Von Regina Wolf-Egger

„Marie!“, ruft es hinter mir, als ich mich im Getümmel zwischen den Marktständen durchdränge. Auf dem Kaiser-Josef-Markt brummt es an diesem Vormittag. Die Bauern aus dem Umland haben alles aufgeboten, was ihre Anbauflächen jetzt im Frühherbst hervorbringen: orange Kürbisse leuchten zwischen grünen Paprikaschoten hervor, rotwangige Äpfel und blassgelbe Butterbirnen sind neben duftenden Isabellatrauben und bosnischen Zwetschken ausgelegt.

Und inmitten der Farbenpracht steht Theresa in ihrem kornblumenblauen Kleid mit orangefarbenem Blumenprint wie ein Paradiesvogel und winkt nach mir. Auf gut zehn Zentimeter hohen Plateausandalen läuft sie mir entgegen und wirft die Arme um mich.

„Marie! Dass wir uns hier treffen!“

Trotz der hohen Absätze reicht mir Theresas Scheitel nur an die Nase, denn ich komme nach meinem Vater, der mit seinen ein Meter Fünfundneunzig an der Fakultät alle anderen nicht nur in seiner fachlichen Brillanz überragte. Als Vorstand des Instituts für Moraltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät war Prof. Dr. Ulrich Grassl früher ein angesehener Wissenschaftler, bis er vor neun Monaten, kurz nach dem Krebstod meiner Mutter, einen schweren Schlaganfall erlitt. Jetzt ist er nur noch mein Vater, sitzt im Rollstuhl, kann nicht mehr sprechen und ist auf die Pflege in einer Seniorenresidenz angewiesen.

Theresa macht einen Kussmund in meine Richtung und bemerkt anerkennend: „Gut siehst du aus, Marie! Hast du Urlaub?“

Ich lache.

„Nein, Theresa, ich habe gerade einen Vortrag im Eltern-Kind-Zentrum gehalten und habe nur einen kleinen Umweg gemacht. Den Rest des Tages habe ich mir freigenommen. Ich will endlich in der Haydngasse Ordnung machen.“

Theresa ergreift spontan meine Hand und drückt sie.

„Ach, Marie, du weißt, wie leid mir das alles tut für dich! Das ist jetzt eine schwierige Zeit für dich. Diese Wohnung zu räumen, mit all den Erinnerungsstücken.“

Ich nicke.

„Ja, aber da führt nun einmal kein Weg vorbei. Vater wird nie mehr dort leben können. Zweiter Stock und kein Lift, das ist selbst dann unmöglich, wenn sich sein Zustand verbessert. Dass er noch einmal gehen kann, ist ausgeschlossen, sagen die Ärzte.“

Theresa schlägt die Augen nieder wie ein kleines Mädchen und seufzt.

„Es ist alles so traurig“, murmelt sie. Ihre Betroffenheit wirkt echt und das nimmt nicht wunder, hatte sie doch nicht bloß als Institutssekretärin jahrelang für meinen Vater gearbeitet, sondern war auch eine Schulfreundin meiner Mutter. Für mich war sie Tante Theresa, denn meine Eltern hatten sie in Ermangelung eigener Geschwister schon früh als Wahltante in unsere kleine Familie integriert.

Mutter und Theresa wurden sogar am selben Tag geboren.

Aber das war auch schon die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden, denn vom Charakter und vom Äußeren her waren sie grundverschieden.

Theresa ist heute noch ein Püppchen, schmale Taille, blondes Haar, wasserblaue Augen. Und ihre große Stärke ist es, sich ihrem Gegenüber anzupassen, ihre Mimik und Gestik spiegelt den Gesprächspartner, sie nickt an den richtigen Stellen, weiß Augenaufschlag und Schmollmund treffsicher einzusetzen. Das machte sie zur perfekten Mitarbeiterin in dem von Männern dominierten Institut.

