Von Maria Lehner

Drei Ausgewählte – oder Auserwählte? – hatten einen Brief mit gleichlautendem Text erhalten: „Sie werden auf Grund Ihres Engagements zur Beseitigung von Grenzen eingeladen…“. Stimmt, jeder der Eingeladenen hat Grenzen aufheben wollen: eine Sprache für alle, keinerlei Grenzbalken, Steuerfreiheit als Bedingungen für ein glücklicheres Leben. Das Konzept war in keinem der Fälle aufgegangen. Hat es die Grenzen der eigenen Denkbezirke noch nicht verlassen?

 

Anderswo ist die Grenzenlosigkeit perfekt umgesetzt. Von dort kommt das Schreiben: “…Treten Sie am… mit diesem Brief ins Freie … Es erfolgt die Projektion eines Kreissymbols auf der Bodenfläche vor Ihnen; in dieses treten Sie, um vorerst ins Teleportationszentrum zu gelangen. Dort beginnt Ihre Studienreise zu Senzaconfini, dem „Planeten ohne Grenzen“. Ah! Jeder Einzelne wähnt sich als einziger Eingeladener, fühlt sich zu Recht geehrt und endlich in seiner Genialität erkannt.

 

Da es um Konzepte der Grenzenlosigkeit geht, spielt die reale Zeit keinerlei Rolle: Die drei Herren der Geburtsjahrgänge 1859, 1940 und 1983 sind zur Zeit des gemeinsamen Reiseantritts exakt 33 Jahre alt. Im besten Alter also, um die Welt zu verändern. Warum es sich um lauter Männer handelt? Auch Frauen haben doch Entwürfe der Grenzenlosigkeit erarbeitet? Bei der Personenauswahl wurde auf Senzaconfini wohl grenzwertig schlecht recherchiert!

*

In der Lounge des Teleportationszentrums sind alle drei brüskiert, dass sie auf jeweils zwei andere treffen. Dieser Umstand lässt sie weit voneinander abrücken. Das einzig gemeinsame ist die Geste des Händeverschränkens sodass die Ellbogenspitzen als Grenzpflöcke den eigenen Bereich markieren.

Einer greift nach der Menükarte, verfasst in Esperanto: „Blauer Portugieser und Wildschweinschinken aus der Batschka“. Auf einem Plattenspieler aus den Siebziger-Jahren liegt die Langspielplatte „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Das alles ist kein Zufall.

*

Da ist zum Beispiel Ludwik Lejzer Zamenhof im Gehrock mit Hemd und Fliege. Er ist nicht nur der Entwickler der Kunstsprache Esperanto, sondern auch der Bildungsminister von „Amikejo“. Das Land steht unter der gemeinsamen Verwaltung mehrerer Staaten. Kein Honiglecken. Obwohl: Es ist nur knappe dreieinhalb Quadratkilometer groß.

 

Der Mann mit runder Nickelbrille wirkt müde, weil er wohl die ganze Nacht lang mit Yoko in Umzugskartons gekramt hat. Sie sind ins Dakota Building in der 72. Straße in New York übersiedelt. Er trägt um den Hals ein Emailleschild „Embassy of Nutopia“.  Nutopia hat keine Führung; nicht alle Staatsbürgerschaften wurden registriert, deshalb ist die Bevölkerungsanzahl unbekannt. Es gibt, so John Lennon, als der er sich vorstellt „keine Grenzen, keine Pässe und keine anderen Gesetze als kosmische“. Zamenhof seufzt: „Du hast es auch nicht leicht“. Lennon blickt kryptisch drein. Er sinniert: „Was sagt er?“ (denn wir sind noch auf Erden und dort sind die Sprachbarrieren nicht überwunden).

 

Der Dritte heißt Vít Jedlička. Der Mann mit dem selbstsicheren Auftreten stellt sich als „der Staatschef“ vor. Er hatte vor Kurzem die „Freie Republik Liberland“ ausrufen lassen. Gefragt nach der Landesgröße nennt er selbstsicher „sieben Quadratkilometer“ und setzt fort „die befinden sich auf einem Stück Land an der Donau, das zwar von Kroatien verwaltet wird, aber als serbisches Staatsgebiet ausgewiesen ist“. Er zeigt eine Karte: „Zwischen einem alten Nebenarm und dem Hauptarm der Donau liegt das menschenleere Gebiet. Nur Gegend und Wildschweine, außerhalb der Republik Weinbau“. (Ja genau: deshalb der Wein und der Schinken!). Sein Land ist verkehrstechnisch kaum erschlossen, das einzige existierende Gebäude ist eine vor Jahrzehnten verlassene, mittlerweile verfallene, Jagdhütte.

