Von Kornelia Wulf

Dieser Geruch! Fast fluchtartig schnellt Paul vom Sessel hoch, eilt zum Fenster und reißt die Läden auf. Als würden die Sünden erst kurz vor Schluss verdaut. In seinen letzten Stunden duftet der Mensch nicht wirklich gut, denkt er. Obwohl der Mann, der in dem Bett neben dem Petrusbild liegt, jeden Tag frisch gewaschen und gepudert wird.

Als er Schwester Thekla vor ein paar Minuten in den Mantel half, hingen die Arme schwer herab.  „Jetzt schläft er ganz friedlich“, raunte sie, „aber bald …“. Und in ihren Taubenaugen nahm er ein erschöpftes Zwinkern wahr, die, eingesponnen in einem feinen Faltenkranz, schon so viele hatten gehen sehen. Das Gesicht dem Schatten zugewandt, krümmen die Glieder sich – seltsam verrenkt – unter der Daunendecke. Noch gestern so kernig wie Goliath, seufzt Paul, und jetzt nur ein Bündel Mensch. Begleitet von rasselnden Atemmanövern baut er das Kreuz und die Kerzen auf der Kirschholzkommode auf. Holt das Krankenöl aus dem oberen Schubfach. Und als ob ein sakrales Modul seine Sprache steuere, hört er sich murmeln. Die rituellen Silben. Die von dem holprigen Pfad auf dem Weg in Sein Reich alle Stolpersteine räumend, sich nun mit dem Klang der Standuhr vereinen,

die achtmal schlägt, im Zimmer nebenan …

***

Mai 1979

„Tuff-Tuff-Tuff- die Eisenbahn. Wer will mit ins Smaugland fahr`n? Alleine fahren mag ich nicht und bringt auch eure Schwerter mit“, singt Paul, während er mit entschlossener Hand nach der Waffe greift, die auf dem Teppich funkelt. Nach dem Frühstück hatte er auf die Klinge gespuckt, feste gewienert, bis sie im Morgenlicht blitzte. Und seine Lippen haben kaum gezuckt, als ein roter Tropfen die goldene Schneide verschmierte. Am letzten Sonntag, nachdem er die Kirche verschloss, hatte Onkel Abraham die Grimasse des Schwarzen Ritters aufgesetzt und mit dem Schwert ein Kreuz in die Luft geritzt, bevor er es auf Mamas Geschenk landen ließ. Auf dem dicken Buch, das Paul so viel erzählt, wenn er es aufschlägt und das direkt neben seinem Geburtstagskuchen lag. Aus dem – zwischen Kirschen und Sahnetupfen – 8 Kerzen ragten. Und alle 8 Flammen flackerten noch einmal auf, bevor Paul ihnen das Licht ausblies.

Mit nur einmal pusten.

Am Abend vor dem Schlafengehen liegt Paul nun in Mamas Arm. Kuschelt sich in die Beuge, in der es nach Kernseife riecht – dienstags vermischt mit einer Prise Persil – und wo es freitags nach Fisch schmeckt, wenn er an der weichen Haut leckt. Die Wimpern auf die Wangen gelegt, folgt er dem Zwerg in den Einsamen Berg … Und wenn er ganz fest die Lider zusammenquetscht, sieht er Edelsteine im Goldschatz blinken.

Den Rücken wie eine Armbrust gespannt, sitzt Paul in seiner Höhle. In Onkel Abrahams Arbeitszimmer selbst gebaut. Das hat er ihm heute mit Handschlag erlaubt. Den Küchentisch neben die Standuhr gerückt, bekam er die olle Decke in die Hand gedrückt. Hinter Hüfthalter und Hut im Schrank verbannt, müffelt sie nach dem Käse, den Mama Harzer nennt.

„Tuff-Tuff …“, die Lok klappert über die Gleise.

