Von Maria Lehner

Das Gespräch war plötzlich zu Ende gewesen, denn Beate ist vom Tisch aufgestanden. Hans-Dieter bleibt nachdenklich zurück. Wie war das? „Das verstehst du natürlich nicht, Papi. Du bist sicher schon vernünftig auf die Welt gekommen!?“ Ihr Lachen war eine Mischung aus Milde, Überheblichkeit und Mitleid gewesen. Der kleine Nebensatz, den seine Tochter gesagt hatte, lässt ihn nicht los. 

So sieht sie ihn? Sehen ihn so auch die anderen? Hans-Dieter nimmt Maß an sich: Schullaufbahn normal. Keine Klassenwiederholung. Wehrdienst. Studium ohne Wechsel, ohne Unterbrechung und ohne Zusatzsemester. Krisensicheren Job gefunden. Verlobung. Heirat. Berufliche Konsolidierung. Ein Kind. Keine Affären. Keine Schulden. Keine Vorstrafen. Keine schweren Krankheiten. Immer im unauffälligen Mittelfeld, dabei glücklich und zufrieden. Ohne Neid und ohne das Gefühl, etwas versäumt zu haben. In allem das rechte Maß. Aber: „…schon vernünftig auf die Welt gekommen“? Man traut ihm keine Unvernunft zu. 

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Hans-Dieter befragt seine Frau, Simone. Die sagt: „Du, das liebe ich doch an dir. Chaoten wie ich brauchen dieses Gegengewicht. Was wäre ich ohne dich? Du gibst unserer Familie Halt“. Später denkt Hans-Dieter, ob man sich den Halt so vorstellen kann wie einen Pflock, an den ein Luftballon angebunden ist, damit er nicht davonschwebt. Was wäre aus seiner Frau geworden, wäre sie nicht mit ihm verheiratet? Ärztin im afrikanischen Busch? Würde sie in einem spanischen Bergdorf an Touristen Souvenirs verkaufen? Würde sie allein und ungebunden leben? Hätte sie mehrere Kinder von unterschiedlichen Vätern? Wäre dann vielleicht sie der Ruhepol, der er jetzt ist? Ähnliche Antworten bekommt er von seinem Chef und von seinen Freunden. Unvernunft und Hans-Dieter: Daran kann sich keiner erinnern. Einer sagt: „Einmal hast du´s versucht, ich weiß nicht mehr was. Es war jedenfalls drollig“. Was kann das gewesen sein?

Er fragt seine Mutter. Sie ist der, manchmal unbarmherzige, Wissensspeicher seiner Vergangenheit. „Du, unvernünftig?“, sie lacht. „Na, du hast dir Mühe gegeben, wie in allem, was du je getan hast!“ Jetzt horcht Hans-Dieter auf: „Warte, wo ist es denn…?“ (sie kramt und überreicht ihm ein Kuvert, auf dem steht „Hans-Dieter, Juni 1975“). Er sieht sie fragend an. „Weißt du noch? Du hast es uns übergeben, als du ausgezogen bist und gesagt, da stünden Geheimnisse drin, die wir jetzt lesen dürfen“. Als Hans-Dieter fragt, ob sie damals etwas Neues an ihm entdeckt hätte, sagt sie: „Ich kenne dich gut, aber lern du dich kennen, du Anarchist!“ Jetzt schmunzelt er. Was für ein antiquiertes Wort. Es erinnert ihn aber an etwas. 

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Abends zieht er sich zurück und öffnet das Kuvert. Da ist das kleine Heft: „Bar jeder Vernunft. Meine Woche als Anarchist. Hans-Dieter Schwanitz“. Handgeschrieben, datiert und mit akkurater Schrift. Selten ein paar kesse Oberlängen, kaum schwungvolle Unterlängen. Auch bei der Schrift – und erst recht beim Inhalt – würde seine Tochter gesagt haben: „Geh, Papi, typisch du. So planvoll, selbst als Anarchist!“ Er liest einen ganzen Abend lang darin. Einige Textstellen wecken Erinnerungen in ihm, andere wieder wirken fremd und er findet sich im jungen Hans-Dieter nicht wieder.

Montag, 26.5.: Endlich sind sie weg. Ich das erste Mal allein für eine Woche. Mama hat lange Listen hinterlassen (Essensplan der Gerichte im Tiefkühler und so). Musste abends mit Tante Wiltrud ins Akademietheater (Uraufführung Thomas Bernhard, “Der Präsident”). Ziemlicher Skandal. Buhrufe. Super. Tante Wiltrud ist in der Pause gegangen. Ich zu Fuß heim. Plane, Anarchist zu werden.