Meine Mutter Sophie Neumann hingegen war bereits mit zwölf am Konservatorium eine begabte Musikerin gewesen. Nach der Matura tourte sie eine Zeitlang durch Europa. Sie hatte sich dem Jazz verschrieben und verdiente ihr Geld in schummrigen Kneipen. Sie saß dabei am Keyboard – raspelkurzes Haar, schwarzumrandete Brille, Napoleon Jacke – und beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Tastatur vor sich. Möglicherweise auch noch ein wenig mit ihrem Bandkollegen Keith. So zumindest kommentierte mein Vater Mutters Treiben, wenn er ein paar Gläser zu viel getrunken hatte. Seine Eifersucht auf Mutters alten Freund konnte er dabei kaum verbergen.

Aber über Mutters Leben als Musikerin wusste ich nur durch Fotos und Geschichten, die sie ab und zu erzählte. Denn als sie 1990 von einer Tournee nach Graz zurückkehrte, lernte sie den aufstrebenden Universitätsassistenten Ulrich Grassl kennen, verliebte sich und wurde bald darauf schwanger. Die Ehe folgte auf dem Fuße, wusste der junge Moraltheologe doch schließlich, was sich gehörte.  Und da ich als Frühchen zur Welt kam, in der 27. Schwangerschaftswoche mit einem Geburtsgewicht von knapp 1000 Gramm, widmete Mutter fortan ihr Leben dem Ergebnis ihrer Liebe zu Ulrich.

„Komm, lass uns ein Glas Prosecco trinken. Auf unser Wiedersehen“, flüstert Theresa und versucht sich bei mir einzuhaken, was ihr aufgrund des Größenunterschieds nicht ganz gelingt. Wir hängen völlig schief aneinander, aber das macht ihr nichts aus. Sie zieht mich an eines der Bistrotischchen, die neuerdings zusammen mit den dazugehörigen Lokalen auf dem Bauernmarkt wie Schwammerln aus dem Boden schießen. Ich lasse mich überreden und erzähle Theresa fast eine Stunde lang von meinem Vortrag in der Eltern-Kind-Gruppe, von Kindern, die auffälliges Verhalten zeigen und damit zu Sorgenkindern ihrer Eltern werden.

Theresa legt den Kopf schief, nickt an den richtigen Stellen und streut hin und wieder ein paar Sätze ein, um mir ihr Interesse zu signalisieren. Sie ist wahrlich eine gute Zuhörerin und kann sich ausgezeichnet auf ihr Gegenüber einstellen. Das lässt mich für einen kurzen Moment an Theresas zweite Seite denken, von der mein Vater ziemlich empört, aber stets hinter vorgehaltener Hand, berichtete. Sie war – wie es meine Mutter einmal spöttisch formulierte – die Institutsmatratze. Denn außer meinem Vater gab es wenige Kollegen an der gesamten theologischen Fakultät, die Theresas Reizen widerstehen konnten.

 

Schon zwölf Uhr! Ich kann die Sache mit der Haydngasse nicht länger aufschieben.

Mit einem sanft gehauchten Wangenkuss verabschieden Theresa und ich uns, und wenig später tauche ich in die verstaubte Luft meiner frühen Jahre ein.

 

Ich lade eine Playlist aufs Handy, Songs aus den Sixties. Mutter hat die immer gerne gehört. Dann mache ich mich ans Aussortieren der Unterlagen.

Ich nehme mir zuerst den Schreibtisch vor, wühle ziellos durch abgelaufene Garantiescheine, bezahlte Rechnungen und uralte Gebrauchsanweisungen.

Da entdecke ich in der untersten Schublade eine Reihe dünner Kalender.

 

 

Ich schlage den ersten auf, er ist aus meinem Geburtsjahr. Ich blättere durch die Seiten. Alle Einträge beziehen sich auf mich.

17.8.1992        Mittelohrentzündung

13.10.1992     Angina

26.12.1992      Pseudokrupp

Rasch wird klar, es handelt sich um ein Verzeichnis meiner Krankheiten und Spitalsaufenthalte, fast so, als wären es die Aufzeichnungen des Leibarztes einer hochwohlgeborenen Prinzessin.

Ich nehme mir die nächsten vor und höre irgendwann ermattet auf.

