Von Agnes Decker

Aus dem mit blau-weißen Fliesen und schmiedeeisernen Balkonen bestückten Haus ist eine junge Frau getreten. In dem Wolltuch, das sie quer über den Körper gespannt hat, liegt ein schlafendes Baby. Nur der Kopf ist zu sehen, der sich an ihren Rücken schmiegt. In einer Hand trägt die Frau, die einen erschöpften Eindruck macht, einen abgeschabten Koffer, an der anderen hält sie einen kleinen Jungen, der schlaftrunken hinter ihr her stolpert. Sie lehnt sich gegen das mit Blumenranken verzierte Geländer, das links und rechts der fünfstufigen Treppe angebracht ist. Ihr Gesicht ist schweißnass und sie zittert am ganzen Körper. 

 

Eine dunkle Limousine fährt vor. Die Beifahrertür wird von innen aufgestoßen.

 

 „Date prisa. Beeil dich“, zischt eine heisere Stimme. 

 

Zögernd legt die junge Frau das Baby auf den Vordersitz, öffnet  die Türe zum Fond des Wagens und hebt ihren Sohn hinein, der sich wie ein Embryo zusammenrollt. Dann nimmt sie das Baby auf den Arm und steigt ein. Hinter dem Steuer des Wagens sitzt eine Frau, älter als sie selber, so um die Mitte bis Ende vierzig, mit langen dunklen Haaren, die sie mit einer Spange am Hinterkopf festgesteckt und einen Hut darüber gestülpt hat.  Auf den ersten Blick könnte man sie für einen Mann halten.

 

A dónde vamos?“? Wohin fahren wir?“ Die junge Frau räuspert sich, ihre Stimme ist leise, so als hätte sie Angst, dass jemand sie hören könne. 

 

A un lugar secreto donde estés a salvo. An einen Ort, an dem du sicher bist.” Die Fahrerin öffnet das Fenster. 

 

Kalte Luft strömt in den Wagen und macht das Atmen schwer. Obwohl erst Anfang Mai, hat das Thermometer am Vortag die Dreißiggradmarke geknackt und der Smog liegt wie eine Haube über der Stadt. In den Nächten dagegen sinkt die Temperatur bis zum Gefrierpunkt. Die junge Frau zieht das wollene Tuch enger um ihre Schulter. Als das Baby zu wimmern beginnt, öffnet sie ihre Bluse und legt es an die Brust. Die Frau hinter dem Steuer sieht die Striemen und Vernarbungen auf dem Körper der anderen. Sie schaut weg, als wäre es etwas, das niemand anschauen solle. Dann lässt sie den Motor an und fährt los.

 

Ruhig gleitet die Limousine durch menschenleere Straßen, vorbei an immer noch vernagelten Schaufensterscheiben, vorbei an Müllbergen, vorbei an bewaffneten Soldaten auf Kontrollgang. Die früher quirlige, laute, überquellende Metropole hat sich in eine Geisterstadt verwandelt. Die Fahrerin stellt das Radio an. Sofort füllt sich der Innenraum des Wagens mit beschwingter Musik, die einen seltsamen Kontrast  zu der düsteren Kulisse hinter den Fensterscheiben bildet.

 

Die junge Frau ist eingeschlafen, ebenso das Baby, das ihre Brust losgelassen hat, und auch das Kind auf dem Rücksitz schläft. Trotz des geöffneten Fensters ist es stickig und riecht nach vollen Windeln und dem scharfen Schweiß, den die Angst verursacht. 

 

Als eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher erklingt, wird die junge Frau wieder wach. Der Sprecher rühmt die Regierung, die veranlasst hat, dass durch weitgreifende Lockerungen das normale Leben langsam wieder Fahrt aufnimmt. Auch die abendliche Sperrstunde solle bald wieder aufgehoben werden,  die Menschen wieder ausgehen können, es würde Musik und Tanz geben. Die Fahrerin schüttelt den Kopf und schlägt mit geballter Faust auf das Lenkrad, so als könne sie nicht glauben, was sie hört.

