Von Ursula Riedinger

Amanda war eine fröhliche, wissbegierige und talentierte Junghexe. All das Wissen, das Hexen in der Vorschule erwarben, beherrschte sie in kürzester Zeit. Es ging um das spielerische Erlernen von Zaubern, Verwandlungen und die Herstellung von Zaubertränken. In Klassen von etwa 20 Hexen von 100 bis 250 Jahren erwarben die jungen Hexen die Grundlagen. Eine Lektion, die Amanda und ihre Freundinnen Roxana, Ilona und Moira mit besonderer Ungeduld erwarteten, war das Fliegen mit dem Besen. Dabei stoben die Hexenlehrlinge auf ihrem Besen herum und übten sich im Gleichgewicht, der Geschwindigkeit, aber auch in gewagteren Manövern, die eigentlich noch gar nicht erlaubt waren.

Der Hexengemeinschaft war es aber auch besonders wichtig, dass die jungen Hexen die Regeln der Hexenwelt kannten und vertraut waren im Umgang mit den Menschen. Die Regel war, mit ihnen möglichst wenig in Kontakt zu kommen. Menschen galten, im Gegensatz zu Hexen, als unberechenbar und unvernünftig, als emotional oder aggressiv. 

Nebenbei

Eine Hexe wird nicht geboren, sondern sie entsteht nach und nach aus der Welt der verborgenen Materie. Plötzlich wird sie für die Hexengemeinschaft sichtbar, bis sie ihre endgültige Form angenommen hat. Diese zarten, neuen Wesen werden von den Althexen einige Jahre umsorgt, bis sie bereit sind für die Aufnahme in die Gemeinschaft und ihren Namen verliehen bekommen. Alles was zählt, ist der Zusammenhalt in der Hexengemeinschaft.

Amanda war schon fast 250 Jahre alt und ganz begierig darauf, endlich die richtig anspruchsvollen Zauber zu erlernen, viele Künste, bei denen alt überlieferte Geheimnisse weitergegeben werden. Seine Gestalt beliebig zu verändern oder sich unsichtbar zu machen waren nur Einige dieser Geheimnisse. Die hübsche Hexe mit rötlichen Locken und schwarzen Augen ging ganz auf im Zusammensein mit ihren Freundinnen, allen voran der dunkelhaarigen Roxana. Zusammen lernen, zusammen fliegen, zusammen lachen – so war das Leben und es machte Spass.

Eines Tages war Amanda durch einen stürmischen Wind abgetrieben worden von den andern und fand sich alleine wieder auf einer Wiese eines Bauernhofs auf Menschenland. Neugierig spazierte Amanda über die Felder. Da entdeckte sie ein graziles junges Mädchen mit langen blonden Zöpfen, das auf einem Feld Heu rechte. Sie wurde neugierig, wie die Menschen denn so waren, vor denen sie immer gewarnt worden waren. Amanda nahm die Gestalt eines einfachen Landmädchens an, ihre roten Locken unter einem grauen Kopftuch verborgen. 

  • Wer bist du denn? fragte das Mädchen und schaute sie freundlich an.
  • Ich heisse Amanda. Ich habe mich verirrt. Ich wohne mit meiner … … meiner Grossmutter am andern Ende des Waldes.
  • Ach so … 

Aber dabei lächelte sie das Menschenwesen so freundlich an, dass Amanda hingerissen war. So ein Lächeln! Sie unterhielt sich ein Weilchen mit dem zauberhaften Wesen namens Julia.

  • Kann ich dich morgen wieder treffen?
  • Ja, aber pass bloss auf, dass dich mein Bruder nicht sieht!
  • Warum denn?

Ohne eine Antwort wandte sich Julia um und lief eilends nach Hause. 

So ging das zwei Wochen lang, während denen Amanda Julia immer besser kennenlernte. Sie war so eine herzliche und lustige Person. Amanda musste über alles lachen, das Julia ihr erzählte. Eines Tages war Julia ganz ernst. Sie trat ganz nahe an Amanda heran und flüsterte:

  • Wir können uns nicht mehr sehen. Joachim, mein Bruder hat dich gesehen. Und er hat Böses vor, wenn er dich erwischt. Er sagt, du gehörst auf den … … den Scheiterhaufen.
  • Scheiterhaufen? Was ist denn das?

Amanda war entsetzt. Julia nicht mehr sehen? Das Gefühl, das sie für Julia empfand, war ihr unverzichtbar geworden. Was nun bei den Menschen passierte, entzog sich Amandas Vorstellungskraft. In ihrer Verzweiflung streckte sie ihre Hand aus und strich Julia übers Haar. Eine Erschütterung wie bei einem Erdbeben durchzuckte beide junge Frauen, als die beiden Materien aufeinanderprallten. Julia zitterte und rannte in panischer Angst davon. 