Die Bilanz der ersten Jahre meines Lebens ist erschreckend:

Fieberkrämpfe, Pseudo-Krupp Anfälle, Spitalsaufenthalte infolge kleinerer Unfälle, Gelenksentzündung, Gipsverbände sowie unzählige Hals- und Ohrenentzündungen, einmal ganz abgesehen von den üblichen Kinderkrankheiten wie Windpocken.

Mir ist schwindelig. Lag es daran, dass ich ein Frühchen war? Hatte ich deshalb ein so schwaches Immunsystem?

Ich sehe Mutter vor mir auf dem Klavierhocker, müde von der Musikstunde, die sie gerade einem unbegabten Schüler gegeben hat. Zusammengesunken, weil ich sie mit meinen dreizehn Jahren mit Vorwürfen bombardiere: „Warum machst du dir ständig Sorgen um meine Gesundheit?“

Irgendwo in meinem Hinterkopf schrillt es und ich höre meinen eigenen Vortrag.

Sorgenkinder sind Seismografen, sie spüren, wenn etwas im Familiengefüge nicht in Ordnung ist. Sie setzen ihre Gesundheit aufs Spiel, um Ausgleich zu schaffen.

Ich fühle mich wie taub, meine Beine sind eingeschlafen. Ich strecke mich.

Mit der Fußspitze stoße ich an das Paket, das neulich von der Universität geschickt wurde. Man hat Vaters Büro geräumt und die Sachen hierhergeschickt. Sicher alter Krempel! Als ob ich nicht schon genug zum Aussortieren hätte!

Soll ich das Paket ungeöffnet in den Container werfen?

Nein, der Respekt vor meinem Vater verbietet es mir.

Ich reiße das braune Packpapier ab. Da kommt ein Schuhkarton zum Vorschein. Das Etikett an der Frontseite zeigt einen hochhackigen Damenschuh. Komisch! Von Mutter kann er die Schachtel nicht bekommen haben, sie hat immer flache Schuhe getragen.

Ich hebe den Deckel ab und sehe einen Stadtplan von Piran und einige Hotelrechnungen.

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals in Piran waren.

Auf die Innenseite des Deckels ist mit schwarzem Permanentmarker geschrieben: „Zur Sache Schätzchen 1991-1999“.

Wie bitte?

Mit Schwung leere ich den Inhalt aus.  

Ein Hundehalsband kullert über den Boden, schwarz mit Metallspitzen.

Ein Hundehalsband? Wir hatten doch nie einen Hund.

Dann ist da ein Stapel kleiner Zettel.

Mein Herz beginnt zu rasen.

Die Papierfetzen ähneln den Briefchen, die wir uns in der Schule geschrieben haben.

Ich erkenne Theresas Schrift.

Mit feuchten Händen falte ich die Zettel auseinander, streiche das Papier glatt.

10.9.1991: Wenn ich dich sehe, habe ich Bauchweh wie ein kleines Mädchen.

30.10.1991: Scheiße! Jetzt ist sie auch noch schwanger! Und wir?

2.8.1992: Später im Sitzungszimmer?

31.10.1992: Du bist mein Lehrer und ich deine Schülerin!

Mit einer heftigen Handbewegung fege ich die Zettel über den Fußboden.

Mein Magen krampft, ich habe einen Eisklumpen im Bauch.

Dann beginne ich Theresas Briefchen aufzulesen und chronologisch zu ordnen. Und schließlich nehme ich mir nochmals die Kalender vor und verzeichne all die Krankheiten mit Datum auf Karteikarten, die ich originalverpackt in Mutters Schubladen entdeckt habe.

Ich lege Kärtchen und Briefe auf den Eichendielen aus.

Da liegt es also deutlich vor mir: das Beziehungsgeflecht meiner Familie. Das Doppelleben des Vaters, das falsche Spiel Theresas, meine frustrierte Mutter und mittendrin das Sorgenkind, das sich um Ausgleich bemüht.

“Nobody feels any pain”, höre ich Manfred Mann’s Band singen. Aber ich weiß es besser als der alte Manfred Sepse Lubowitz, der da den Dylan Song interpretiert.

Ich bin auf einmal sehr müde.

 

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