Von Raina Bodyk

Es ist Heiligabend. Das Feuer lodert im Kamin, reich geschmückt strahlt der Weihnachtsbaum, es duftet das Kerzenwachs. Großmütterchen hat die Jüngsten um ihren urgemütlichen Lehnstuhl versammelt. Wie jedes Jahr liest sie aus ihrem farbenprächtigen Märchenbuch vor. Und wie jedes Jahr wünschen sich die Kinder die Geschichte von ‚Hänsel und Gretel‘ und lauschen mit staunenden Augen und offenem Mund. Als das Schicksal der bösen Hexe durch einen Schubs in den Backofen besiegelt ist, jubeln die Kinder und lachen.

*

Malwine sitzt allein am Ufer des kleinen Baches, der am Haus ihrer Eltern vorbeiplätschert. Dicke Tränen kullern über ihre Wangen.

„Ich will nicht!“ 

„Nein und noch mal nein!“

Mehr aufmüpfig als mutig stößt sie immer wieder schluchzend diese Worte aus. Als ihre geliebte Mutter starb, hat ihr Vater sich bald danach erneut vermählt. Die neue Frau im Haus, Thrineke, hat gleich das Zepter übernommen, diktiert dem Mann, was er zu tun hat. Bei jedem Zwist behält sie die Oberhand. Vorwurfsvoll klagt sie, sein Lohn als Waldarbeiter sei mehr als armselig. So sehr er sich auch anstrengt, nie genügt es ihr. 

Die Stieftochter ist für sie eine Dienstmagd, die sie ausnutzen kann – und dies auch mit großem Eifer und inniger Freude tut.

„Ach Vater, was hast du nur getan?“ Mit dieser Frau hat er jedes Lachen, jede Wärme und Liebe aus dem Haus verdammt. Jetzt verlangt Thrineke, dass Malwine Alfons, den reichen Müllersohn, heiratet. Diesen ungehobelten Klotz, diesen Prahlhans, der kaum bis drei zählen kann! Dabei geht es ihr keineswegs um das Wohl der Stieftochter, sondern sie verspricht sich eigenen Vorteil vom betuchten Schwiegersohn. 

„Hilf mir, Vater! Ich bin doch deine Tochter!“, klagt die junge Frau dem Bach.

Aber alles Jammern nützt nichts, sie weiß, dass er es nie wagen würde, die Wünsche, vielmehr die Befehle seiner Frau zu übergehen.

Als der Zeitpunkt der Hochzeit naht, fasst Malwine einen verzweifelten Entschluss. Sie wird fliehen. Sie beschließt, den dichten, gespenstischen Wald, der von den Dorfbewohnern peinlichst gemieden wird, zu durchqueren. Vielleicht wird sie am anderen Ende ein Plätzchen für sich finden. 

Tapfer packt sie ihr Ränzlein und macht sich auf den Weg. Sie bemüht sich, nicht an die schauerlichen Geschichten zu denken, die im Dorf umgehen: von Menschen fressenden, wilden Tieren, zaubernden Hexen, unheimlichen Geistern. Jedoch, je weiter sie kommt, desto verzagter wird sie. Doch dann fällt ihr der widerwärtige Alfons ein. Unvorstellbar, mit ihm das Bett teilen, seine Kinder austragen zu müssen! Sie strafft sich und stapft weiter auf dem holprigen Weg, vorbei an gewaltigen Baumriesen und raschelnden Büschen. 

Sie muss schon Stunden gelaufen sein, da kommt sie an eine verfallene Holzhütte. Todmüde und erschöpft beschließt sie, hier die Nacht zu verbringen. Sie schläft tief und fest, hört nicht den Schrei des Uhus, nicht das Heulen der Wölfe, das Gegrunze der Wildschweine. 

Am Morgen blinzelt die Sonne durch das schmale Fenster und kitzelt Malwine wach. Oh, wie gut hat sie geschlafen! Jetzt im Hellen erkennt sie die ganze Schönheit dieses stillen Fleckchens. Die Kate steht auf einer kleinen Lichtung, an deren Rand gerade eine Schar Rehe äst. Alles ist so still und friedlich. Tief atmet sie den Duft der Tannen ein. 

Ja, hier will sie bleiben! Als erstes wird sie die Hütte in Ordnung bringen. Mit ein bisschen Verzierung und gestrichenen Fensterläden würde es richtig gemütlich werden. 