 

Aus der Dunkelheit tauchen jetzt die  Umrisse der gewaltigen Kathedrale auf. Die Limousine gleitet an ihr vorbei, passiert die Plaza de la Constitución, wo sich einmal die Menschenmassen drängten, fährt vorbei am Chapultepec mit seinen Schlössern, Parkanlagen und Seen im Westen der Stadt, vorbei  an der azurblauen Fassade der Casa Azul, die das Frida-Kahlo-Museo beherbergt. Hier hängt, neben einem großen Bild der Künstlerin, auf dem sie eine bunte Maske trägt, ein riesiges Banner. „Ni una menos  Nicht eine weniger“, steht darauf in riesigen Buchstaben. 

 

„Machismo“, zischt die Frau am Steuer und spuckt durch das geöffnete Fenster. „Ya  basta. Genug.“ Sie dreht sich zur Seite und schaut auf das schlafende Kind, das eine Hand auf die Brust seiner Mutter gelegt hat.

 

Die Fahrerin beginnt zu sprechen. Sie spricht über den verzweifelten Kampf der Latinas um ein angstfreies Leben, darüber, dass täglich mehr Frauen am Femizid sterben als an der Seuche, ermordet, vergewaltigt, gequält, zu Hause in ihren Wohnungen, so wie die junge Frau, der sie sich jetzt zuwendet und die aus dem Fenster schaut, als solle niemand ihren Schmerz und die Verzweiflung sehen. Dann spricht die ältere Frau über den Lockdown, der das Töten vorangetrieben hat und dass es, trotz der Lockerungen nicht aufhört, sondern, es ständig mehr werden.  

 

Qué absurdo. Wie absurd.“ Die Frau am Lenkrad spuckt abermals durchs geöffnete Fenster. Ihre Stirn hat sich in Falten gelegt. Sie nimmt eine Hand vom Steuer und durchwühlt das Handschuhfach. Dann zieht sie eine Schachtel heraus.

 

 „Te gustaría también un cigarrillo? Möchtest du eine Zigarette?”, fragt sie und hält der anderen die zerknautschte Packung hin. Die Frau auf dem Beifahrersitz schüttelt den Kopf. 

 

Mit der Zigarette im Mundwinkel spricht die Fahrerin weiter. Die Worte sprudeln heraus, vermischt mit dem brennenden Qualm des Tabaks. Ihre Augen blitzen und die Falten in ihrem Gesicht sind tiefer geworden. Sie spricht über die Frauen, die auf die Straße gegangen sind, Studentinnen und Akademikerinnen zuerst, dann die Angestellten, die Arbeiterinnen, die Straßenverkäuferinnen, die Prostituierten. Alle gemeinsam für die eine Sache. Mit erhobener Faust skandiert sie immer wieder:“Ni una menos. Nicht eine weniger.” Immer schneller redet sie, über die Bewegung der Latinas in Argentinien, in Kolumbien und hier in Mexico und, dass trotz ihres Kampfes oder deswegen die Femizide zugenommen haben. Die Ehemänner, Partner, Brüder und Väter es nicht ertragen konnten, dass die Frauen sich erhoben haben. Jetzt ist ihre Stimme leiser geworden. So etwas wie Resignation hat sich hineingeschlichen. Aber nur kurz. Dann wird sie wieder lauter und kämpferischer. Sie spricht über den Mut der Frauen und dass sie nichts zu verlieren haben, außer ihrer Angst. Sie redet und redet, wie eine Stadtführerin, die ihren Text zum hundertsten Mal abspult oder wie jemand, der nicht mehr aufhören kann, bis alle Worte gesagt sind, egal, ob man ihr zuhört oder nicht.

 

Die Limousine hat nun die Paseo de la Reforma erreicht, fährt vorbei an den spiegelnden Fassaden der Hochhäuser, mit Blick auf die von weitem sichtbare monumentale Siegessäule mit dem goldenen Engel auf der Spitze, dem Zeichen der Unabhängigkeit.  Sie lassen die Zeugnisse von Reichtum und Wachstum hinter sich, ereichen die Vororte mit ihren schmuddeligen Wohnblöcken und den Terrassen mit den kleinen, bunten, heruntergekommenen Häusern. Auf der Landstraße hinter der Stadt beschleunigt die Fahrerin das Tempo. Sie haben noch eine weite Strecke vor sich.

