Von Kornelia Kirchhoff

Wütend hatten Marthas Eltern in die schnelle Hochzeit eingewilligt. Ihre Tochter sollte nicht in Schande leben. Eine sichere Zukunft konnte Heinrich ihr jedoch nicht bieten. Als Spielmann lebte er von der Hand in den Mund. Nach der Hochzeit wollten Marthas Eltern nichts mehr mit ihm und ihrer Tochter zu tun haben. Sie weigerten sich, noch eine schlaflose Nacht oder gar Geld in diese aussichtslose Geschichte zu stecken. 

 

Heinrich wusste immer, wie er zurechtkam. In einem Dorf hinter dem Wald machte er im Wirtshaus ein gutes Geschäft mit dem Bürgermeister. Er bekam für sich und Martha eine der Höhlenwohnungen. Die hatten zwar kein gutes Ansehen, aber was scherte ihn, wenn sich andere die Mäuler zerrissen. Gleich bei der Eingangstür gegenüber der Feuerstelle richteten sie ihre gute Stube ein, ganz hinten die Schlafnische. Es gab noch eine zweite kleinere Höhle, die als Tierstall diente. Heinrich kam eines Tages mit drei Ziegen nach Hause. Auf ihre Fragen murmelte er etwas von Glück in den Karten. Martha lernte schnell, Ziegenkäse herzustellen, den sie eintauschen konnte. Die Nachbarn waren beim Tausch oft großzügig. Die junge Frau, die viel allein war und meist ein wenig durcheinander, rührte sie. 

 

Bald bekam Martha ihr erstes Kind, es war klein und schmächtig. Martha sagte, die Kleene sei viel zu früh gekommen. Zum Glück rechnete niemand nach. Mit Beginn der Ostertage war Heinrich unterwegs und erst nach den letzten Erntedankfesten blieb er länger in der Höhlenwohnung. Wenn er zurückkam, legte Martha ihre langen Haare zu einem schönen Kranz. Frisierte die Kleene ebenso, steckte sich und dem Kind kleine Blumen in die Haarkränze. Sie holte die guten Sonntagskleider hervor, saß singend auf der kleinen Bank vor der Höhle. Vor sich auf dem Tisch ein großes Stück frisches Brot und etwas von dem Ziegenkäse. Die Kleene liebte ihre schöne Mutter. Den Vater kannte sie kaum, er war laut, er roch nach Tabak und Bier. Aber wenn er aufspielte, seine Mutter dazu sang, wusste die Kleene „Er ist Mutters Glück“. 

 

Wenn es für Heinrich mit den ersten Schwalben wieder über die Lande ging, hatte Martha einen runden Bauch unter ihrer Schürze. Doch kein weiteres Kind erhielt die Gnade des Lebens. Die Kleene saß vor der Höhle und hörte ihre Mutter drinnen schreien. Gebannt lauschte sie auf die junge zweite Stimme. Nur dieser Schrei konnte die dunklen Wolken fernhalten. Ihr Herz zersprang in Scherben, wenn die Hebamme mit dem kleinen Bündel durch die Tür kam, wortlos an ihr vorbeiging und sie alleinließ mit dem untröstlichen Leid der Mutter. Als sie älter wurde, musste sie bei der Geburt helfen, frisches Wasser bringen, die Beine der Mutter halten. Sie sah die blauen, mit Schleim und Blut überzogen Höllenwürmer. Sie hasste sie dafür, dass sie keine Luft holten. Sie hasste sie für den Schmerz, den sie ihrer Mutter zufügten. Von Mal zu Mal wurde das Leid der Mutter größer, tiefer, unendlicher. Ihre Mutter sprach nicht, kümmerte sich nicht um ihre Arbeiten. Sie merkte nicht, dass die Kleene nicht schlief, weil sie ihre Mutter im Blick behalten wollte. Die Kleene fand bald nichts mehr zu essen, die leere Speiseecke von Spinnen bewohnt. Sie suchte im Wald nach Beeren und Pilzen. Sie ging zu den Nachbarn, rührte deren Herzen, bekam hier zwei Eier, dort etwas Mehl. Sie kochte, was immer damit möglich war, brachte es ihrer Mutter in die Schlafnische, die aber kaum etwas anrührte. Die Mutter sah nicht, wie ihrer einzigen Tochter die Angst in die Seele kroch. 

