Von Karl Kieser

In den letzten Jahren war das Köhlerhandwerk für sie beide sehr beschwerlich geworden. Aber sie hatten sich weiter geplagt, um genug für ihr Essen zu erwirtschaften.

Als ihr Mann starb, blieb der Ursel nur die Kate im Wald. Sie hatte allein versucht, aus den verbliebenen Holzresten einen Meiler zu schichten. Das Ergebnis war so mager, dass es nicht einmal für ihr alleiniges Auskommen gereicht hatte.

Ursel hatte niemanden in der Welt, der sich um sie hätte kümmern mögen. Ihr schmutziges Tagwerk und das abgeschiedene Leben im Wald waren die Gründe dafür. Sie hatte sich schon beinahe damit abgefunden, den nächsten Winter wohl nicht zu überleben.
War das überhaupt ein lebenswertes Dasein? Nur harte Arbeit von früh bis spät, bei jedem Wetter und dazu der allgegenwärtige Kohlenstaub.
Diese nicht endende Plackerei hatte sie schon vor Jahren krumm werden lassen. Sie ahnte, dass sie es allein nicht schaffen würde.
In ihrer Verzweiflung erinnerte sie sich daran, dass sie früher einmal gerne gebacken hatte. Ihre Lebkuchen waren ihr immer gut gelungen. Vielleicht ließ sich mit diesen Leckereien auf dem Markt genug Geld verdienen, denn der verbliebene Rest an Holzkohle würde nicht mehr lange reichen.

Sie gab sich besonders viel Mühe und wählte nur die besten Zutaten. Sie buk ihre Küchlein in den verschiedensten lustigen Formen, mit und ohne Zuckerguss. Damit hoffte sie, besonders bei den Kindern Begehrlichkeiten zu wecken.

Am Markttag wusch sie sich blitzblank, packte ihre Lebküchlein in einen sauber gescheuerten Korb und machte sich auf den Weg. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie etwas anderes als Holzkohle anzubieten hatte. Ursel war zwar von der Güte ihrer Lebkuchen überzeugt, aber würden sie sich auch verkaufen lassen?
Es sprach sich schnell herum, dass die Köhlerursel diesmal Lebkuchen statt Holzkohle anbot. Die Leute waren misstrauisch. Niemand wollte bei ihr etwas kaufen, das auch noch essbar sein sollte. Auch wenn sie ausnahmsweise ganz manierlich aussah, kannte man sie doch nur als ungewaschene, verstaubte alte Krähe. Es nutzte auch nichts, dass sie all die edlen Zutaten aufzählte, die sie verarbeitet hatte. Schließlich musste sie kleine Stücke opfern, die sie von einem Lebkuchenmännlein abbrach, um die Kinder probieren zu lassen.
Die hatten so etwas Leckeres noch nie geschmeckt. Dieser Lebkuchen war weich, saftig und wunderbar süß. Eine Köstlichkeit! Die Kinder zerrten ihre Eltern herbei und die überragenden Eigenschaften von Ursels Lebkuchen überzeugte auch die Erwachsenen.
Ursel konnte ihre Leckereien zu einem guten Preis verkaufen, bis auf den letzten Krümel.

Sie beschloss, fortan das anstrengende Köhlerhandwerk zu lassen und sich nur noch dem Lebkuchen zu widmen.
Mit ihrer neuen Arbeit war sie sehr erfolgreich. Das lag nicht zuletzt an den edlen Zutaten für ihre Naschereien. Ihre Ware war daher nicht billig, aber unübertroffen im Geschmack. Nicht nur die Kinder liebten ihre Leckereien. 

Für die marktfreien Tage hatte sie damit begonnen, vor ihrem Häuschen einen Verkaufsstand mit einer Auswahl ihres Angebotes herzurichten. Ursel war durchaus geschäftstüchtig. Sie wusste sehr genau, dass eine Kundin beim Anblick der vielfältigen Köstlichkeiten gerne etwas mehr kaufen würde als ursprünglich vorgesehen.

Zu ihrem Kummer besuchten sie aber nicht nur kaufwillige Kunden. Die Kinder aus dem Dorf versuchten, ohne Geld an die leckeren Sachen zu kommen. Besonders zwei halbwilde Kinder eines Holzfällers waren eine Plage. In ihrem bitterarmen Zuhause reichte das Essen nicht für alle. Die ältesten aus der Kinderschar, Hänsel und Gretel, wurden täglich hinausgejagt, um sich ihr Essen selbst zu suchen. War es da verwunderlich, dass sie schon am frühen Morgen Ursels Häuschen belagern und sich immer wieder an ihrer Auslage bedienten?

Während Ursel in ihrer Küche mit Schokoguss und Mandeln neue Schöpfungen ihrer Ware erprobte, wurde sie gnadenlos bestohlen. Diese Verluste waren schmerzlich für sie.
Als die beiden Haupttäter dazu übergingen, nicht nur für den eigenen Hunger zu stehlen, sondern ihre Leckereien auch noch billig zu verkaufen, war ihre Schmerzgrenze überschritten. Sie baute einen stabilen Käfig um die Auslage.

Schlagartig war es vorbei mit den Diebstählen. Aber nicht lange. Mit langen Stangen – entsprechende Äste fanden sich reichlich im Wald – angelte Hänsel sich einzelne Lebkuchen immer noch heraus. Ursel musste gegen diese Langfinger durchgreifen, wollte sie nicht schon zu Beginn ihrer erfolgreichen Neuunternehmung bankrottgehen. Sie beschloss, die Diebe in dem Käfig zu fangen. 

