Von Volker Liebelt

Es war einmal ein weit entferntes Königreich, in dem ein dunkler Wald lag. Dort lebte eine weise Heilerin, die Almina genannt wurde. Ihr Haar war so dunkel wie die tiefe Nacht, und ihre Augen leuchteten so blau wie der weite Himmel. Almina verstand nicht nur die Sprache der Pflanzen und Tiere, sondern auch die geheime Sprache der Herzen. Mit ihren magischen Kräften konnte sie aus den einfachsten Dingen die wunderbarsten Heilmittel zaubern. Die Menschen, die sie kannten, verehrten sie wie eine Göttin und nannten sie liebevoll „die Rose des Waldes“.

Aber in jener Zeit herrschte große Not in dem Königreich. Die Königin, von atemberaubender Schönheit und einem Herzen so rein wie frisch gefallener Schnee, litt an einer schweren Krankheit. Kein Arzt und kein Zauberer konnten ihr helfen. Der König war verzweifelt und erinnerte sich an die glücklichen Tage, als er mit ihr durch die blühenden Gärten wandelte. Doch nun waren die Gärten verwelkt, die Blüten verdorrt, und die Vögel verstummten.

An einem Morgen, als schwere Wolken so dunkel wie die Sorgen des Königs am Himmel hingen, pickte eine schneeweiße Taube an sein Fenster. Der König öffnete das Fenster und hörte eine Stimme, die so klar klang wie der Ton einer goldenen Harfe.

„Eure Majestät, ich komme aus dem Herzen des wunderbaren Waldes. Dort lebt eine Heilerin von unermesslichem Können, die Almina heißt. Nur sie kann eure Königin heilen.“ Der König ließ den Prinzen rufen.

„Mein lieber Sohn“, sprach der König. „Du musst zu dieser Heilerin reiten und sie um ihre Hilfe bitten. Du musst ihr sagen, dass unser Land und die Königin auf ihre Kunst angewiesen sind.“ Ohne zu zögern, bestieg der Prinz sein Pferd und ritt los, um Almina zu finden.

Nach einiger Zeit erreichte er den Wald mit seinen uralten Bäumen, deren Wipfel geheimnisvoll im Wind flüsterten. Er folgte den verborgenen Pfaden und ritt an klaren Quellen vorbei, bis er endlich eine kleine Hütte sah, die ganz von Moos bedeckt war.

Der Prinz stieg von seinem Pferd und klopfte an die Tür. Als sie sich öffnete, trat Almina heraus. Ihr Anblick war so strahlend, wie die Morgensonne, die durch die Bäume brach. Der Prinz war sofort von ihr verzaubert und verliebte sich unsterblich. Almina hörte geduldig zu, als er von der Krankheit der Königin erzählte, und versprach, zu helfen. Sie reichte ihm ein Bündel frischer Elfenkrautblätter.

„Edler Prinz“, sagte sie mit einer Stimme weich wie Samt, „dieses Kraut besitzt erstaunliche Heilkräfte, die selbst das Wissen der besten Ärzte übersteigen. Es ist ein Geschenk der Natur und der Waldgeister.“ Der Prinz nahm das Bündel dankbar an und betrachtete die zarten Blätter voller Staunen.

„Almina, ich danke euch von ganzem Herzen für eure Gnade und eure Weisheit. Unsere Königin wird gesund werden, dessen bin ich mir sicher.“ Almina nickte und berührte sanft seine Schulter.

„Möge das Elfenkraut seinen Zweck erfüllen und Heilung bringen. Bewahrt es gut auf, mein Prinz, und seid vorsichtig im Umgang mit diesem kostbaren Geschenk.“ Mit einem Versprechen, ihre Worte zu beherzigen, verabschiedete sich der Prinz, und machte sich auf den Heimweg.