 

Die anderen beiden haben aus bekannten Gründen die universelle Konvention des beifälligen Abnickens angewendet. Zwischenzeitlich haben sie, John und Ludwik, sich mit dem jeweils dritten Achtel „Blauer Portugieser“ und Wildschweinschinken verbrüdert. Johns Augen glänzen, Ludwik kaut genüsslich.

 

*

Nun treten sie in den Materietransmitter ein. Nachdem sie die Schleuse passiert haben, vereinheitlicht das System die drei Sprachen. Zamenhofs Begeisterung kennt keine Grenzen: Es ist Esperanto!

Die Reise beginnt. Die nachfolgenden Ereignisse würden in „Real-Zeit“ rund 60 Minuten dauern; die Zeitachse wird aber im wenige Sekunden dauernden Teleportationsvorgang durch den Transmitter wie ein Gummiband ausgedehnt.

*

Sie haben sofort Sprechverbindung zum Asteroiden Senzaconfini. Ludwik (Zamenhof) will wissen, ob der als Fixstern definiert ist. Was sie zu hören bekommen? „Definition?! Jede Definition ist eine Abgrenzung, denn da steckt „finis“ drin, was auch Grenze bedeutet. Bei uns auf Senzaconfini wird daher grundsätzlich kein Begriff definiert. Alles kann ein Zitronenfalter sein. Oder ein Betonmischer. Oder ein Renaissanceportal.“ Zamenhof zieht unwillig die Stirn kraus. Das passt dem Erfinder der Plansprache aber gar nicht!

 

John legt darauf Wert, dass die Musikanlage an Bord „Imagine“ spielt: „Imagine there’s no countries/ It isn’t hard to do …“. Er fragt auf Senzaconfini an und man bestätigt ihm: „Genau, keine Grenzen, keine Teile, alles eins. Keine Ortsbezeichnungen, ansonsten müsste es Ortsgrenzen geben. Die Tageszeit ist im Übrigen immer gleich – etwas zwischen Tag und Nacht.“ Jedlička macht „tss-tss-tss“ als er hört: „Es gibt keine Namen für Farben, da ja jede gedankliche Linie die Dinge voneinander trennt. Und es existiert ohnehin nur eine einzige Mischfarbe, in der alle in eines verfließen. Sen-za-con-fi-ni: Kei-ne-Gren-zen!“

 

Aus der Musikanlage tönt „No need for greed or hunger…“ Jedlička erkundigt sich, inwieweit denn Senzaconfini landwirtschaftlich nutzbar ist. Er erfährt: „Keine Ahnung. Die Landschaft ist nämlich amorph, es fehlt an Kontur, Gestalt und Unterschiedlichkeit, alles eine Art Sand-Stein-Wasser-Mischmasch. Dadurch ist nichts wahrnehmbar und erkennbar“. John sagt „Ja… alles verschwimmt in eins“. Das ist sein Land. Vít meint skeptisch „Das kenn´ ich von den Überschwemmungen in den Donau-Auen. Na, das kann ja was werden!“

 

„Grenzen machen sichtbar, wer dazugehört und wer nicht. Und jeder gehört dazu“ doziert die Stimme aus Senzaconfini weiter. Jeder? Da rümpfen alle drei die Nase! Jeder Beliebige? „Natürlich!“ bekommen sie zu hören. Zamenhof denkt drüber nach, ob sein Hausmeister, der dumme Tropf, wohl auch dazugehört. John Lennon erschrickt, wenn er sich vorstellt, dass er dort etwa mit Richard Wagner an einem Tisch wird sitzen müssen. Jedlička ­– er hat auch so seine Schreckensbilder –, brüllt panisch: „Was? Dafür habe ich nicht gekämpft! Nein! Aus! Umdrehen! Aussteigen“. Er hat sich so in Rage geredet, dass er zu niesen beginnt.

