Von Carola Hofmann

Dort hinten, über den Wolken, am Horizont, befand sich ein Land, ein ungewöhnliches Land, voller Abenteuer, Freiheit und grenzenloser Möglichkeiten. Eine junge Frau lebte dort, Nayla hieß sie. Sie war sehr hübsch, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, braun gebrannter Haut, pechschwarzen Haaren und dunkelblauen Augen. Wie alle aus ihrem Volk war sie groß gewachsen und hat auf dem Rücken kleine weiße Flügel, welches ihnen das Aussehen von Feen verlieh. Das Besondere an ihr ist nur, dass sie damit auch fliegen kann. Allen anderen ist dies nicht möglich. Ob ihre Vorfahren jemals fliegen konnten, oder ob die Evolution gerade erst dabei ist, die Flügel so auszustatten, dass damit auch geflogen werden kann, ist nicht klar. Vielleicht hatte es auch mit ihrer Begabung zu tun. Nayla konnte nämlich wunderbar mit Tieren umgehen.

 

Sie wohnte auf einer Insel, in einem kleinen Dorf an dessen Rand. Auf der einen Seite befand sich der endlose blaue Ozean, auf der anderen erstreckte sich immergrüner Dschungel mit gefährlichen wilden Tieren. Nayla hatte jedoch schon als Kind ihre Begabung herausfinden können. Damals war sie in den Dschungel hinter dem Haus gelaufen und hatte sich versteckt. Die gesamte Dorfgemeinschaft war damals zusammengetrommelt wurden um nach ihr zu suchen. Man fand sie schließlich an eine große tigerähnliche Kreatur gekuschelt und tiefschlafend vor. Die Dorfbewohner und auch Naylas Eltern waren geschockt und fragten sich, wie sie das kleine Mädchen von dem Biest wegbekommen sollten. Auf ihre Rufe hin wachte Nayla schließlich auf und flog kurzerhand mit ihren Flügel zurück zu ihren Eltern. Seitdem war sie noch öfter im Dschungel gewesen, hatte jedoch niemanden von ihren Ausflügen erzählt. Tatsächlich kümmerte sie sich mittlerweile nicht nur um die kranken Haus- und Nutztiere der Dorfbewohner, sondern auch um die verletzten Tiere des Dschungels. 

 

Mit dem Zeitpunkt, als sie erwachsen wurde, betraute man sie auch noch mit einer anderen Aufgabe: Sie sollte die Umgebung der Insel absuchen und schauen, ob sie eine andere Insel finden konnte. Der Dorfälteste hatte nämlich Aufzeichnungen gefunden, in denen diese erwähnt wurde. Und mit ihrer Fähigkeit zu fliegen hatte sie die Möglichkeit, herauszufinden, ob die Aufzeichnungen der Wahrheit entsprachen. Zugleich bat er sie aber, niemandem außer ihm zu erzählen, wenn es so eine Insel wirklich geben sollte.

 

Nach einigen Jahren vergeblicher Suche fand sie tatsächlich die in alten Aufzeichnungen erwähnte Insel. Erstaunlicherweise lag sie nicht einmal weit weg. Die Insel sah aus wie ihre eigene, jedoch traute sie sich nicht gleich die Insel zu betreten. Dies tat sie erst, nachdem sie sich mit Töge, so hieß der Älteste in ihrem Dorf, besprochen hatte und dieser ihr ein Schreiben mitgegeben hatte, was alles erklären sollte; jedenfalls hofften sie, dass das fremde Volk dies lesen konnte. Nayla fand sehr schnell raus, dass das Volk ihre Sprache verstand. Auch verfügte es über ähnliche Aufzeichnungen, wie Fiete, der Älteste des Volkes, ihr erzählte. Sie freundete sich mit den Dorfbewohner schnell an, die ihr gegenüber aufgeschlossen und friedlich waren. Im Gegensatz zu ihrem eigenen Volk hatte Fiete nicht gezögert, sie vorzustellen. Auch hier bemerkte man bald ihr außergewöhnliches Verständnis für die Tiere. Beinahe jeden Tag bat man sie, sich das eine oder andere Tier anzusehen und gesund zu pflegen. 

