Von Rolf Breuer
Vor weit über tausend Jahren, in der Blütezeit der Tang-Dynastie, gab es in China einen Fürsten namens Da-Tou. Der Adelsmann hatte den schärfsten Verstand weit und breit, und es gab niemanden im ganzen Kaiserreich, der klüger war als er. Darauf war der Fürst so stolz, dass er seinen Verstand hütete wie einen Goldschatz und nichts an sich heranließ, was diesen Schatz gefährden könnte.
Und es kam für ihn die Zeit, als sein Verstand ihm sagte, dass er eine Frau heiraten müsse: weil das alle täten und weil nicht alle irren könnten. Und er wählte sich die Tochter eines fürstlichen Nachbarn aus, Li-Ming, eine Frau so schön wie morgendlicher Tau im Sonnenlicht. Und betörend wie alle Düfte der paradiesischen Gärten zusammen.
Die Fürstentochter aber verfügte über eine große Klugheit, die Klugheit einer Frau, so klug, das all ihr Wissen, all ihr Verstand dem Fürsten verborgen blieb – aus gutem Grund. Und so gab es nichts, was einer Hochzeit im Wege gestanden hätte.
In der Hochzeitsnacht nun geschah es, dass die Gattin mit dem Gatten zusammenliegen wollte, wie es der große Himmel Mann und Weib mitgegeben hat. Da fuhr eine entsetzliche Angst dem Fürsten in die Glieder, dass sich die Haut am ganzen Körper rot färbte und feuchter Schweiß in Tropfen auf der Stirne stand.
„Was wäre,“ so durchfuhr es ihn wie ein zuckender Blitz, „was wäre, wenn die Frucht dieser oder späterer Nächte kluge Kinder wären?“ Kinder, die seinen einzigartigen Verstand von ihm erbten, so einzigartig klug wären wie er selbst, nein, vielleicht sogar noch klüger? Was bliebe dann von ihm? Sein ganzes Leben hing an diesem Moment, so dünkte es ihm, und er wusste keinen anderen Rat als den Griff zu seinem Schwert.
Und als er es erhoben hatte zu einem furchtbaren Hieb, sah Da-Tou in die Augen seiner Gattin Li-Ming, und sein Atem stockte, seine Arme erlahmten. Das Langschwert sank auf die Bettstatt zwischen die beiden und lag dort bis zum frühen Morgen, und Mann und Frau blieben wach – und unvereint – die ganze Nacht. Und die Nacht darauf. Und darauf. Und darauf.
Der Kummer von Li-Ming war groß, so groß wie der höchste Turm der Großen Mauer. Was konnte der Grund sein für das seltsame Verhalten von Da-Tou? Ihre Reize waren es wohl nicht, denn wie oft hatte er sie verliebt und bewundernd angesehen, gerade, wenn sie sich nach abgelegter Kleidung an ihn schmiegen wollte. Aber immer schreckte der Fürst dann verzweifelt zurück – und das Schwert lag nach wie vor trennend zwischen ihnen!
Eines Nachts wachte Li-Ming auf und spürte, wie ihr Gatte sich auf den weichen Damasttüchern hin und her wälzte, ohne dass er aufwachte. Plötzlich stöhnte er vor sich hin: „Niemand darf klüger sein als ich, auch meine Kinder nicht!“, und wiederholte das bestimmt zehnmal. Das Schwert war ihm zum Wächter seines Verstandes geworden und zur Mauer gegen die bedrohliche Natürlichkeit.
Li-Ming erschrak zunächst und wurde traurig, aber allmählich wurde ihr bewusst, dass Kinder niemals die wahre Klugheit des Vaters gefährden konnten, nur die falsche. Schon in den nächsten Tagen sann die Fürstin darauf, wie sie den Gatten des Nachts überlisten könnte. Weil ihr eine rechte Idee nicht einfallen wollte, schickte sie einen verschwiegenen Boten zu ihrer Mutter und fragte um Rat.
Die Antwort ließ nur wenige Tage auf sich warten. „Nimm die Sache selbst in die Hand“, riet ihre Mutter der Fürstin, mit feinsten Pinselstrichen geschrieben auf einem weichen, handgeschöpftem Bogen aus Fasern vom Papiermaulbeerbaum. Und weiter war zu lesen, sie solle dazu die geheimen Worte sprechen: „Shuō zhèngshì, qīn’ài de!
Eines Abends – es war schon später Herbst – sagte Li-Ming zu ihrem Mann: „Ich friere des Nachts immer so. Und da wünsche ich mir das wärmende Fell des Bären, den Du im Sommer so mutig erlegt hast!“ – „So soll es ein!“ antwortete Da-Tou und ließ das Fell bringen. Im Dämmerlicht des Schlafgemaches gelang es der Fürstin, das Bärenfell so geschickt hinzulegen, dass es das Schwert zwischen ihnen völlig verdeckte.
Und als der Gatte eingeschlafen war, robbten sich die Finger von Li-Mings linker Hand Stückchen für Stückchen über das Fell an den Gatten heran und schlichen schließlich unter seine Decke. Am Ziel angekommen, besann Li-Ming sich auf den Rat ihrer Mutter: „Nimm die Sache selbst in die Hand!“ Und sie nahm die „Sache“ selbst in die Hand, und wie! Schließlich flüsterte sie dem in Wallung geratenen Gatten noch die geheimen Worte „Shuō zhèngshì, qīn’ài de“ ins Ohr, knisternd und durch die Zungenspitze zärtlich begleitet. Und es geschah das, was stärker ist als der schärfste Verstand – und doch so logisch, wie es die Natur nun einmal ist.
In den Monaten danach schwankte Da-Tou zwischen der Sorge, bald nicht mehr der Klügste im Lande zu sein, und der neugierigen Freude auf das erste seiner Kinder. Aber als die Tochter auf der Welt war und er sie heranwachsen sah, mit einer so unschuldigen kindlichen Klugheit, verschwand seine Sorge mehr und mehr. Und umso stärker, als noch drei weitere Sprösslinge das Licht der Welt erblickten. Sie beide, Fürst und Fürstin, lebten noch lange zufrieden mit ihren sechs einzigartigen Klugheiten.
Die geheimen Worte der Mutter, die so wirksam waren, blieben allerdings nicht lange geheim. Denn Li-Ming war so voller Freude über ihren Erfolg, dass sie der besten Freundin die Worte der Mutter verriet. Von da an verbreitete sich „Shuō zhèngshì, qīn’ài de“ im ganzen Kaiserreich der Tang, innerhalb weniger Wochen – Worte mit Flügeln wie ein Vogel. Und die Fruchtbarkeit im Kaiserreich der Tang erreichte in den folgenden Jahrzehnten ein nie da gewesenes Ausmaß.
Nachwort:
Erst 1968, weit mehr als ein Jahrtausend später, landete der geflügelte Zauberspruch „Shuō zhèngshì, qīn’ài de“ auch schließlich im zentraleuropäischen Deutschland. Seitdem beeinflusste er dort nachhaltig die rasante Veränderung in der Beziehung der Geschlechter.
Glossar:
1) (chin.) „大头“ bzw. „Dàtóu“, gesprochen etwa „Da-Tou“; übersetzt: „großer Kopf“
2) (chin.) „黎明“ bzw. „Límíng“, gesprochen etwa „Li-Ming“; übersetzt „Morgenröte“
3) (chin.) „说正事,亲爱的“ bzw. „Shuō zhèngshì, qīn’ài de“, gesprochen etwa „Schuo scheng schi, chi naida“; übersetzt „Zur Sache, Schätzchen!“
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