Von Peter Burkhard

Mechtild erhob sich schwerfällig, ergriff mit beiden Händen einen Haufen Reisig und ein paar trockene Äste und warf diese ins schwächelnde Feuer. Mit lautem Knistern erwachte dieses von Neuem und die Flammen schlugen lichterloh gegen den rabenschwarzen, mit Sternen übersäten Himmel.
Es war eine kalte Novembernacht, und obwohl die Weiber in ihren lumpigen Mänteln nahe ans Feuer und eng zusammengerückt waren, froren sie jämmerlich.
Sie hatten sich in einer versteckten Waldsenke eingefunden, um einer der ihren beizustehen, die in großer Gefahr schwebte: Walpurga, eine rechtschaffene Hebamme, wurde nach zwei Totgeburten in angesehenen Familien des Städtchens der Hexerei und des Mordes an Kindern beschuldigt.

Des verblichenen Lumpensammlers Magdalena fuchtelte mit einem Stecken durch die Luft und gab den anderen zu verstehen, dass sie sprechen wollte. Das monotone Klagen und leise Jammern der versammelten Frauen verstummte widerwillig. Alle starrten zur Alten, welche in der kleinen Stadt als ehrlose Intrigantin verrufen war und von vielen gemieden wurde.
Das Licht des nun lodernden Feuers tanzte auf ihrem zerfurchten Gesicht und unterstrich die gespenstische Atmosphäre, in welcher das verängstigte Grüppchen sich im Schutz des Waldes versammelt hatte.
„Frauen, hört auf zu wehklagen! Selbstmitleid ändert nichts an unserer erbärmlichen Situation, noch kann es Walpurga retten. Wir müssen diesem Kesseltreiben ein Ende setzen, selbst wenn wir dadurch unsere eigenen Leben aufs Spiel setzen.“
Die junge Anna schälte ihr Gesicht halbwegs aus Tuch und Schal und reagierte erbost: „Du hast gut reden, Angeberin. Dann sag an, wie wir uns aus diesem Schlamassel befreien sollen, ohne dass unsere Männer und die ganze Brut, die oben im Kloster haust, uns in die Quere kommen können.“ Einige der Frauen stöhnten auf ob dieser Worte, bekreuzigten sich leise murmelnd und verbargen erschrocken ihr Antlitz.
Magdalena ließ sich durch ihre Widersacherin nicht provozieren. „Es ist wohl allen klar, dass Walpurga im Städtchen nicht mehr bleiben kann. Es grenzt an ein Wunder, dass sie nach den erlittenen Qualen noch lebt und nach ihrem Geständnis noch unter uns weilt. Wir haben keine Minute zu verlieren und müssen sie in Sicherheit bringen, bevor der übernächste Tag anbricht.“

Die Weiber waren sich der großen Bedrängnis bewusst, in der sie sich befanden. Sie beratschlagten und beschlossen schließlich, der armen Beschuldigten zur Flucht zu verhelfen, um sie vor dem sicheren Tod auf dem Scheiterhaufen zu bewahren.
„Und du sollst sie begleiten“, rief Anna und deutete auf Magdalena, „dann sind wir dich los und niemand wird darüber eine Träne verlieren.“ Ein Flüstern und Raunen machte die Runde und die Mehrheit der Frauen nickte zustimmend.
Magdalena hielt ihre Stunde für gekommen und stimmte zum Erstaunen und zur Erleichterung aller dem Ansinnen zu. Sie wusste, dass sie wenig zu verlieren hatte.
Schweigend und zu allem entschlossen löschten die Versammelten das Feuer, verließen ihr Versteck und kehrten zurück in ihre Häuser. Zur selben Zeit, als hinter den Klostermauern die ersten Lichter angingen und die Brüder zur Frühmesse schritten, schlüpften die Ehefrauen unter die Decke ihrer nichts ahnenden Männer.

Noch bevor sich die aufgehende Sonne blutrot über den Gebirgskamm schob, eilten die ledigen Schwestern Dorothea und Verena auf leisen Sohlen zu Walpurgas Haus. Es galt, die Todgeweihte durch den Tag zu bringen und auf die bevorstehende Flucht vorzubereiten. Glücklicherweise fühlten sich die Gerichtsherren und Ordensmänner ihrer Sache sicher, weshalb sie das zuvor gefolterte Weib unbewacht in ihren vier Wänden zurückgelassen hatten.
Die Schwestern sprachen Walpurga Mut zu, während sie sich bekümmert über deren gebrochene Glieder beugten: „Deine Peiniger sind überzeugt, dass du ihnen nicht mehr entkommen wirst. Wenn sie sich nur mal nicht täuschen, diese verblendeten Gemüter.“

Der waghalsige Plan der widerspenstigen Frauen gelang.
Auf einer gepolsterten Schleppbahre, gezogen von Magdalenas Mähre und reichlich versorgt mit Proviant, wagten Walpurga und ihre Beschützerin in der folgenden Nacht die Flucht.
Unerwartet kam ihnen dichter Schneefall zu Hilfe. Er bedeckte ihre Spuren und behinderte die Sicht der Verfolger und so kehrten die frustrierten Suchtrupps nach drei Tagen ergebnisloser Hetzjagd hinter die Stadtmauern zurück.
Das Versagen der Häscher ließ die Gerichtsherren wutentbrannt die Hexe und deren verrufene Begleiterin für vogelfrei erklären und deren Häuser in Brand stecken. Obendrein wurden die Stadtbewohner vom Landvogt geschmäht und für ihre Unfähigkeit, der Flüchtenden habhaft zu werden, mit einer Erhöhung ihres Zehnten bestraft.
Die beiden Weiber flohen tagelang unter größten Entbehrungen und Strapazen, unentwegt und mit der Freiheit vor Augen. Im Schutz der Dunkelheit und abseits bewohnter Gegenden überquerten sie Flüsse und Täler, bis sie tief in einem finsteren Wald an einen Bach gelangten.
„Hier können wir bleiben“, ächzte Magdalena, erschöpft und von der Mühsal gezeichnet und deutete auf eine anscheinend verlassene, noch halbwegs intakte Holzhütte.
Walpurga richtete sich mühsam auf, streckte ihrer Retterin die versehrte Hand entgegen und hauchte ein „Vergelt’s Gott, du hast mich gerettet“, bevor sie zurück auf ihre Bahre sank.
Doch die durch die Folter erlittenen Verletzungen und die übermenschlichen Anstrengungen der Flucht ließen ihre Zuversicht zerrinnen. Zwei Tage später, in wohliger Wärme der kleinen Hütte, schloss Walpurga in den Armen ihrer Wohltäterin für immer die Augen.