Niedergeschlagen kehrte Amanda zurück zu den Hexen. Amandas Freundinnen hatten schon lange gemerkt, dass Amanda oft weg war. Und die Hexen hatten das Erdbeben auch gespürt. Amanda wurde sogleich zur Oberhexe Kunigunde gerufen. 

  • Amanda, was hast du dir gedacht? Dich mit Menschen einlassen! Was hast du denn auf der Hexenschule gelernt? Es fällt mit schwer es auszusprechen, vor allem weil du eine so vielversprechende Hexe bist. Aber wir müssen dich aus der Hexengemeinschaft ausschliessen.
  • Ausschliessen? Ich muss weggehen?

Die warmherzige Cäcilia wartete schon auf sie und nahm sie in die Arme.

  • Amanda, mach dir keine Sorgen. Es gibt einen guten Ort, wo du leben wirst. Die Hexe Rosalba wurde auch ausgeschlossen und lebt alleine im Wald. Sie wird dich aufnehmen und dir alles beibringen, was sie selbst gelernt hat. Ich habe bereits den Raben Corbaro mit der Botschaft hingeschickt. 

Am andern Tag verabschiedete sich Amanda unter Tränen von ihren Freundinnen. Cäcilia geleitete sie durch den Wald, bis sie zum kleinen rosafarben gestrichenen Schindelhaus kamen. Rosalba wartete schon auf sie. Sie war eine rundliche Hexe mit rosigen Wangen und sie trug ein rosa Schultertuch. Freundlich blickte sie Amanda an.

  • Willkommen, Amanda, ich freue mich riesig, dass du mir auf meine alten Tage Gesellschaft leisten wirst und ich dir mein Wissen weitergeben darf. Ich habe dir extra im Dachboden ein Zimmer freigezaubert …

Als sie Amanda ins Haus zog, flog Cäcilia rasch zurück. 

Es war sehr gemütlich in Rosalbas Häuschen. Unten befand sich neben Rosalbas Schlafkammer ein Raum, der über und über voll war mit Büchern, den Rosalba unsere Studierstube nannte, sowie die grosse, mit Holz befeuerte Küche. Amandas Kämmerchen hatte ein Bett mit grün-blauer Bettwäsche, ein Tischchen, ein Waschbecken und für den Winter einen kleinen Ofen. Rosalba zeigte auf das kleine Regal über dem Bett.

  • Hier hast du Platz für deine Lieblingsbücher.
  • Was für Bücher?
  • Das erkläre ich dir heute Abend, komm einfach runter, wenn du Hunger hast. Ich habe extra Pasta gekocht nach einem Rezept einer vorbeifliegenden Hexe aus Bologna.

Als Amanda in die Küche kam, stand Rosalba am Herd und es roch verführerisch.

  • Wieso zauberst du nicht einfach?
  • Richtig gutes Essen muss man von Hand und langsam mit viel Liebe kochen. Das ist nicht das Gleiche wie einfach hingezaubert. In diese Sauce gehören über zehn verschiedene Kräuter und Wurzeln.

Und wirklich, die Sauce schmeckte einfach köstlich. So etwas hatte Amanda noch nie gekostet. Soviel war klar, hier mit Rosalba hatte es Amanda gut getroffen. 

  • Und nun erzähl mir, warum du ausgeschlossen wurdest. 

Amanda erzählte ihr alles. Ihre Faszination für dieses Menschenmädchen, ihre zärtlichen Gefühle, die sie unerwartet überkommen hatten. 

  • Ja, ja, ich verstehe, seufzte Rosalba. Das musst du wissen, Amanda. Es gibt da ein Problem zwischen den Menschen und uns Hexen. Du hast gewiss gelernt, wie unvernünftig die Menschen sind, dass sie zu sehr ihren Gefühlen vertrauen. Das sie aggressiv sein können. Das stimmt zwar alles, aber es gibt auch ganz andere Aspekte. Die Menschen sind auch klug und kreativ und viele denken über das Leben und die Welt nach. Seit ich hier bin, und das sind nun schon über 360 Jahre, habe ich die Bücher der Menschen studiert: die Bibel, Shakespeare, Ovid, Marx usw. Dank diesen Büchern habe ich erfahren, was die Menschen beschäftigt. Und ich bin noch lange nicht fertig damit. Und das lege ich dir auch ans Herz, Amanda. Lerne weiterhin jegliche Hexenkunst, aber beschäftige dich auch mit den Menschen. Darum habe ich hier eine Studierstube eingerichtet.
  • Und du?
  • Du meinst, warum ich ausgeschlossen wurde? Ich habe einen Menschenjungen, der im Wald ausgesetzt worden ist, bei mir aufgenommen. Ich habe ihm Hoffnung und Zuversicht vermittelt und den Glauben an sich selbst. Irgendwann kam es heraus und ich musste Simon in die Menschenwelt zurückschicken.

