Von Clara Sinn

Auf einmal war sie wieder da.

Hatte sie Theorie-Vorgeplänkel abschweifen lassen zu ihrem Traum von lauter festgetrocknetem Schlamm und diesem Holzsteinbock darin, war sie auf einen Schlag wieder im Tagungsthema, ‚Weibliche Rollenbilder gestern und heute‘:

„Wie ist die Hexe bei Hänsel und Gretel so geworden?“

Sie stellte sich spontan eine Prinzessin vor, die eine bleiben wollte. Lieber weg vom Königshof, als Königin werden durch Heirat. Und Leid. Der Mutterschaft. Lieber das süße Leben fortsetzen isoliert. Im Wald. Und zum Erhalt der Jugend kleine Kinder, gebraten, essen. Freilich nur, wenn es genug Nachschub gab …

„Und wo sind Sie diese Hexe?“

„Du darfst niemals unglücklich sein!“ und die Erfahrung ausschließlich schlechter Ehen im gesamten Umfeld?

Was waren denn, mal zur Abwechslung, eigene Ideen?

Zum Thema Frau … im Alter …

Ja … Kinder.

Bedeuten nicht nur Freude. Und, ja, ich darf. Auch unglücklich sein. Muss meine Mutter nicht retten. Dass wenigstens ich es geschafft habe. Glücklich zu werden. Als Frau.

Und sie nahm wahr, wie ihr auf einmal eine andere Hexe vorschwebte, eine, die Ja sagte dazu, die tödliche ewige Jugend gegen das pure wahre Leben zu tauschen.

Und Hänsel und Gretel als Kinder annimmt. Statt als Beute.

Bereit. Sich für ein Herzensprojekt auch zu verwenden, einzusetzen. Selbst wenn es Stress verhieß, Kosten bedeutete.

Es ging nicht um Entspannung. Bis zum Exzess. Es ging um Eustress.

Flow.

War nicht zu bekommen. Ohne an genau dieser Grenze zwischen Spiel und Mühe.

Selbstversunkensein.

Als Erlebnis. Das einen mit Haut und Haar erfasste. Mitten im Hervorbringen. Dessen. Was anstand als Aufgabe. Des Lebens.

Trug.

Hatte es denn nun getragen?

Keine Helligkeit. In Sicht. Es war schon spät, aber die Nacht wollte nicht weichen. Der Herbst war bereits eingezogen in die schäbige Kleinstadt. Weit entfernt. Vom mächtigen Rhein. Sie erinnerte sich, von melancholischer Verlusttrauer niedergestreichelt, an glamourösere Zeiten.

 

Sie fröhlich beim Luxusjapaner, in der VIP-Lounge beim Sommerfestival, beim Vier-Länder-Turnier, 6-Tage-Rennen. Sie auf dem Jahresfest der Architektenkammer. In der lauen Luft der erleuchteten Rheinterrassen, was sie so liebte. Wie es überhaupt dazu kommen konnte? Dass sie sich in ein Gespräch verwickeln ließ? Von zwei Loserbeamten? Vom Amt für Stadtplanung? Bochum?

 

Sie hatte das gleiche mitternachtsblaue Etuikleid an aus feiner Mattseide, wie auf dem nächsten Bild. Sie beim gepflegten doppelten Espresso Macchiato auf dem Hochdach der Philharmonie. In einem der Klappstühle. In dem Jahr war es die Mode der Saison, überall Sand aufzuschütten und Pop-up-Beachbars einzurichten. Sogar auf dem obersten Parkdeck der Galeria Kaufhof. Fürs Fußvolk.

 

Sie reckte sich hoch vom funkelnden Geländer der Promenade und begab sich runter auf die Wasserhöhe, die schmalen Kaiwege unterhalb der Mauer. Verfütterte ihr hippes Moscow-Mule-Eis an die kreischigen Möwen. Es war die Zeit angebrochen. Da es zu teuer wurde. Jung zu sein.

 

Was für eine Gnade, diese Seuche! Ohne die chinesische Grippe hätte sie es vielleicht nicht geschafft. Auszusteigen. Die Haare rauswachsen zu lassen. Wie sie es wollten. Mit Ansatz. Allgemein akzeptierte Corona-Friese. Damals. Als noch etwas anderes in Luft lag. Für einen geschenkten Moment. Sowas wie Innehalten. Vorsichtige Wandlungsgedanken. Passgerechter. Identität.

 

Sie war wohlbehalten hinabgestiegen. Die vernachlässigte, von verboten wachsenden Pflanzen holprig gewordene Treppe. Zur Verliererin. Die dankbar war. Für ihr kleines, sicheres Heim. Mit riesengroßen Doppelfenstern. Durch die es unbeeindruckt munter hineintagte. Ins geschundene

Gemüt.