Kaum hatte der Prinz Alminas Hütte verlassen, als ein dunkler Schatten über den Wald fiel. Aus dem Nichts erschien der Zwerg Grimm, dessen Herz von brennender Eifersucht und unstillbarer Gier verzehrt wurde. Grimm, ein hässliches Wesen von geringem Wuchs, mit einem spitzigen Bart und einem bösen Lachen, begehrte etwas, das er vor langer Zeit verloren hatte – seine Jugend. Die Jahre hatten ihn verändert, seine Haut in Falten gelegt und seine Haare zu grauem Flaum werden lassen.

Grimm hasste die Menschen für ihre Vergänglichkeit und träumte davon, sie für ihre Unachtsamkeit gegenüber den Gaben der Natur zu bestrafen. In seiner Verzweiflung und seinem Zorn gegen das Altern verfluchte er die Menschen und schwor, sie eines Tages zu täuschen und zu fangen, wie sie es mit der Zeit und dem natürlichen Lauf der Dinge getan hatten.

Grimm hatte Almina schon oft gebeten, ihm einen Trank zu brauen, der ihm die verlorenen Jahre zurückgeben sollte. Doch sie wusste, dass es keine Zauberei gab, die die Zeit zurückdrehen konnte, und antwortete ihm jedes Mal, dass ein solcher Trank nie existiert hatte und nie existieren würde: „Das ist unmöglich, mein Herr. Kein Zauberer auf dieser Welt ist dazu imstande. Ihr müsst euch mit eurem Schicksal abfinden.“ Doch Grimm, in seiner unersättlichen Gier, wollte diese Wahrheit nicht akzeptieren.

Seine Augen loderten zornig auf, als er merkte, dass Almina nicht nachgeben würde. Mit einem finsteren Zauber, der die Luft zum Zittern brachte, verwandelte er sie in einen Stein, und sie erstarrte, gefangen in einem kalten, leblosen Gefängnis. Grimm betrachtete sein Werk und lachte zufrieden. Seine Rache und Gier hatten für den Augenblick gesiegt, und er wähnte sich imstande, dass er nun die Jugend wiedererlangen könnte.

Grimm durchforstete Alminas Hütte, entschlossen, das Geheimnis ewiger Jugend zu entdecken. Dabei stieß er auf ein altes Buch, das von einem besonderen Lebkuchenhaus sprach, das die Fähigkeit besaß, die Zeit zu manipulieren. Es war eine alte Legende, die er in seinem Wahn für wahr hielt.

Doch dann entschied er sich, den Trank selbst zu brauen. Mit zitternden Händen mischte er verschiedene Kräuter und Zutaten zusammen, während er seine dunklen Sprüche murmelte. Ein kalter Wind wehte durch die Hütte, die Wände bebten, als Grimm seine finsteren Rituale durchführte.

Endlich war der Trank fertig, und Grimm hielt das elixiergleiche Gebräu in seinen Händen. Sein Herz schlug vor Aufregung, als er den Becher zu seinen Lippen hob. Doch plötzlich lief ein unerklärlicher Schauer über seinen Rücken. Ein wildes Feuer durchzuckte seinen Leib und vor seinen Augen verzerrte sich die Welt. Seine Haut wurde runzlig und grün, seine Nase zu einem krummen Haken, und seine Haare hingen lang und dünn über seine Schultern. Grimm, der finstere Zwerg, verwandelte sich in eine scheußliche Hexe, beraubt von Jugend und Schönheit. Sein Fluch war auf ihn zurückgefallen, und seine Gier hatte ihn zu seinem eigenen Unglück geführt.

In seiner neuen, entstellten Gestalt, geplagt von Wut und Enttäuschung, erinnerte sich Grimm an die Legende des Lebkuchenhauses. Er beschloss, dieses Haus zu finden und zu seinem eigenen zu machen, in der Hoffnung, dass es ihm irgendwie die verlorene Jugend zurückbringen könnte.