Atemlos hatte Amanda gelauscht.

  • Und was ist mit ihm passiert?
  •  Er hatte Glück, alles ist gut rausgekommen und er hat seinen Platz gefunden. 
  • Und wie kamst du hierher? 
  • Hier wohnte damals Cleo, mit ihrer eigenen Geschichte. Sie hat mich so liebevoll aufgenommen, wie ich dich jetzt aufnehmen möchte. 

Und so tauschten Rosalba und Amanda ihr Wissen aus, Rosalba weihte Amanda in die Kochkunst ein, ihre allergrösste Leidenschaft, und sie diskutierten nächtelang Hexengeschichten und Menschenschicksale. Bis Rosalba eines Tages, schon uralt, zu verblassen begann. 

Nebenbei

Genau so wie Hexen entstehen, so vergehen sie auch wieder, wenn sie das hohe Alter von 700, 800 oder gar 900 Jahre erreicht haben. Ihre Umrisse werden immer blasser, bis ihre Form ganz verschwunden ist. 

Amanda war zu einer starken, selbstbewussten Persönlichkeit geworden. Sie vermisste Rosalba und die Gespräche mit ihr. Aber sie lebte gerne alleine in ihrem Häuschen, das jetzt dunkelgrün gestrichen war. Die Liebe zum Kochen hatte sie von Rosalba übernommen. Neben der Pasta aus Bologna liebte sie besonders knusprige Hühnerschenkel und sie hielt sich deswegen seit Jahren selbst Hühner. 

Von den Menschen hielt sie sich fern. Wenn es nicht anders ging, zum Beispiel wenn sie die Fee Campanula aufsuchen wollte, war sie gezwungen, über die Lichtung am Fluss zu fliegen. Dort entdeckten sie oft spielende Kinder, die riefen:

  • Eine Hexe, eine Hexe!

Natürlich glaubte ihnen niemand.

Eines Tages gelang es aber doch zwei grösseren Kindern, bis zu ihrem Häuschen vorzudringen.

Als Amanda sie sah, überlegte sie lange, wie sie die beiden rasch wieder los werden würde. Sie trat vor die Türe ihres Hauses und sagte:

  • Na, was sucht ihr denn da?
  • Kuck mal, die Alte! Was ist das denn für eine Vogelscheuche. 

Sagte frech der Junge. Und das Mädchen lachte sie aus.

  • Wieso wohnt du denn da, wohl durch die Maschen der Sozialhelfe gefallen, was?

Jetzt reichte es Amanda. Und sie besann sich auf ein Buch, das ganz unten rechts in ihrer Bibliothek stand, geschrieben von einem Menschen namens Grimm.

  • Seht ihr denn nicht, dass ich die Hexe bin. Mein Ofen brennt schon! 

Unsicher schaute der Junge zum Schornstein. Und mit einem raschen Blick auf das Mädchen:

  • Komm, hauen wir ab!

Das war genau die Botschaft gewesen, die auch heute noch funtionierte!

 Eines Tages erhielt sie eine Botschaft durch den Raben Castor, die ihr die alte Cäcilia schickte. Am nächsten Tag würde sie eine neue Mitbewohnerin bekommen, die junge Melissa. Amanda freute sich sehr, Gesellschaft zu erhalten und eine neue, hoffentlich wissbegierige Schülerin.

 Melissa war erst 190 Jahre alt und sehr schüchtern. 

  • Willkommen in deinem neue Zuhause, Melissa.

Amanda führte sie ins Häuschen zeigte ihr alles. Melissa bezog ihr lila Zimmer und kam dann neugierig zu Amanda in die Küche.

  • Was machst du da?
  • Eine leckere Pasta nach Art der Hexen von Bologna, die ich von Hand für deinen Empfang gekocht habe.
  • Aber da ist ja Fleisch drin. Tut mit leid, Amanda, aber ich bin Vegetarierin.
  • Ach so. Kein Problem, ich habe in der Speisekammer noch eine Sauce, deren Rezept ich von einer Hexe aus Sizilien habe. Mit Auberginen, Peperoni, Kapern und noch mehr Gemüse und Gewürze.

So begann ihre gemeinsame Lehrzeit. Und Amanda erzählte ihr auch die Geschichte von den halbwüchsigen Menschenjungen, und beide lachten ausgiebig darüberm

Zufrieden beobachtete Amanda, wie eifrig ihre Schülerin war, aber auch welche neuen Ideen Melissa einbrachte. Wie glücklich sich alles gefügt hatte. 

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