von Helmut Blepp
Schmerzen kann man sich ausdenken. Die muss man nicht fühlen. Deshalb führte er ein offizielles Tagebuch, in dem er die Qualen beschrieb, die ihm das Leben bereitete, und ein geheimes Tagebuch, dem er in vielen Varianten anvertraute, wie ihn mit der Zeit der Schmerz verlassen hatte.
Du hast wohl den Verstand verloren, hieß es seit seinen frühen Tagen, und er erkannte damals, was es hieß, ihn festzuhalten. Wer den Schmerz überwand, behielt den Verstand. Wer die Wehleidigkeit mit Vernunft niederrang, wurde unempfindlich und erhaben.
Seine Kindheit war eine andauernde Qual, schon angelegt im Kindbetttod der Mutter, erweckt aus Ohnmacht, wenn der Vater seine Anklagen brüllte, genährt von diesem Ausgeliefertsein, wenn seine Brüder ihn schlugen und ins Unerträgliche gesteigert, wenn die Mädchen auf der Straße ihn verlachten.
Er war der Bankert, der Nachgeschlüpfte, der mickrige Kleine mit den Knotengelenken und den Segelohren, gerade gut genug, um im Winter mit Reißen im Rücken die Eierbriketts vom Keller hoch zu schleppen und im Sommer die sandige Erde des ertragsarmen Gemüsegartens feucht zu halten, auch wenn die gleißende Sonne ihm dabei die Haut verbrannte.
Zu allen Jahreszeiten hatte er Blasen an den Händen vom Umgraben der Beete für die Aussaat im Frühjahr, vom Aufhacken des zugefrorenen Fischteichs, vom Holzspalten und -stapeln. Wo die Wunden unter nachlassendem Schmerz verheilten, entstanden nach und nach dicke raue Schwielen, während die Finger, längst zu Klauen geformt, zuzugreifen lernten wie die Backen eines Schraubstocks. Die Blockflöte im Unterricht zerbrach er ohne Absicht, den Arm des spottenden Klassenkaspers ganz bewusst. Er trotzte der Pein des Rohrstocks, sah unentwegt den Lehrer an, der schwitzend seine Schläge verebben ließ und dann verstört aus dem Saal huschte.
Den Schulverweis empfand er als Befreiung. Die Mädchen wichen seinem kalten Blick aus, als er zum Abschied das Gittertor hochstemmte. Keines lachte jemals wieder über ihn.
Zuhause warteten die Männer, doch er war vorbereitet. Er schrie den Vater nieder, bis nur noch ein zitterndes Bündel Mensch vor ihm stand. Er schlug härter zu als seine blutenden Brüder, wehrte sich mit Fäusten, Füßen und Zähnen gegen die Polizisten, schluckte den Staub des Küchenbodens, als alle auf ihm knieten und wurde plötzlich ganz ruhig, als sie ihn aus dem Haus zerrten.
In der Zelle betastete er seine blutverkrustete Nase. Sie tat nicht weh. Auch die aufgeschlagenen Knöchel nicht, und gegen die geprellten Rippen atmete er kräftig an, denn da war nur noch diese absolute Abwesenheit von Schmerz und eine Stille, wie sie ihn noch niemals umgeben hatte.
Der Richterin erzählte er ohne Stocken von dem jahrelangen Schmerz, dem er ausgesetzt gewesen war, aber vernünftigerweise nichts davon, dass er ihn besiegt hatte. Klaglos nahm er ihre Entscheidung hin, das Stift und seine Mauern, den Schlafsaal und den Arbeitsdienst, die Erniedrigungen und den Karzer.
Erwachsen geworden, schickten sie ihn fort. Die Fabrik war laut, die Kollegen nicht an ihm interessiert. Jeden Morgen kam er pünktlich, sortierte Ausschuss vom Band und ging grußlos, wenn die Sirene heulte. Er mietete ein Zimmer und kaufte die Kladden; in der blau marmorierten erfand er sich als Schmerzensmann, in der grün marmorierten gab er sich so empfindungslos, wie er tatsächlich war.
Er zeichnete bis in finstere Nächte hinein die Männerfamilie in Blau, die Front der Schülercliquen, jeden Tritt, die fliegenden Steine, die schneidenden Beschimpfungen. Er übersäte seinen Papierkörper mit unzähligen Wunden, an denen er nicht gestorben war, fügte trotzig noch ein paar Schmisse hinzu, ließ offenes Fleisch eitern und seine geprellten Hoden auberginenfarben anschwellen. Erschöpft schlug er danach die Kladde zu und träumte jede neue Verletzung durch, bis sie ihm vertraut war und Bestandteil einer seiner Biographien wurde.
