Was wir am meisten vermissen, ist gesundes Trinkwasser. Auch wenn der Wasserwagen mehrmals in der Woche Wasser bringt, sind die Vorräte schnell aufgebraucht“, fügt Zohra leise hinzu.

Issums Familie lebt in einem der ausgebombten Häuser. Irgendwo zwischen geborstenen Wänden haben sie im hinteren Teil des Hauses einen Raum gefunden, der noch eine Decke über dem Kopf hat. Mutter hat alte Teppiche und Wolldecken als Gardinen vor das einzige Fenster gehängt. Bis zum nächsten Keller ist es nicht weit. Sicher sind sie dort nicht, denn würde eine Granate das Haus treffen, würde die Decke des maroden Hauses zum Einsturz gebracht und die Flüchtenden  würden getötet.

Issums Familie lebt in ständiger Angst vor Angriffen. Er will so nicht mehr weiter leben und hat die Hoffnung auf Frieden aufgegeben. Schon seit langem plant er, sein Glück in Europa zu suchen. Schlimmer als hier kann es kaum werden. Attentäter, Gewehrgranaten und Schüsse aus Maschinengewehren bedrohen ständig ihr aller Existenz. Aus einiger Entfernung sind Flugzeuggeräusche zu hören. Auf den Fliegeralarm reagieren die beiden nicht mehr. Zu oft ist er in letzter Zeit zu hören gewesen. „Was soll hier noch zerbombt werden?“ fragt Issum.

Er schaut Zohra an. Es fällt ihm schwer, seiner Freundin zu sagen, dass er fliehen will. Er möchte ihr nicht wehtun.

„Ich möchte etwas für meine Familie tun. Ich muss jetzt handeln, sonst steht mein Einzug zum Militär unmittelbar bevor. Die Streitkräfte haben in den letzten 4 oder 5 Jahren Verluste von über 200.000 Mann hinnehmen müssen. Schlecht ausgerüstet haben sie kaum Chancen, die Vielzahl an Aufgaben zu lösen. Der Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung, gegen die Türkei, die Überwachung der Grenzen besonders gegen Israel überfordert die Truppen Assads völlig.“

Er ist hin- und her gerissen. Kann er erwarten, dass Zohra ihn begleitet?

Der Kampf von Assads Truppen zusammen mit syrischen Kurden gegen die Türkei, Angriffe des IS und Al-Qaida lassen ein einheitliches Bild überhaupt nicht zu. Die beiden jungen Leute hassen die Menschen, die ihnen dieses Leben aufgezwungen haben.

Issum sieht, dass sich in  Zohras Augen erneut Tränen sammeln. Sie tut ihm leid. Doch sein Entschluss, das Land zu verlassen, steht unumstößlich fest.

„Nur fort von hier, in ein Land, in dem keine Grenzen zu verteidigen sind, in dem man friedlich zusammen leben kann.“

Zohra schaut ihn wie durch einen Nebelschleier an und dann brechen alle Dämme. Sie schluchzt hemmungslos und hält ihre Hände um seinen Hals geschlungen. Sie drückt ihn so fest, dass er vermeint, sie wolle ihm die Luft abschnüren. „Nimm mich mit“, fleht sie leise. Sie hat ihren Mund ganz nahe an sein Ohr gedrückt und flüstert diesen Satz voller Inbrunst. Issum glaubt, nicht richtig zu hören. Was er nie zu träumen gewagt hat, ist gerade geschehen. Ihm wird in diesem Moment bewusst, dass er Zohra  grenzenlos liebt.

 

 „Ich will mit Dir zusammen gehen, weg aus diesem Land, weg aus dem Krieg. Und ich will an Deiner Seite sein, wenn unsere Zukunft in Europa beginnt.“

 Er löst ihren festen Griff um seinen Hals, nimmt ihren Kopf in beide Hände und küsst sie voller Leidenschaft. „Sag mir, wie du dir Europa vorstellst“, will Issum wissen.

„Ich  schmecke sauberes Wasser, erlebe Menschen ohne Angst, kann mich frei bewegen und sagen, was ich denke.“

An diesem Abend sprechen beide mit ihren Familien. Sie erzählen, warum sie fliehen wollen. Sie verlassen nicht nur ein Kriegsgebiet, sondern auch ihre Heimat, deren Boden sie zu riechen glauben. Sie wünschen sich ein anderes Leben. Die Familien zeigen Verständnis. Sie wollen den Kindern ein besseres Leben nicht verwehren. Die beiden bereiten sich auf ihre Flucht vor und packen das zusammen, was unbedingt wichtig erscheint. Viel können sie nicht mitnehmen.

Der nächste Tag kommt. Die Augen aller sind mit Tränen gefüllt. Die Flucht hat begonnen.

 

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