Von Matthias Herrmann

 

 

„Servus, Maria! Is scho wieder soweit?“, begrüßte sie der Friedhofsgärtner.

„Ja, so ein Jahr geht schnell rum, gell.“

Das Grab lag am Ende der verwilderten Eibenallee, die zum Mahnmal für die russischen Kriegsgefangenen führte. Heute wurden dort keine Kinder mehr beigesetzt. Das Grab war das letzte, nicht eingeebnete Kindergrab hier hinten am Rande des Städtischen Friedhofs. Auch wenn jetzt 60 Jahre vergangen waren, Maria wollte von einer Auflösung des Grabs nichts wissen. Sie hatte den Vertrag alle 20 Jahre verlängert. Nein, und sie wollte auch nicht den Grabstein auf ihrem Balkon oder im Vorgarten lagern, wie es ihr von Seiten der Friedhofsverwaltung angeboten worden war.

Auf dem Rückweg besuchte Maria auch immer die Grabstelle vom Alfons, ihrem Mann. Sie stellte ein Grablicht auf und sprach ein kurzes Gebet. Für mehr blieb keine Zeit. Sie musste ja rasch wieder los, den Geburtstagskuchen aus der Röhre nehmen, bevor er anbrannte. Zum Glück kam sie auch dieses Jahr rechtzeitig nach Hause. Zwar war der Kuchen stellenweise schon sehr dunkelbraun, aber angebrannt war er nicht.

Der Karli ließ sich heute wieder Zeit. Er wusste doch, dass sie an seinem Ehrentag extra seinen Lieblingskuchen für ihn gebacken hatte. Was musste er so trödeln auf dem Nachhauseweg? Maria überlegte, ob sie die Kerzen auf der Torte schon anzünden sollte, oder besser noch wartete. Auch hatte Sie dieses Jahr kurz darüber nachgedacht, ob sie 63 Kerzen hätte nehmen sollen. Aber das war einfach zu unpraktisch. Schon als Karli in die Vierziger gekommen war, hatte es einfach nicht mehr funktioniert. 40 Kerzen auf der Torte. „So ein Gedrängel. Ist doch ein Schmarrn!“

Die Kerzen waren so dicht beieinander gestanden, dass sie sich gegenseitig entzündeten und wie eine große Fackel brannten. Mit Topflappen und feuchten Handtüchern konnte sie die Torte noch gerade so in den Hof werfen, bevor sie die komplette Küche in Brand gesteckt hätte. Nach dieser Katastrophe hatte Maria sich entschieden, pro Jahrzehnt eine Kerze zu verwenden. Und für die übrigen Jahre dann einzelne Kerzen. Seitdem war die Feier wesentlich entspannter, was ja auch gut für Karli war. Mit seinem schwachen Herz. Heute war dann sein 63. Geburtstag. Deshalb steckten neun Kerzen in der Geburtstagstorte vom Karli. Sechs Zehner und drei Einer.

„Wo bleibt er denn, der Bub?“

Hatte er ihr gestern nicht versprochen, dass er heute früher aus dem Büro gehen wollte, um gemeinsam mit ihr zu feiern? Sie wollte sich nicht ärgern. All die Jahre war er zuverlässig gewesen.

Plötzlich scheuchte das Läuten der Türglocke Maria aus ihren Erinnerungen auf.

„Da ist er ja endlich, der Bub! Hab mir schon solchene Sorgen gemacht!“

Sie ging zur Tür, öffnete den Panzerriegel und nahm die Türkette ab. Der Junge, der vor ihr stand, war vielleicht acht Jahre alt. Er lächelte Maria bemüht freundlich an und sagte: „Grüß Gott, Frau Nachbarin!“

„Na, komm rein, Karli. Was bist du so spät dran. Komm rein“, lotste sie den Jungen in ihre Wohnung.

„Jetzt geh halt schnell ins Bad, wasch dir die Hände. Dein Kuchen wartet schon!“

Dass die Frau ihn ins Bad schickte, kam Ruben sehr gelegen. Er hatte ja geklingelt, weil er so dringend auf die Toilette musste und nicht extra in den fünften Stock hochlaufen wollte. Was sie sonst von ihm wollte, verstand er nicht, war ihm eigentlich auch egal. Er wollte nur kurz pinkeln und dann verduften, was ihm auch fast gelungen wäre, hätte die Frau ihre Wohnungstür nicht mit dieser Kette gesichert. Ihr Klimpern musste die Frau gehört haben.

„Wo willst du denn hin, Karli? Komm ins Wohnzimmer. Du musst jetzt die Kerzen auspusten!“

Maria nahm den Jungen an der Hand und zog ihn von der Tür fort mit sich ins Wohnzimmer. Die Kaffeetafel war perfekt gedeckt. Blutrote Servietten auf weißem Porzellan. Neun Kerzen brannten auf einer Torte.

„Komm setz dich hierher. Magst schon auspusten?“

Ruben zuckte mit den Schultern, dann blies er die neun Kerzenflammen aus. Die Frau schnitt dann die Torte an, legte ein sehr großes Stück auf seinen Teller.