 

Als die Kleene elf Jahre alt war, sagte ihr Vater, so könne es nicht weitergehen. Irgendwann würde er nach Hause kommen und die beiden würden verhungert unter dem Laken liegen.

„Kleene, zieh dein gutes Kleid an, pack deine Sachen in ein Tuch und komm mit“

Ein Satz wie ein Keulenschlag, ihre Tränen ungesehen, keine Hilfe von der Mutter. Schweigend ging sie hinter ihrem Vater her, den Berg hinauf und in den dunklen Wald. Nach einem guten Marsch setzte sich der Vater und stopfte seine Pfeife. Dem Mädchen gab er einen Lebkuchen. Die Kleene nahm den Kuchen zwischen beide Hände wie ein Stück vom Himmel. Sie betrachtete die braune Haut, die sorgfältig im Muster angeordneten Mandelstücke, führte es langsam an die Nase und sog den Duft tief ein. 

„Nun iss schon, vom Anstarren wirds auch nicht besser! Siehst das Dorf dort unten? Auf dem großen Hof, da wirst jetzt leben. Der Bauer nimmt dich auf. In die Hand hat er mir versprochen: Jeden Sonntag nach der Messe kannst mit Vorrat für die Woche zur Mutter.“

 

Für die Kleene brachen harte Zeiten an. Zwar musste sie nicht mehr um Essen betteln oder im Wald sammeln gehen. Aber ihr fehlte die Wärme der Mutter in ihrer alten Schlafnische. Ihr fehlten die Hände der Mutter, die ihr das Haar richteten. Ihr fehlte der Gesang der Mutter. Sonntags konnte sie der Messe nicht folgen, kein Wort drang zu ihr durch, die Lieder wollten nicht enden. Wenn sie endlich aus der Kirche herauskam, konnte sie nicht schnell genug zurück zum Hof. Das Kirchkleid gegen den alten Rock und das Leibchen tauschen, das Tuch umlegen und in der Küche nach dem Bündel für ihre Mutter fragen.

 

Seit ihre Tochter nicht mehr bei ihr lebte, kleidete sich Martha immer nachlässiger, richtete ihr Haar nicht und verfiel der Trauer in ihrem Herzen. Nur die Heimkehr ihres Heinrich, ihres lieben, lieben Heinrichs konnte sie trösten. Doch Heinrich kam immer seltener zu ihr zurück. Sie begann ihre eigene Welt zu erschaffen. Sie häufte alles in ihrer Höhlenwohnung an, was sie für wertvoll ansah. Am liebsten waren ihr Vogelfedern, die bald alles bedeckten. Die Decke zierte ein verwirrendes Geflecht ineinander verwobener Äste, in dem auch der eine oder andere Tierknochen zu entdecken war. An den Wänden stapelten sich Steine in besonders schönen Farben. Dazwischen Baumrinde, die in Mustern die Steinschichten durchbrachen. Das Werk ihrer Mutter sah so wunderschön aus. Die alte Höhlenwohnung wurde zu einem verzauberten Traumbild. Doch die Kleene wusste, unter der Schönheit lauerte die Bedrohung. Es kam der Tag, an dem der Pfarrer zu ihrer Mutter ging. Er sagte, auch wenn Heinrich jetzt nicht mehr ist, Gott sei bei ihr. Eine der vielen Raufereien war für ihn tödlich ausgegangen. Sie fanden ihre Mutter im Wald, sie trug ihr gutes Kleid. Sie hatte sich die Haare zu einem schönen Kranz geflochten, kleine Wiesenblumen steckten darin. Sie hing in einer großen alten Buche, ihr Rock wehte im Wind. 