Die grün umhüllten Abende ließen ihn Städte ersinnen, durch die er ging in einer unsichtbaren Rüstung, geschützt vor Unrat, Rotz und Scheiße, in denen die anderen erstickten. Nichts kam ihn da an, keine hinterhältigen Tritte, keine feigen Stöße in den Rücken, keine Pflasterbrocken an die Schläfen. Den Schmerz hatten die Schutzlosen zu ertragen, wenn sie auf den Trottoirs kauerten, erfolglos Füßen und Stöcken ausweichend, oder wenn sie, klein und hilflos, die schweren Ranzen geschultert, von wattierten Mänteln durch die Menge der Passanten getrieben wurden oder, alt geworden, strauchelten im Sog der Eiligen, die rücksichtslos zahllosen Zielen entgegenstrebten. Stolz in seiner Aura der Unberührbarkeit schritt er durch diese Heere von Peinigern und Opfern hindurch, ein Über-Lebender, der alles ertrug, weil kein Schinder mehr an ihn heranreichte.
Dann traf er sie. Und sie war bereit. Zwei Versehrte auf der Kreuzung zu unterschiedlichen Wegen. Sie ahnten das und tranken sich in schummrigen Kneipen warm. Sie erzählte vom Grau ihres unbeachteten Lebens, er flüsterte ihr aus der blauen Kladde, bis sie weinte vor Mitgefühl im Dunst der von Ernüchterten vergossenen Schnäpse. Da ließ sie alle Vernunft fahren. In seinem dunklen Zimmer, das keine Besucher kannte, fanden sie zueinander, als in ihrer fiebrigen Wallung nur noch ein Ausweg blieb. Was sie fühlten, ging unter im Rausch und ließ nur überwältigende Ohnmacht zurück.
Am Morgen schlug sie die Augen auf, erschöpft wie nach einer langen Krankheit. Befangen drehte sie sich zu ihm um. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und schlief noch tief und fest. Seine Decke war zur Seite geschlagen, so dass er nackt vor ihr lag. Seine makellos weiße Haut schimmerte im Licht der Sonne, die durchs Fenster schien. Blau geädert in marmorner Blässe faszinierte sie der muskulöse Arm, der auf seiner Hüfte lagerte und sich im Rhythmus seines Atems auf und ab bewegte.
So versunken war sie in diesen Anblick, dass sie nur langsam begriff, wie falsch das war, was sie da vor sich sah. Die dämmernde Erkenntnis mischte sich mit Ratlosigkeit. Wo waren die schlecht verheilten Striemen, die seinen Rücken bedecken sollten? Wo die Narben von zahllosen Messerschnitten? Wie konnten die Brandmale verschwunden sein, die von glühenden Zigaretten stammen sollten, die seine Brüder auf seiner Haut ausgedrückt hatten?
Stumm weinend lag sie lange neben ihm, suchte nach den aberwitzigsten Erklärungen für seine Lügen, hätte alles glauben wollen, weil die Wahrheit so verletzte, aber schließlich siegte doch die Vernunft. Entschlossen glitt sie aus dem Bett, zog sich leise an und ging.
Beim Erwachen fühlte er, ohne es zu wissen, die Leere ihres vollzogenen Abschieds. Mehr als das kühle Laken ließ ihn die Stille frösteln. Sie hatte nichts zurückgelassen, keinen Abdruck auf dem Kissen, nicht einmal mehr einen Hauch des vagen Duftes ihres Leibes.
Bleib vernünftig, beschwor er da sein Credo. Nur kein Gefühl. Doch umsonst. Der Schmerz wand sich durch das bewährte Schild, legte sich um seine Brust und gewann an Intensität bei jedem Atemzug. Wie weh das plötzlich tat – einfach weiterzuleben ohne diese fragile Nähe.
Aber er tat es. Die Fabrik blieb, das unerbittliche Förderband, der Ausschuss eines jeden Tages in Gitterkörben als zählbarer Erfolg eines sinnlosen Durchhaltens.
Daheim war nur Wehmut jeden Abend lang, den Blick zur Tür, die Hände verkrampft. Er hielt ergeben still, wenn die quälenden Stiche sein Herz malträtierten, gab sich hin der verdienten Strafe, bis Erschöpfung ihn übermannte und er in sein Bett kroch, wo er im Schlaf ergeben sein Leiden fortsetzte.
Einmal aber stemmte er sich hoch und stürzte hin zu der Lade mit den Kladden. Er packte diese falschen Leben und riss sie in Stücke. Nichts sollte davon übrigbleiben. So warf er sie in die Flammen, und der Ofen wärmte unerbittlich seine Verlorenheit. Da nahm er verzweifelt das Messer zur Hand, doch kein Schnitt wollte glücken. Eine gnädige Ohnmacht rettete ihn vor der Konsequenz.
Gestern hätte ich es hinter mir gehabt, dachte er, als er morgens zu sich kam. Heute habe ich es noch vor mir.
Da klopfte es an die Tür.
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