„Möchst noch eine Sahne?“

Ruben nickte.

„So, und hier ist deine heiße Schokolode.“

Jetzt fing die Frau auch noch zu singen an. Maria hatte es immer geliebt zu singen und praktischerweise war der kleine Karli immer besser eingeschlafen, wenn sie ihm ein Gute-Nacht-Lied vorgetragen hatte: „Nur der Mann im Mond schaut zu, wie die kleinen Kindlein schlafen. So schlaf auch du.“

Doch heute gab sie ein Geburtstagsständchen zum Besten: „Wir kommen all und gratulieren

zum Geburtstag unserem Karli!“

Auch wenn er nicht kapierte, was das alles sollte, die Torte wollte Ruben sich nicht entgehen lassen. Ratzfatz hatte er sie verputzt.

„Vielen Dank noch, Frau Nachbarin. Das war sehr lecker. Jetzt muss ich aber los! Die anderen Kinder vermissen mich sicher schon. Wir brauchen jeden zum Räuber-und-Schandi-Spiel!“ Die Frau starrte ihn an. Sie sah plötzlich sehr traurig aus.

„Komm mal mit. Du kannst gleich raus. Ich will dir noch etwas zeigen.“

Maria führte Ruben in ein Zimmer mit einer ausgeblichenen Bärchentapete. Auf dem Boden lag ein Blechauto, in dem leeren Regal ein zerfranster Teddybär. Neben einer durchgesessenen Couch stand ein Kasperletheater in der Ecke. Ein Krokodil hing schlaff daran. Außerdem war auf dem Teppich aus Holzschienen eine Acht aufgebaut.

„Ja, nicht schlecht! Jetzt muss ich aber wirklich los, Nachbarin“, erklärte Ruben, doch er als sich umwandte, hatte Maria bereits die Tür hinter sich zugezogen. Er hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.

„He! Hallo! Was soll das? Lassen Sie mich raus. Hallo! Frau Nachbarin! So geht´s fei nicht!“

Ruben hämmerte und trat gegen die Tür.

Marie schloss die Tür zum Wohnzimmer. Was regte sich der Junge denn so auf? Das aufbrausende Temperament musste er von seinem Vater haben. Der konnte sich auch mit nichts abfinden. Was hatte der Kinderarzt sie versucht zu beruhigen: Das ist heute eine Routineoperation! Wenn Sie ihn operieren lassen, dann müssen Sie sich nicht immer Sorgen machen. Dann kann er mit den anderen Kindern draußen spielen und in den Kindergarten gehen. Aber was hatte der Alfons rumgemosert: Dem Jungen fehlt nichts! Der ist pudelgesund!

Doch Maria hatte jetzt keine Zeit. Sie musste das Abendessen vorbereiten. Karlis Lieblingsessen an seinem Ehrentag: Königsberger Klopse mit Salzkartoffeln und roter Beete! Sie hatte die Klopse bereits vorgeformt, musste sie nur noch garen. Sie schöpfte etwas Kochbrühe ab, um sie mit der Mehlschwitze, Sahne und Eigelb zu binden. Jetzt noch die Kapern. Sollte sie die Kapern direkt in die Soße tun? Sie war sich nicht mehr sicher, wie das der Karli das wollte. Der Alfons hatte die Kapern ja nicht gemocht. Sie fragte den Karli besser noch einmal. Sie öffnete die Küchentür und rief Karli, willst du die Kapern direkt in die Soße? Karli? Doch nichts rührte sich. War der etwa wieder eingeschlafen? Maria schloss die Zimmertür auf: „Karli, wo steckst du denn? Wir können nachher Verstecken spielen! Jetzt sag halt amal: Mit oder ohne Kapern in der Soße?“ Doch Karli antwortet nicht. Maria guckt unter das Sofa, hinter die Vorhänge, in den Schrank. Da fährt sie plötzlich ein Windzug an. Da zieht´s durch die Wohnung. Ja, was ist denn das? Das Fenster steht ja offen! Ja, gibt´s denn das! Ist der mir ausgebüxt! Oder war er jetzt endlich mit den Kindern spielen, wie der Arzt versprochen hatte?

Maria guckt aus dem Fenster. Kein Karli, nirgends. Nur so ein oranger Schein aus ihrem Küchenfenster nebendran. Ja, was ist denn das? Und dieses Knistern und Knastern. Was war denn da los? Maria rennt in die Küche. Ja, Mehlschwitze, warum musst du denn brennen? Und du, Vorhang dazu? Und ihr alten „Frau im Spiegel“-Zeitschriften? Warum müsst ihr alle brennen? Das geht so nicht. Ich muss das löschen. Das ist doch dem Karli sein Ehrentag, sein Lieblingsgericht. Ich muss das löschen. Wo ist der Wasserhahn? Man sieht ja gar nichts bei dem Qualm und dieser Hitzen. „Mei, Karli, jetzt hol einmal einen Eimer Wasser aus dem Bad! Hörst! Ich tue gar nichts mehr sehen!“

 

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