Magdalena und das Pferd überstanden den Winter mit Müh und Not.
Niemand gelangte je in ihre Nähe bis an den Tag, als ein verwahrloster Landstreicher aus dem Unterholz trat und zögerlich auf die Hütte zuging. Magdalena begegnete dem Fremden mit Skepsis. Doch als ihr klar wurde, dass sie nichts zu befürchten hatte, hieß sie den Ankömmling willkommen. Dieser, zerlumpt und des Herumlungerns müde, entschied sich vorerst zu bleiben.
Die Gemeinschaft gedieh leidlich zu beider Vorteil: Während Magdalena am Bach wusch, einen Kräutergarten pflegte und sowohl Mensch wie Tier verköstigte, streifte Kuno durch die Felder oder schlich sich des Nachts ins weit entfernte Dorf, von wo er jeweils mit dem Nötigsten zurückkehrte.
Gelegentlich versorgte er die Alte mit gestohlenem Zucker, Salz und Mehl. Seltener reichte es zu Gemüse, oder wenn der Hase in die Schlinge geriet, sogar zu dessen Keule und Innereien.
Zwei Jahre lang ging alles gut: Magdalena buk mit stillem Behagen etwas Brot und Lebkuchen, und falls davon übrig blieb, zierte sie damit ihr Häuschen. Kuno dagegen frönte in freien Stunden der Schnitzerei oder begab sich auf die Suche nach Pilzen, um sich von seinen Streifzügen zu erholen. Im innersten Dunkel des Waldes herrschten Eintracht und Harmonie.
Eines Tages kehrte Kuno von einer Diebestour zu Pferd nicht mehr wieder. Was Magdalena nur erahnen konnte, entsprach der harten Wirklichkeit: Wochenlang schmachtete der arme Kerl in einem feuchten Kerker, bevor die weltliche Obrigkeit an ihm vollzog, was ihr bei den entflohenen Weibern misslungen war.

Bald wich die Ahnung der Gewissheit und von da an ging es mit Magdalena bergab.
Hilflos sah sie die zerbrochenen Träume ihrer alten Tage verfliegen und mit ihnen ihren Lebensmut. Des Daseins müde und voller Trübsal saß sie stundenlang vor ihrer Hütte, verbittert und mit schwindendem Augenlicht. Allein, ihr leises Klagen blieb ungehört, als schien sie nicht mehr zu existieren.
Noch immer saß der Stachel der Ungerechtigkeit, welche sie und Walpurga einst geeint, tief in ihrer Brust und nährte von Neuem die Seele mit Gift, das diese schleichend zerfraß.
In ihrer Verzweiflung begann die Alte, die Schuld an ihrem harten Los auf die totgeborenen Kinder zu schieben. „Ihr seid es“, krächzte sie eines Tages in des Waldes Stille, „die mir dieses Schicksal beschert habt.
Wagt es nicht, mir je wieder unter die Augen zu treten!“ Gepeinigt und verwirrt schlug sie nach ihnen, bis die Kräfte sie verließen und sie ins Innere der Hütte schlurfte.
Alsdann entfachte sie Feuer unter dem Kessel und trug allerlei giftige Kräuter herbei.
„Ihr wolltet eine Hexe? Ihr sollt eure Hexe haben!“ Vergrämt, abgewandt von allen Menschen und von abgrundtiefer Bitternis durchdrungen, feixte Magdalena vor sich hin und mischte einen Kräutertrank.

Körper, Geist und die gute Seele des greisen Weibes welkten dahin und überließen das Zepter einem Dämon, der den Keim des Bösen gedeihen ließ, der in ihr – wie in jedem menschlichen Wesen – schlummerte. Magdalena verlor sich mehr und mehr in eine andere Welt, fernab von der, in der sie verstoßen und vergessen ward.

An einem Sommermorgen hörte die Alte, wie sich im Freien jemand an Brot und Kuchen ihres maroden Häuschens zu schaffen machte.
Erschrocken fuhr sie zusammen und hielt den Atem an. Nur ihr pochendes Herz drohte sie zu verraten. Als es plötzlich wieder still wurde, humpelte sie zur Tür und drehte so leise es ging den Schlüssel im Schloss. Dann schielte sie nach dem Gifttrank und lauschte angestrengt nach draußen.
Da war nichts mehr.
Schon glaubte sie, sich getäuscht zu haben, als sie es erneut hörte: das Knacken und Knirschen morschen Backwerks, diesmal vermischt mit kindlichem Gekicher und Geplapper.
Kinder. Sie wagen es tatsächlich …
Ein hämisches Grinsen überflog der Hexe Antlitz.
Sie griff nach ihrem knorrigen Stock, näherte sich abermals der Tür und rief mit süßlich verstellter Stimme:
„Knusper, knusper, knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“

 

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