 

Eines Tages war sie durch den Dschungel gestreift, der hier aus friedliebenden Tieren bestand, und auf eine kleines katzenartiges Wesen getroffen. Es hatte kuschelig weiches Fell, einen Schnabel anstelle eines Mäulchens und fasste sehr schnell Vertrauen zu der Fremden, so, wie jedes Tier, welches Nayla einmal über den Weg gelaufen war. Das Kleine hatte sich das Vorderpfötchen verstaucht und humpelte ganz fürchterlich. Nayla hatte ihm einen kleinen Verband angelegt und es nach zwei Minuten in ihr Herz geschlossen und ihm den Namen Ayla gegeben, da ihr gerade nichts anderes einfiel. Seither verschwand sie von ihrer Insel jeden Tag für einige Stunden. Natürlich wunderten sich die Dorfbewohner wohin sie so oft verschwand. Töge, dem sie sich anvertraut hatte, erzählte überall, sie hätte etwas für ihn zu erledigen oder befände sich auf einem weiteren Erkundungsflug. Jedoch wurden die Menschen misstrauisch. Man hatte ihnen nie erzählt, das die alten Aufzeichnungen zutreffend waren. Was würden sie sagen, wenn sie erführen, dass Nayla das von Anfang an wusste? 

 

Auch Töge war sich nicht sicher. Er merkte aber auch, dass Nayla nicht mehr das kleine Mädchen von damals war, sondern sich entwickelt hatte und bald vor einer Entscheidung stand. Er war ein kluger Mann und hatte aus ihren Gesprächen mehr entnommen als sie tatsächlich erzählt hatte. Abgesehen von Ayla gab es wohl noch jemanden, einen Mann namens Fiete, der zwar der Dorfälteste, aber noch ziemlich jung war. Er hatte die Aufgabe des Ältesten übernommen, nachdem sein Vater frühzeitig verstorben war und man ihn bat, den Posten zu übernehmen, bis ein Nachfolger gewählt werden konnte. Wie sich herausstellte, wollte die Dorfgemeinschaft ihn als Ältesten. Und Nayla mochte Fiete, sehr sogar. Auch wenn sie das nie erwähnt hatte. 

 

Töge spürte, das eine Entscheidung getroffen werden musste. Nayla konnte ja nicht einfach auf die andere Insel ziehen, schließlich hatte sie ihre Familie hier die sich sorgen würde. Doch was würde passieren, wenn man den Menschen jetzt erst von der anderen Insel erzählen würde? Sie würden es als Verrat bezeichnen, dass man sie so lange in Unkenntnis gelassen hatte und hätten damit Recht. 

 

Er dachte sehr lange darüber nach und beschloss schließlich Nayla von seinen Erkenntnissen zu berichten und sie selbst zu fragen, was sie eigentlich möchte.

 

Eines Abends, als sie gerade von einem weiteren Ausflug zurück kam, rief er Nayla zu sich in seine bescheidene Hütte um ihr seine Beobachtungen und Überlegungen mitzuteilen. 

 

„Ja, du hast Recht mit deinen Überlegungen. Ich mag Fiete sehr, habe es ihm aber noch nicht gesagt. Ich weiß nicht, wie er mich sieht, das habe ich mich nicht getraut zu fragen. Aber wie es weiter gehen soll, weiß ich nicht. Wir haben alle viel zu lange im Ungewissen über die zweite Insel und ihre Bewohner gelassen. Wenn wir es ihnen jetzt erzählen, würden sie es zu Recht als Verrat ansehen. Andererseits kann ich auch nicht sagen, ich hätte die Insel erst vor zwei Wochen entdeckt. Niemand würde mir ernsthaft glauben, warum ich dann unbedingt dort wohnen will.“

 

„Dann lass uns noch einige Tage darüber nachdenken, vielleicht fällt uns noch eine Lösung ein. Und wenn du wieder drüben bist, wäre es gut, wenn du Fiete ins Vertrauen ziehen würdest. Möglicherweise fällt uns zu dritt eine Lösung ein.“

 

Nur wie könnte die Lösung aussehen? Darüber lagen sie noch einige Stunden wach.