Dienstag, 27.5.: Ab heute Abwesenheit jeglicher Ordnung. Kleidungsvorschrift = Mumpitz. Einen blauen und einen grauen Socken angezogen und nicht geduscht. Scheiß auf die Liste und das eingefrorene Essen. Bei Il Mare „Wagenradpizza mit Salami und Pfefferoni für vier Personen“ für mich allein geholt.

Mittwoch, 28.5.: Ich glaube, alle wissen, dass ich die falschen Socken anhabe. Jetzt herrscht die Herrschaftslosigkeit – die Formulierung und das Gefühl mag ich. Auch heute die Socken nicht gewechselt. Mit Urlaubs-Ringelpulli in die Schule. Keiner sagt was. Erkenntnis: Leistung ist gleich Arbeit dividiert durch Zeit, daher: Abwaschen = Energie- und Zeitverschwendung, verwende Tassen, Teller, Besteck seit Sonntag. Noch so viel Pizza da, sie wurde in der Spüle nassgetropft. Musste die Fliegen verjagen.

Donnerstag, 29.5.: Heute ohne Socken mit nackten Füßen in den Halbschuhen. Verwegenes Gefühl. Nach der Schule auf einer Demo. Ging um Medienberichterstattung zur Nationalratswahl. Tolle Typen kennengelernt, treffen uns morgen alle. Daheim Pizza weitergegessen, Salami verblasst langsam. Eltern riefen an, im Hintergrund lief Frank Zander. Mama erinnert daran, dass auf der Liste steht: Laute Musik nicht bei offenem Fenster. Hatte ich vergessen. Hab es dann aufgemacht und die empörten Schreie genossen.

Freitag, 30.5.: Wieder ein blauer und ein grauer Socken, aber sauber, das Gegenpaar. Die Hose aufgekrempelt, damit man es sieht. Noch immer nicht geduscht. Nach zweiter Stunde die Schule verlassen. Mir war schlecht. Abends mit den Typen im Stadtpark getroffen und dort im Brunnen gebadet. Einer Polizeistreife knapp entkommen. Schade, dass keiner daheim ist und bemerkt hat, dass ich nicht da war. 

Samstag, 31.5.: Vormittags an der Pizza weiter gegessen, mit Bier übergossen schmeckt sie noch gut. Schon wieder Anruf der Eltern. Beim Telefonieren absichtlich gerülpst. Papa sagte nur was über Störgeräusche. Heute auch kein Sockenwechsel; Haare nicht gewaschen; im Lebensmittelladen Süßigkeiten, Cola und Kartoffelchips gekauft. Die Nachbarin frech angeschaut: Anarchisten grüßen nicht. Abends in der Arena bei einem Popkonzert. Die Typen waren auch da. 

Sonntag: Gegen vier Uhr Früh den Pizzarest verputzt, dazu viel Kaffee. Fühle mich schlapp. Mir ist kalt und übel; an beiden Füßen je zwei Socken übereinander getragen, aber heute farbgleich, weil es ohnehin keiner sieht. Widerstand macht müde. Nachmittags kamen sie heim. Mama hat nur gesagt, dass ich blass bin, wenig Wäsche verbraucht habe, nichts gegessen habe und müffle. Sie legte mir das Schulgewand für morgen heraus. Früh schlafen gegangen. Es war anstrengend, ein Anarchist zu sein.

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Hans-Dieter hatte das ganze Potenzial an Widerstand, das in ihm war, in diese eine Woche gepackt und das als ermüdend empfunden. Was „Vernunft“ und erst recht, was „Unvernunft“ ist, konnte er damals genau so wenig wie heute definieren. 

Seine Frau, Simone, ist drüben auf der Couch eingeschlafen. Aus der Dose sind Erdnüsse gefallen, sie liegen auf und unter der Decke verstreut. Vorsichtig entfernt er die Nüsse, deckt Simone zu und nimmt ihr die Brille ab. Dann macht er seinen Kontrollgang. Er versperrt die Eingangstüre, füllt für den Hund Wasser in den Napf und löscht das Licht im Zimmer seiner Tochter. Wie immer legt er die Kleidung für den nächsten Bürotag heraus. 

Einmal noch! Auf den akkuraten, nach Farben geordneten, Stößen der Socken fehlt jetzt je ein blauer und ein brauner.

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