Dann. Beißender Qualm. Der Smaug stemmt seinen Drachenbauch hoch, in dem ein paar Opfer schon heulen. Weit spreizt er das pockige Maul, legt Säbelzähne frei, bis sich zähe Fäden aus Spuckeschleim – grüngiftig wie Reptilienbubblegum – zwischen Kieferhälften ziehen. Schon holt Paul aus, klappt das Visier des Schwarzen Ritters auf, schwingt das Schwert …

 … als dieser hohe Absatz über den Teppich schleift. Von Onkel Abrahams Schuh. Auf dem zieht er sein Bein hinter sich her. „Wie ein Storch im Salat“, sagt Mama immer. Paul linst durch den Deckenspalt – und sein Herz trommelt im Takt des kleinen Grenadiers – weil Mama plötzlich wimmert.

„Abraham, das darfst du nicht.“

Und als stecke ein Bauklotz in seiner Kehle fest, würgt er

„Edith … doch gewusst … nicht für immer … ein Jahr Mission … Afrika …. Gott steh uns bei …“

***

Der Laden schlägt gegen die Raufaserwand. Paul schreckt auf. Und während er das Fenster schließt, fliegt ein Splitter in sein Gesicht. Der sich in den Augen wie ein Balken anfühlt, als aus dem Mund des Bündels Sabber fließt.

„Warum habe ich wieder nicht Nein sagen können?“

Seine Kuppen stippen auf die Schläfen, als könnten sie ihm Antwort geben.

„Sie müssen lernen, auf Ihre innere Stimme zu hören. Ihr folgen, wenn sie `Schluss´ ruft.“

Und fast spürt er sie noch. Frau Werners Stimme. Die sich wie ein feiner Film auf seine geschundene Seele legte. Sie hatten ihn in die Reha geschickt. Burnout, sagten sie – die Höflichkeitsformel, wenn ein Pfarrer durchdreht – nachdem er vor dem Altar zusammenbrach. An Christi Himmelfahrt. Vom Kirchplatz schallte das Grölen der Väter, als ein Sonnenstrahl durch die Scheibe stach. Mutiert zu einem flammenden Schwert, traf er das Herz, das – kunstbleiverglast – gleich zerbrach. Und das selige Grinsen des Hl. Quirinus flog just gen Himmel. Doch das hatte er keinem gesagt. Wer weiß, wohin sie ihn sonst noch gebracht hätten.

So satt hatte er es gehabt. Dieses hohle Gestammel im Büßerkabuff – während saurer Schweiß sich in das Holz einfraß – statt ein Beichtgespräch auf Augenhöhe zu suchen. Dieses Endlosgefasel im Kirchenvorstand, ob Bugs Bunny auf der frisch gestrichenen Kita-Wand das Ohr aufstellen oder abknicken soll.

In all diesen Wochen des Haderns und Bangens stand Leo ihm bei. Leo. Sein Spezi aus dem Priesterseminar. Der die Sprossen der Ellbogenleiter überspringend ganz oben gelandet war. An der Schnittstelle Seiner Heiligen Hallen träumt er manchmal. Von dem Wasser, das er Ihm endlich reichen kann.

Er hatte ihm einen Lehrauftrag besorgt. Halbes Deputat. Und als Paul sich schon auf seinen Outbackpfad träumte – einen Koala streichelnd im roten Sand – rief Leo ihn an.

„Der alte Abraham Klein macht`s nicht mehr lang. Und sein Nachfolger tritt die Stelle erst am 15. an. Und Schulze, aus der St. Ägidiusgemeinde, pflegt sein sensibles Inventar gerade in einem Sabbatjahr. Unfassbar. Also, lass mich nicht hängen, für dich ist das doch fast ein Heimaturlaub.“

Heimat, seufzt Paul, sich in die Kuhle des Sessels rollend. Beinahe embryonal.

***

November 1979

Ein Schatten fällt auf sein Gesicht, als der Storch auf dem Kirchturm sein Nest verlässt und plötzlich Fritz vor ihm steht. Eine Blutwurststulle zwischen den Zähnen schmatzt er:

„Ey, wo ist eigentlich dein Vater?“

„Der jagt wilde Tiere in Afrika“, und der Hals von Paul versinkt im Kragen, denn das Lügen kann Er gar nicht ertragen, „in seiner Hütte liegt ein Teppich aus Fell. Von der grauslichen Bestie, die Menschen frisst. Und jeden Montag schickt er mir ein Paket. Mit Löwenfrikassee.“