Der große Backofen vor dem Schuppen kommt ihr gerade recht. Hier kann sie ihr Brot backen. Und Lebkuchen! Ihr ist nämlich eine wunderbare Idee gekommen. Sie wird die Wände einfach mit ihrem Lieblingsgebäck schmücken. Dazwischen vielleicht noch etwas buntes Zuckerwerk zum Naschen.

Eines Tages entdeckt Veit, ein Jägersmann, der vom Weg abgekommen ist, ihr Versteck. Ihm gefällt Malwine und er verspricht, sie nicht zu verraten. 

Er möchte der hübschen, jungen Frau helfen. Ihm fallen die vielen Steine rings um ihre Hütte auf. Er wird sie ausgraben und in einer Ecke stapeln.

„Dann kannst du Kräuter und Blumen anpflanzen.“ Schon hievt er den ersten Brocken auf seine Schulter.

Als Malwine das beobachtet, steigt unerwartet Zorn in ihr auf. Das hier alles gehört ihr! Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie etwas nur für sich allein. Niemand außer ihr selbst soll hier etwas verändern dürfen. Und so schreit Malwine den erstaunten Jäger erzürnt an, so dass er vor Schreck stolpert und der Stein ihm fast auf den Fuß fällt. 

„Dieses Stück Land gehört jetzt mir! Alles soll so bleiben, wie es ist. Niemand, hörst du, niemand packt hier irgendetwas gegen meinen Willen an! Komm nicht mehr her!“, funkelt sie ihn an.

Veit hat das Gefühl, ihr plötzlich harter Blick bohre sich schmerzhaft in seine Brust. Er hat ihr doch nur helfen wollen!
Ein mulmiges Gefühl beschleicht ihn. Wie kann sich ein erst so sanftes Wesen plötzlich in so eine wütende Person verwandeln?

Als Malwine seinen Schrecken sieht, tut es ihr leid, so barsch geworden zu sein und lässt sich auf einem Stein nieder und streicht mit zarter Hand darüber 

„Tut mir leid. Ich liebe eben alles hier so, wie es ist. Auf diesen Felsbrocken mache es mir behaglich. Manchmal stelle ich mir vor, es wären lachende Kinder, die sich im Gras wälzen.“

Achselzuckend zieht der Jäger von dannen. Sehr merkwürdig! Was sie wohl erlebt hat, dass sie so verletzend geworden ist und sich in dieser Einsamkeit verkriecht? Seine Gedanken kreisen weiter um ihre merkwürdige Antwort. Was meinte sie damit? Die Steine – Kinder!? Sie hat den Felsblock gestreichelt! Sicher ist sie nicht ganz richtig im Kopf.

Er vergisst die Geschichte und hält sich von nun an fern.

*

Es wird Sommer und fahrendes Volk kommt zum Jahrmarkt ins Dorf. Feuerschlucker, Seiltänzer, Tierbändiger zeigen ihre Künste, Quacksalber ihre Tinkturen gegen fast jedes Leiden.

Besonders die Bänkelsänger sind stets umringt. Sie singen von Verbrechen, Tragödien und schlimmen Katastrophen und freuen sich, wenn es die Leute bei den schaurigen Geschichten von wundersamen und erschrecklichen Ereignissen ordentlich gruselt.

Der Jäger kommt gerade rechtzeitig, um von einem schier ungeheuerlichen Ereignis zu hören, das sich in Hameln zugetragen hat. Ein Rattenfänger hat die Stadt von einer Rattenplage befreit. Als die Bürger ihn nicht, wie vereinbart, bezahlen wollten, lockte er alle Kinder mit seiner Flöte aus der Stadt und sie wurden nie wieder gesehen. Alles Heulen und Klagen nützte nichts, sie blieben verschwunden.

Veit läuft es kalt über den Rücken. Vor seinem inneren Auge erscheint die einsame Gestalt aus dem Wald.
Steine … Kinder …? Hat auch sie Kinder …? 

Ein Gedanke drängt unaufhaltsam nach oben. Langsam beginnt er zu begreifen. Mag es zugleich nicht fassen. Das muss ihr Geheimnis sein! 