 

Früher hatte die Kleene sonntags nicht auf die Gebete und die Predigt gehört, weil sie zu ihrer Mutter eilen wollte. Nun verschloss sie ihre Ohren und ihr Herz, weil sie zu wissen glaubte, dass Gott seine Hand von ihr genommen hatte und sie allein im tiefen Tal wanderte. Sie forderte Gott heraus, fragte ihn, was er ihr noch antun wolle, nun, wo sie vater- und mutterlos war. Der Herrgott oder der Teufel schickten ihr Matthias, den jüngsten Sohn des Bauern. Nie hatte er das magere Mädchen bemerkt. Aber als die Kleene unter dem Leibchen Rundungen bekam, fing er an, ihr nachzustellen. 

„Komm, Kleene, gehen wir aufn Heuboden“

„Komm, Kleene, treffen wir uns heut Abend am Bach.“

Sie hörte nicht auf sein Drängen und Betteln. Da nahm er sich mit Gewalt, was er wollte. 

„Denkst, der Bauer wird dir glauben? Verjagen werden se dich, dann kannst sehen, wo´s bleibst.“ 

Es dauerte nicht lang, da wuchs in ihrem Bauch, was nicht in diese Welt kommen durfte. Sie band ihre Schürze lockerer und schwieg, wenn sie hörte:

„Die Kleene wird ganz schön drall.“ 

Als die Zeit kam, schlich sie sich nachts allein in den Wald. Zu der Lichtung mit dem großen, eckigen Felsen in der Mitte. Die Leute nannten ihn: Teufelsaltar. Die Kleene stieg auf den Stein, schickte Flüche in den dunklen Himmel und fast ohne Schmerzen glitt das Teufelsbalg aus ihr heraus. Doch bevor es den ersten Schrei tat, legte sie ihm ihre Hand auf Mund und Nase. 

 

Ganz in der Nähe war ein Jäger im Ansitz. Zunächst glaubte er, die Dunkelheit spielte seinen Augen einen Streich. Doch dann zerriss die Wolkendecke und das eisige Licht des Vollmonds fiel auf den Teufelsaltar. Er rannte hinunter zum Dorf. Erst im Morgengrauen fand er Worte für das, was er gesehen hatte. Er ging zur Kirche, der Pfarrer zweifelte nicht an dem, was er hörte. Schon immer hatte er gesehen, wie es hinter den Augen dieses fremden Mädchens flammend brodelte. Eilig ging er zum Hof. Sofort machte die Runde, dass sie eine Hexe in ihrer Mitte beherbergt hatten. Jetzt erinnerten sich alle an einen listigen Blick, das bösartige Schweigen, ein heimliches Grinsen der fremden Göre. 

 

Eine Gruppe machte sich auf die Suche nach der Hexe. Als die Kleene sie den Berg hinaufkommen sah, kroch sie mit letzter Kraft in einen Unterschlupf. Sie kannte im Wald jeden noch so versteckten Winkel, den andere stets mieden. Als die nächste Nacht hereinbrach, fand die alte Kräuterfrau das Mädchen, nahm es mit in ihre Hütte und pflegte es gesund. Die Kleene blieb bei ihr, lernte die Kräuterkunde. Als nach Jahren die Alte starb, ging die Kleene unerkannt in die Dörfer. Ihre Heilkräuter und Salben tauschte sie gegen das, was sie zum Leben brauchte. Es reichte immer auch für einen Lebkuchen. Essen wollte sie die Kuchen nicht. Mit den kostbaren Stücken schmückte sie die Wände und Fensterrahmen ihrer Hütte. Wann immer sie daran entlangging, atmete sie tief den Duft ein, der sie erinnerte an die Mutter, den Vater und die alten Zeiten. 

 

Sie lebte ihr einsames Leben, wurde alt und gebrechlich. Eines Tages jedoch verirrten sich zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen in die verborgene Ecke des Waldes. Wie aus der Hölle emporgekrochen, machten sie sich an der Hütte zu schaffen. Laut und unerbittlich schallte es der Kleenen in den Ohren: knusper, knusper…

 

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