Doch bevor er ging, wollte er noch ein letztes Mal seine Bosheit zeigen. Er hob seine Hand, und mit einem düsteren Zauberspruch setzte er die Hütte in Flammen. Das Feuer fraß sich schnell durch das Holz und das Stroh, und bald war nichts mehr übrig als Asche und Rauch. Grimm lachte höhnisch über das verheerende Feuerwerk, überzeugt, damit Alminas Andenken vernichtet zu haben. Doch er irrte sich. Denn in dem Stein, der einst Almina war, lebte noch ein Funke ihrer Seele, der auf Rettung wartete.

Einige Tage später kehrte der Prinz, getrieben von Sehnsucht, in den Wald zurück, um Almina zu suchen. Ihre Schönheit, Weisheit und das Strahlen ihres Lächelns hatten sein Herz erobert, und er konnte an nichts anderes denken als an sie.

Während der Prinz den Wald durchstreifte, verzweifelt nach Almina suchend, ließ sich ein kleiner Vogel auf einem Zweig nieder. Der Vogel sang ein Lied von solch erhabener Süße, dass der Prinz ihm folgte, als würde er von der Melodie gezogen. Die Bäume schienen ihre Zweige zu neigen, um dem Prinzen den Weg zu weisen, und die Sonnenstrahlen, die durch das Laub brachen, beleuchteten den Pfad mit einem zauberhaften Glanz. Schließlich führte der Vogel den Prinzen zu einer bekannten Stelle, wo einst Alminas Hütte stand. Hier ragte der verwunschene Stein aus dem Boden.

„Du bist angekommen, Prinz“, sprach der kleine Vogel. „Nun liegt es an dir, das Geheimnis dieses Ortes zu lösen und deine liebliche Heilerin wiederzufinden.“ Mit diesen Worten flatterte der Vogel davon und ließ den Prinzen in stiller Erwartung zurück.

Das Herz des Prinzen schlug aufgeregt, und er fühlte, dass dieser Stein der Schlüssel zu seiner Suche sein könnte. Da entdeckte er einige Blätter des Elfenkrauts auf dem Boden und wusste, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Er legte seine Hände auf den kalten Stein und ließ seine Tränen der Liebe und Verzweiflung frei fließen.

In diesem Moment des tiefen Gefühls und der Sehnsucht erwachte der Zauber des Waldes. Langsam begann sich die Oberfläche des Steins zu ändern. Ein zarter Schleier aus Licht und Nebel umhüllte ihn, und ein leises, melodisches Raunen erfüllte die Luft. Als ob die Zeit selbst innehielt, sah der Prinz, wie sich die Gestalt von Almina langsam aus dem Stein herausbildete. Ihr Körper, ihre strahlenden Augen und ihr Lächeln kehrten zurück, als würde sie aus einem tiefen Traum erwachen.

Der Prinz konnte sein Glück kaum fassen und stürzte auf Almina zu, um sie in seine Arme zu schließen. Ihre Wiedersehensfreude war grenzenlos, und sie schworen sich, nie wieder voneinander getrennt zu sein.

Hand in Hand verließen Almina und der Prinz den Zauberwald und machten sich auf den Weg zurück zum Schloss. Die Sonne durchbrach das dichte Blätterdach, und überall um sie herum erfüllte der Gesang der Vögel die Luft mit Freude. Während sie gemeinsam voranschritten, träumten sie von einer Zukunft, die von Glück und zahllosen Abenteuern geprägt sein würde.

Die verwandelte Hexe, einst Grimm der Zwerg, fand sich hingegen in einer Welt wieder, in der sie mit den Konsequenzen ihrer eigenen Taten leben musste. Ohne Hoffnung, jemals die Jugend wiederzuerlangen, die sie so verzweifelt angestrebt hatte, schmiedete sie neue, finstere Pläne. Ihr Schicksal wird uns wieder in der bekannten Geschichte von Hänsel und Gretel begegnen, wo sie eine zentrale Rolle spielen wird. Doch das, meine lieben Zuhörer, ist eine Geschichte für eine andere Zeit.

 

 

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