Den Bewohnern zufolge soll im Zauberwald, wie er flüsternd hinter vorgehaltener Hand genannt wird, eine Hexe wohnen. Malwine ist die Hexe! All die Geschichten, die man sich erzählt, sind wahr!

Erschüttert erzählt er den Freunden von seinem damaligen Erlebnis und seiner Vermutung. Die Geschichte macht blitzschnell die Runde. Ab da fürchtet man den Wald noch mehr und wagt sich noch weniger in seine Nähe. Gibt es doch jetzt einen Zeugen, dass dort teuflische Dinge geschehen, die nicht von dieser Welt sind. Wie viele Kinder mochten schon in Steine verwandelt worden sein?

*

Malwine putzt gerade ihre Hütte, da hört sie von draußen leise Geräusche und Gewisper. Sie macht sich einen Spaß und reimt:

„Knusper, knusper, knäuschen,
wer knuspert an meinem Häuschen?“

Sie öffnet die Tür, ihren gezähmten Raben auf der Schulter, und schaut auf zwei vor Schreck erstarrte Kinder.

„Liebe Kinder, wie kommt ihr denn hierher? Habt ihr euch verlaufen? Aber kommt erst mal in die gute Stube. Ihr habt wohl Hunger.“

Sie führt die beiden hinein, stellt ihnen Milch und Pfannkuchen auf den Tisch und dazu Äpfel und Nüsse, die sie gesammelt hat. Traurig erzählen dann die beiden:

„Der Vater findet keine Arbeit und die Stiefmutter hat kein Geld fürs Essen.
Wir haben belauscht, dass sie uns im Wald aussetzen wollten, damit sie selber mehr zu essen haben. So haben wir uns verlaufen und sind so müde. Es war so finster. Wir hatten solche Angst! Nicht wahr, Gretel?

„Ja, Hänsel. Wir haben nicht gewagt, uns auszuruhen. Wegen der bösen Hexe.“

„Schätzchen, bleibt einfach bei mir. Ihr werdet es gut haben. Ich werde euch ordentlich füttern, bis ihr kugelrund seid!“, kichert Malwine.

*

Es ist schon spät im Herbst, als ein Fremder mit derbem Wanderstock im Dorfkrug einkehrt. Da selten Unbekannte in den Ort kommen, hat er sofort die volle Aufmerksamkeit der Gäste. Er stellt sich als ein gewisser Jacob Grimm vor, der Märchen aus aller Welt sammelt. 

„Tja, da können wir Euch wohl nicht helfen.“

„Aber gibt es denn bei Euch keine Geschichten von verwunschenen Orten, Zauberern, Elfen oder Zwergen?“

Die Männer schauen sich nachdenklich an.

„Mhm, ja. Eine Sache gäbe es schon, aber wir reden nicht gern darüber.“

Jacob wittert ein Geheimnis und drängt sie so lange, bis sie – nach einer Runde Bier auf seine Kosten – zu erzählen beginnen. Nicht, ohne sich vorher noch einmal vorsichtig umgesehen zu haben.

„Ihr müsst wissen, werter Herr, hier im Zauberwald lebt eine Hexe, die unsere Kinder in Felsbrocken verhext. Der Jäger Veit hat sie gesehen, es sind viele Steine. Manche flüstern sogar, dass sie Kinder in ihrem Backofen brät und aufisst! Wir leben in ständiger Angst. Ach Gott, schon so manches Kind aus dem Dorf ist verschwunden!“ 

Der Fremde hat noch viele Fragen, macht eifrig Notizen, bedankt sich herzlich und verlässt die gastliche Wirtsstube.

*

Es ist Heiligabend. Die festlich gekleideten, aufgeregten Kinder schauen lächelnd zu, wie Großmütterchen Malwine das schwere Märchenbuch zuklappt. Hänsel und Gretel beobachten zusammen mit ihren Ehepartnern aus dem Hintergrund ihre Kinder und Enkelkinder, die Malwine genauso gebannt gelauscht haben wie sie früher. 

Seit dieser Jacob sein Buch veröffentlicht hat, gehört es jedes Jahr zu ihrem Weihnachtsritual, dieses Märchen vorzulesen. Die Kleinen erfreuen sich jedes Mal an der Verbrennung der bösen Hexe, die doch quicklebendig und heißgeliebt vor ihnen sitzt.
Denn hier irrte der Herr Grimm. 

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