 

*

Lennon zieht die Fahne von Nutopia heraus (es ist ein blütenweißes Taschentuch) und putzt dem verdutzten Vít umständlich die Nase. Dieser verwehrt sich dagegen: „He! Mein Körper gehört mir!“ John schüttelt den Kopf: „Nein, nein. Yoko sagt immer: Es gibt keinen Punkt, an dem ich aufhöre und du beginnst“. Zamenhof denkt: „Wer keine persönlichen Grenzen setzen kann, ist anderen Menschen schutzlos ausgeliefert“. Dann schlussfolgert er noch „Aber wenn es keine Grenzen gibt, gibt es auch keinen Besitz?!“ und nimmt die Taschentuchfahne an sich. Als John protestiert, zieht Zamenhof spöttisch die Augenbrauen hoch.

 

Vít Jedlička hat beim Einsteigen ein paar Flaschen vom „Blauen Portugieser“ mitgenommen. Eine davon reicht er mit jovialer Geste herum: „Vertragt euch!“ Als er die Flasche an Zamenhof weiterreichen will, ignoriert dieser ihn mit einem gezischten „Wichtigtuer!“. Es rauscht in der Sprechanlage und eine Stimme aus Senzaconfini ist zu vernehmen: „Es gibt kein wichtig und unwichtig. Alles und jeder ist gleich wichtig. Denn es gibt keine Grenze. Eine Grenze könnte die freie Entfaltungsmöglichkeit stärker behindern, als es notwendig und sinnvoll ist“. Als Zamenhof daraufhin fragt „Aber da ist doch ein Unterschied zwischen sinnvoll und sinnlos?“ bekommt er natürlich keine Antwort.

 

Keiner hört mehr dem anderen zu, denn es gibt keine Neugier, nur mehr Gleichgültigkeit. Alles ist eins. Alles ist einerlei. Keiner hat recht, keiner hat unrecht. Und eigentlich gibt es ohnehin nichts mehr zu sagen. Sie öffnen Flasche um Flasche und trinken. Wenigstens der Genuss ist grenzenlos.

 

John will einen Songtext „No more borders“ schreiben. Der Wein würde ihn zwar beflügeln, aber: Was soll er schreiben? Ein Mensch kann sich nur dann als frei erleben, wenn er den Unterschied zur Unfreiheit spürt. Nun wissen wir es: Deshalb gab es ein solches Lied von John Lennon nie.

*

Der Wein geht zu Ende. Er ist ein irdischer und daher weder in Gebindeanzahl noch in Füllmenge unbegrenzt. Sie sind bei der letzten Flasche angelangt und müssen diese schon recht neigen, um aus ihr zu trinken. Zamenhof will zum letzten Schluck ansetzen. Jedlička versucht, ihm die Flasche zu entreißen. Lennon fasst auch hin. Plötzlich, gerade als sie auf Senzaconfini landen, prügeln die drei aufeinander ein. Dabei reißen sie den Anschluss des Bordcomputers aus seiner Verankerung und beschädigen den Steckkontakt.

 

Sie weigern sich nach erfolgter Teleportation, auszusteigen. Nur die leeren Flaschen werfen sie hinaus und verursachen so die erste Umweltverschmutzung auf Senzaconfini. Die Teleportationsumkehr im Materientransmitter funktioniert wegen des Schadens am Anschluss nicht mehr. Lennon spielt in einer Endlosschleife die Hymne von Nutopia. Sie besteht aus vier Sekunden Stille. Keiner von den Zweien merkt es. Banausen!

*

Das Wissen, das auf Senzaconfini vorhanden ist, konnte nach wie vor nicht für den blauen Planeten nutzbar gemacht werden, weil die drei in der Zeitschleife steckengeblieben sind.

 

Auf Erden, in unterschiedlichen Ländern und in den jeweiligen Jahren 1892, 1973 und 2016 wundern sich ein paar Menschen, wo denn Ludwik, John und Vít wieder mal bleiben. Dem Zorn folgt jeweils eine Ankündigung wie: „Na warte! Das gibt grenzenlosen Ärger!“

 

 

Version 3