Nach einem erfolgreichen Kaufabschluss – die Kundin war schon wieder gegangen –  vergaß sie absichtlich, den Käfig abzuschließen. Zu Recht vermutete sie, ständig von den diebischen Kindern beobachtet zu werden, und dass die nur auf eine günstige Gelegenheit warteten. Diesmal legte die geplagte Frau sich aber auf die Lauer, bereit sofort den Käfig hinter den Kindern zu verschließen, sollten sie sich an ihrer Auslage vergreifen.
Und richtig, es dauerte nur Augenblicke, bis die beiden aus ihrem Versteck heranschlichen und in den Käfig schlüpften. Ursel sauste wie der Wind hervor, um den Käfig zu verschließen. Die vorsichtigere Gretel sah die Gefahr als erste und konnte den Käfig noch verlassen, wurde aber von Ursel an ihren fliegenden Zöpfen erwischt und festgehalten. Der gierige Hänsel, der sich noch schnell mit der leckeren Beute beladen wollte, war gefangen.

Ursel triumphierte, drehte den Schlüssel im Schloss herum,  hängte ihn sich an einem Band um den Hals und verkündete: „So, ihr Diebespack. Gretel wird nun für den Schaden, den ihr angerichtet habt, arbeiten. Hänsel, du bleibst mein Faustpfand. Halte dich zurück mit Naschereien. Je mehr du vom Lebkuchen isst, umso länger wird Gretel für mich arbeiten müssen.“

Mit diesen Worten zerrte sie die widerstrebende Gretel ins Haus.
Hier gab es reichlich zu tun. Ruß und Kohlenstaub vergangener Jahre hatte sich in Möbel, Wände und Fußboden eingegraben. Ursel plante eine gründliche Reinigung, um künftig die Kundschaft auch hereinbitten zu können. Dafür setzte sie auf die Arbeitskraft Gretels. Die zeigte sich zunächst auch sehr anstellig und in der Stube der Köhlerkate wurde es immer heller.
Doch Gretel sann auf Rache. Sie wollte das freie Leben für sich und den Bruder zurück, wollte nicht mehr Wände und Möbel abwaschen und stundenlang den Fußboden schrubben.

Ursel dagegen war von Gretels scheinbarer Bemühung um Wiedergutmachung sehr angetan. Während sie in der Küche weiter an Lebkuchenvariationen arbeitete, plante sie, den beiden vernachlässigten Kindern, ein für beide Seiten gutes Geschäft vorzuschlagen: Gretel könnte ihr im Haushalt und vielleicht sogar beim Backen helfen, später gar den Verkauf übernehmen. Hänsel könnte Holz für den Winter schlagen, sich auch um das unansehnliche Äußere der Kate kümmern. Dafür wäre ihnen das Essen und ein Anteil an Lebkuchen sicher. Sie verliebte sich geradezu in diese Vorstellung, denn damit wäre auch dem Alter und ihrer zunehmenden Gebrechlichkeit vorgebeugt.
Während sie in rosigen Zukunftsvisionen schwelgte, vergaß sie alle Vorsicht.
Vielleicht war es eine gnädige Fügung des Schicksals, dass sie just in dem Augenblick überschwänglicher Träume von dem schweren Nudelholz getroffen wurde, welches Gretel auf ihren Hinterkopf keulte. 

Niemand erfuhr vorerst von diesem heimtückischen Angriff und ob die Köhlerursel ihn hätte überleben können, denn ihre verkohlten Reste wurden später in ihrem eigenen, erst halb fertigen, heruntergebrannten Meiler gefunden.
Von dem großen Schlüssel für das Schloss des Auslagen-Käfigs fand sich keine Spur.

Die Leute redeten natürlich über diesen gruseligen Leichenfund. So mancher empfand es klammheimlich als gerechte Strafe, denn Neid und Missgunst auf Ursels erfolgreichen Neuanfang hatten sich ausgebreitet. Das Volk in den umliegenden Dörfern nahm es übel auf, dass Ursel, die viele nur als die krumme, schmutzige Köhlerursel kannten, ihre Leckereien so teuer verkaufen konnte.
Aber die waren nun einmal außerordentlich wohlschmeckend. Und da sie ständig weitere Köstlichkeiten erfunden hatte, sah sich so mancher Haushalt gezwungen, mehr Geld dafür auszugeben, als man sich leisten konnte.

Als dann Hänsel und Gretel auch noch ein verworrenes Geschehen über Gefangenschaft, Zwangsarbeit und Mästung nur mit Süßigkeiten erzählten, entstand wie von selbst eine Geschichte, die bis heute überliefert ist.

Ursel musste mit dem Teufel im Bunde gewesen sein und mit magischen Zutaten in ihrem Naschwerk die arme Bevölkerung verführt haben. Sie konnte nur eine Hexe gewesen sein. Das hatten die Leute doch auch immer schon gewusst.
Hänsel und Gretel wurden zu Helden, obwohl alle aus ihrem Dorf wussten, was für schlimme Finger diese beiden Früchtchen in Wirklichkeit waren.

Die neue Gruselgeschichte war Balsam für die aufgewühlten Seelen. So ließ sich auch der Verlust der unglaublichen Köstlichkeiten verschmerzen, die man sich ja ohnehin nicht wirklich leisten konnte.
Im Nachhinein wollte sich niemand durch einen Kauf der verhexten Süßigkeiten versündigt haben, die ja wegen der dämonischen Zutaten eine Versuchung des Teufels gewesen sein mussten. Hergestellt von seiner Gehilfin, der krummen Hexe, die letztlich ihre gerechte Strafe bekommen hatte.

Version 2