 

Die Frau auf dem Beifahrersitz ist wieder eingeschlafen. Ihr Kopf, der ihr auf die Brust gesunken ist, hüpft bei jedem Schlagloch auf und ab. Lange Zeit hört man nur die leise Stimme des Radiosprechers, untermalt von den Atemzügen der Schlafenden, und ab und zu das Husten der Frau hinter dem Lenkrad. 

 

Unentwegt schraubt sich die Limousine die Berge hinauf und hinunter, über holprige Wege, auf denen zwei Fahrzeuge nicht nebeneinander passen. Aus dem Radio erklingt jetzt wieder Musik, ein Saxofon, darüber eine Frauenstimme, die von Liebe und Heimat singt. Die Fahrerin wischt sich über die Augen, so als wolle sie die Melancholie wegwischen, die sich für einen winzigen Moment hinter die Mauer in ihrem Innersten geschlichen hat. 

 

Vor dem Fenster erstreckt sich eine karge Hochebene, unwirtlich und abweisend,  mit harten Grasbüscheln zwischen kleinen und großen Felsbrocken, übermannshohen Agaven und vom Wind gebeutelten Bäumen. Dahinter erstreckt sich bis zum Horizont das gewaltige Massiv der schneebedeckten Berge der Sierra Nevada. Rosarot erscheint es im Licht der aufgehenden Sonne wie ein kitschiges Postkartenmotiv.  Die Fahrerin öffnet das Fenster und lässt die kühle Luft hinein. Dann berührt sie die junge Frau an der Schulter und schüttelt sie leicht.

 

 “Oye, tienes que despertar, estaremos allí en un momento. He, du musst aufwachen, wir sind gleich da.” Die Beifahrerin zuckt zusammen, öffnet die Augen und schließt sie sogleich wieder, so als möchte sie das, was vor ihr erscheint, gar nicht sehen. Sie schüttelt den Kopf, immer wieder.

 

Ya llegamos.Mira, esta es la granja de mujeres. Wir sind da. Schau, das ist die Farm der Frauen.” Mit einer Bewegung, die zugleich Stolz als auch Erleichterung ausdrückt, zeigt die ältere Frau nach vorne, auf eine unendlich erscheinende weiße Mauer, die mit Stacheldraht nach oben abgesichert ist. 

 

Como una prisión.Wie ein Gefängnis”, flüstert die junge Frau.  “Por qué estamos encerrados? No hemos hecho nada? Warum sperrt man uns ein, wir haben doch nichts getan?” Sie schüttelt immer noch den Kopf.  

 

 Ein breites Stahltor gleitet wie von selbst zur Seite, lässt den Wagen passieren und gibt den Blick frei auf die Ansammlung weißer eingeschossiger Häuser, die sich mit ihren bunten Gärten dicht an das gewaltige Felsmassiv pressen.

 

Te llevaré a la estación de cuarentena ahora. Allí nos quedamos unos días. Ich bringe euch jetzt zur Quarantänestation. Dort bleiben wir ein paar Tage.“ Der Atem der älteren Frau geht stoßweise, während sie spricht.   “Son hermanos, el virus y el machismo, peligrosos, mortales. Uno en el cuerpo, el otro en la mente, no conocen fronteras, están en todas partes, en todo el mundo. Pero los derrotaremos a los dos. Sie sind Brüder, der Virus und der Machismo, gefährlich, tödlich. Der eine im Körper, der andere in den Köpfen, sie kennen keine Grenzen, haben sich ausgebreitet auf der ganzen Welt. Aber wir werden sie besiegen, beide.” 

 

Sie wendet sich um. Mit einem Druck auf die Fernbedienung schließt sich das Tor, gleitet lautlos zwischen Träume und Wirklichkeit.

Version 3