von Karl Kieser

 

Hatte ich darüber gelesen oder war es ein Bericht im Fernsehen? Ich weiß es nicht mehr, aber es ging um den freien Willen beziehungsweise um die Erkenntnis, dass der gar nicht so frei ist.
Es wurde nämlich behauptet, dass unsere Entscheidungen weitestgehend von der Summe unserer Erfahrungen beeinflusst sind. Demnach wäre der freie Wille eigentlich eine Illusion und unser Handeln eine zwangsweise Folge unserer Vorerfahrungen.
Obwohl mir die Logik sofort einleuchtete – es ist ja nur vernünftig, sich an seinen Erfragungen zu orientieren – war ich über den Verlust meines freien Wilens doch ein wenig enttäuscht.

Diese Geschichte fällt mir ausgerechnet jetzt wieder ein, als ich bei einer Wanderung auf eine Weggabelung treffe. Links oder rechts, das ist hier die Frage. Da es auch keine Wegweiser gibt, wäre ich auf meine Vorerfahrungen angewiesen. Aber die Gegend und auch das ganze Land sind mir völlig fremd. Weder für links noch für rechts sehe ich einen Vorteil. Eigentlich sollte ich die Wanderkarte aus dem Rucksack nehmen und meine Entscheidung nach den Fakten treffen.
Aber he, vielleicht habe ich ja doch einen freien Willen. Ich entscheide mich einfach spontan für … rechts.
Halt! Hat mich da womöglich eine unterschwellige Erfahrung beeinflusst? Vielleicht Resterinnerungen von meinem letzten Blick auf die Wanderkarte?
Mit einem Mal bin ich ganz wild darauf, mir meinen freien Willen zu beweisen. Ganz unabhängig will ich sein. Frei von Vorerfahrungen. Zur Not auch gegen jede Vernunft.
Das wollen wir doch mal sehen. Natürlich habe ich einen freien Willen!
Ich wähle den linken Weg. Die Wanderkarte bleibt im Rucksack.

Im weiteren Verlauf meiner Wanderung habe ich noch oft Gelegenheit, meinem „freien Willen“ zu folgen. Entweder will mir mein Orientierungssinn in Verbindung mit dem Sonnenstand Vorschriften machen oder ein breiterer Weg spricht meine Bequemlichkeit an. Doch immer findet mein „freier Wille“ ich sollte eine andere Richtung wählen.

Bei meiner Pause muss ich an den Rucksack, um meinen Proviant auszugraben. Die Versuchung ist groß, aber ich meide die Wanderkarte wie die Pest, will mich nicht durch Fakten beeinflussen lassen.

Schließlich muss ich mir eingestehen, dass der freie Wille ohne die Berücksichtigung von Fakten und Erfahrung kein guter Ratgeber ist. Jedenfalls dann nicht, wenn ich bei einer Wanderung ein Ziel erreichen will.
Jetzt bringt mich nicht einmal mehr die Wanderkarte weiter. Die Gegend ist immer wilder und bergiger geworden. Wohin ich mich auch wende, überall ist die Sicht eingeschränkt. Wie soll ich mich hier orientieren? Ich muss zurück in die Zivilisation. Da kann ich wenigstens nach dem Weg fragen. Aber wo ist das? Mein hinterhältiger „freier Wille“ hat mich immer die weniger breiten, unkomfortableren Wege wählen lassen. So lange, bis ein Weg nur noch zu erahnen war. Meistens ging es auch noch bergauf. Nun stehe ich auf halber Höhe eines lang gestreckten Hanges, der mit Gras und niedrig wachsenden, borstigen Sträuchern bewachsen ist.

Es ist an der Zeit, mich endlich von meinem „freien Willen“ zu trennen und meinen Weg mit Vernunft und Überlegung zu wählen.
Das ist der Augenblick, an dem ich den Bären bemerke.

Seit ich mich für Logik und Vernunft entschieden habe, ist mir klar, dass ich meine Schritte wieder talwärts lenken muss. Aber der Bär ist unter mir.
Bären sehen schlecht aber sie riechen ausgezeichnet und dieser hier ignoriert mich? Er scheint sich nur für die vereinzelten Beeren zu interessieren die in den Krüppelsträuchern leuchten. Dabei bewegt er sich langsam in meine Richtung.
Eins ist klar: ich muss weg hier. Der Wind streicht den Hang hinauf und liefert mir damit die Erklärung, warum er mich noch nicht entdeckt hat.

Etwas in mir will spontan Reißaus nehmen, weiter den Berg hinauf, den Abstand vergrößern. Nun habe ich aber so lange auf die falschen Ratschläge gehört, dass ich mir einen Augenblick Bedenkzeit nehme. Mit etwa 100 Metern Abstand bin ich sicher noch nicht in seiner Angriffsdistanz. Ich sollte ihm seitlich ausweichen und dabei gehörigen Raum zwischen uns lassen. Nach anfänglichem Zaudern ist sogar der „freie Wille“ meiner Meinung.
Ich halte den bedrohlichen Wanderkollegen bei meinem Ausweichmanöver ständig im Auge. Während er sich gemächlich aufwärts bewegt, orientiere ich mich abwärts. Ich weiß nicht, ob er mich letztlich doch noch gewittert hat, bin froh, dass es nicht zu einem Wettrennen gekommen ist.

Und mein freier Wille? Ich kann nur den Kopf schütteln über mein blödsinniges Experiment. Wie konnte ich  den verwechseln mit Eigensinn und Unvernunft.

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