Ein krähendes Lachen hallt über den Kirchplatz – den Finger im Ohr dämpft er den Schall – bevor Fritz blöde guckt, weil er sich am Blutwurstbrei verschluckt. Und zwischen Gehuste und wildem Gerotze hört Paul so etwas wie Pfarrersfotze. Von irgendwo tönt ein reibendes Knistern, als ob jemand sein Herz in Streifen risse, während er die eiserne Faust zu spüren glaubt, die ihn in die schwarze Rüstung sperrt …

***

Die müden Glieder an der Lehne gedehnt lacht Paul leise auf. Wie der Blaue Planet sah sein Bizeps damals aus. Nachdem Joel ihn in die Zange nahm. Nicht nachgab, bis das Blut abkühlte, während Fritz sich bereits am Boden krümmte.

Joel, der junge Vikar.

Der ein paar Wochen später in das neue Pfarrhaus gezogen war, in dem Paul und Mama schon wohnten. Ihre Siebensachen in die Koffer gepackt, hatte das Taxi sie zu Pfarrer Schulze gebracht. Der als wachsamer Hirte die St. Ägidiusgemeinde regierte und dem nun Mama den Haushalt führte.  Während Abraham sich in Buße übte und – mehr als ein Jahr in Afrika – sein geistliches Ego versprühte, wo er hungrige Waisen und verlassene Mütter mit Seinen Worten fütterte.

Joel. Der Gedanke an ihn lässt Erinnerung schimmern.

Er hatte ihn in die Mannschaft geholt. An die Seite von Fritz. Der wie Zerberus heulte, wenn sein Bauch den Ball einfing. Und das Spiel der Muskeln, ohne nutzlose Worte, zog einen Schlussstrich unter die Beziehungsprobleme.

Und noch einmal streift Paul mit Joel durch die Auen, durch die kühlen Schleier des frühen Morgens, das Geschenk von ihm fest in der Hand. Und, während er die Angel neben die Schenkel gelegt, das Fischmaul von seinem Haken erlöst, staunt Joel ihn an. Als er sorgsam die blutenden Wunden streichelt mit federnden Samariterfingern.

„Paul“, ruft er, „du bist berufen. In Schwärmen werden sie zu dir kommen, sich um die besten Plätze rangeln, wenn du das Netz einholst. Mit warmer Hand.“

Nur ein paar Monate später fuhr er ihn zur Fakultät.

Während Erinnerungen sich in Weichschaum wiegen, ertönt hinter dem Kirschholzmöbel plötzlich ein Stöhnen und das Bündel unter den Daunen beginnt sich zu regen. Behände stemmt Paul sich vom Sessel hoch, als Petrus ihm ein Zeichen gibt. Den Finger in die silberne Schale getunkt, strömt ein Hauch von Zimt aus dem heiligen Öl, der ihn Milchreis schmecken lässt. Und schon will er die sterbenden Glieder salben, als sein Blick auf den hohen Absatz fällt, den Schwester Thekla unter den Nachtschrank stellte. Die Hand nach der bleichen Stirn ausgestreckt, rinnt kalter Schweiß in die Soutanelle, weil in seinem Hirn eine Schranke fällt und er sein geistliches Ziel verfehlt.

`Mein lieber Herr Jesus, jetzt es so weit´, denkt er, `da ist etwas in mir, das nach Hilfe schreit´,

als dieser Laut wieder seine Seele quält – dieses zähe Schluchzen, dieses stockende Weinen – das aus Mamas Zimmer zu ihm herüber tönte – manchmal hörte er auch, wie sie stöhnte – und da ist etwas in ihm, das nie vergisst, wer ein Loch in ihr heiles Leben riss.

Und als dirigiere der Ritter im schwarzen Gewand – sein alter Kumpan aus der Kinderzeit – die geballte Faust, den erhobenen Arm – holt Paul weit aus …

… bis das hölzerne Kreuz auf der Raufaser scheppert und das heilige Öl sich in den Teppich einfrisst.

„Herrje“, denkt Paul, „wenn das Schwester Thekla sieht.“

Über Flammen, die nun unruhig flackern – und ihr Schattenspiel an der Wand veranstalten – beugt er sein Haupt. Und löscht den Kerzen das Krankenlicht aus.

Mit nur einmal pusten.  

 

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