Von Heike Pauckner

 

Harriet stand in der Tür zu Dornröschens prunkvollem Schlafzimmer. Sie betrachtete ihre Schwester, die wirklich eine Augenweide war. Die Zofe flocht ihr gerade Zöpfe, die dann zu einem Kunstwerk zusammengesteckt wurden.

„Pass doch auf!“, schimpfte Dornröschen und verzog schmerzhaft das Gesicht. „Ich muss morgen meinen hundertjährigen Schlaf antreten und wenn ich dann die ganze Zeit diese Nadeln im Haar habe, dann habe ich hinterher wieder tagelang Kopfschmerzen. Können wir das Haar nicht einmal einfach offenlassen?“

„Tut mir ja echt leid, Dornröschen, aber wie du weißt, sehen Prinzessinnen im Märchen immer schön und adrett aus“, antwortete die Zofe.

„Ja, und das alles nur für diesen absoluten Blöd-Prinzen, der dich wachküssen muss“, warf Harriet ein. „Der Typ ist echt nicht gerade erste Sahne. Ich bin froh, dass man für mich keine Verwendung hat.“

Sie war ein Unikum, etwas, dass es bis jetzt noch nicht gegeben hatte in ihrer Welt. Sie war ein Kind der Königin, obwohl sie nicht in einem einzigen Märchenbuch Erwähnung fand, was bei ihrem Status als Mitglied der Königsfamilie wirklich merkwürdig war. Selbst die Natur hatte nicht so recht gewusst, was sie so ohne Vorlage aus ihr machen sollte. So war ihr Haar an den Spitzen blond und glatt und oben krausschwarz. Ihre Nase war gebogener, als ihr lieb war, und ihre Augen, tja, wässrig bekam bei ihrem Anblick eine ganz neue Dimension.  

„Verschwinde“, rief die Zofe. „Nerve jemand anderen. Der Prinz ist schön und auch sehr nett und du wirst ihn heiraten, Dornröschen, ist das nicht toll?“

„Ja, so gefühlt zum siebenundzwanzigtausendstenmal, du Ärmste.“ Harriet zog noch eine Grimasse hinter dem Rücken der Zofe und trollte sich dann zu den einzigen Wesen, die von Schönheit und Märchen die Nase genauso voll hatten, wie sie auch.  

In der Dorfkneipe, die sich nicht an ihrem Status störte, setzte sie sich an die Bar zu den sieben Zwergen, die wieder ihr Leid wegen Schneewittchen klagten.

„Sie singt die ganze Zeit, wirklich die gaaanze Zeit …“, jammerte einer der Zwerge.

„Und immer sind irgendwelche Tiere in ihrer Nähe. Wer, glaubt ihr, muss immer den Dreck wegmachen?“, kommentierte ein weiterer Zwerg.

„Und ich muss gefühlt mindestens viermal im Monat Schneewittchens Stiefmutter aus ihrem Schloss herholen, damit sie den Apfel vorbeibringt und endlich wieder mal etwas Ruhe in unser Leben einkehrt.“ Das war der Anführer-Zwerg und Harriets liebster Kumpel.

„Ihr dürft nicht vergessen, dass ihr auch immer schön den Glassarg poliert.“ Harriet grinste.

„Ich kann ihr Gesicht echt nicht mehr sehen“, meinte der Anführer und kippte sein Bier in einem Zug hinunter.

„Und ich mag es überhaupt nicht, schon wieder einhundert Jahre hinter diesen doofen Dornenranken zu verbringen. Jeder im Schloss muss ja schlafen, bis meine Schwester wachgeküsst wird. Na gut, ihr seid alle hinterher wieder da, aber die Zeit kann schon eeeecht lang werden, das kann ich euch sagen.“ Da Harriet nun mal ein Unikum war, hatte auch das Märchen nicht so recht Platz für sie. Mal schlief sie ein paar Jahre ein, mal war damit absolut Essig. Dann streifte sie umher, focht mit einem Säbel gegen die Rosenranken oder zog all die tollen Klamotten ihrer Schwester an und verbrachte mit Krone auf dem Kopf ein paar Tage im Thronsaal. Einmal war sie dann doch eingeschlafen und es hatte ein richtiges Donnerwetter gegeben, als sie erwachte und gefühlt der halbe Hofstaat versuchte, die Krone aus ihren nachgewachsenen Haaren zu zerren. Verstand sich von selbst, dass sie die Einzige war, der das passierte und ja, einhundert Jahre nicht zum Friseur, das machte schon was mit einem.

„Kann ich dir einen Deal vorschlagen, Kindchen?“, fragte sie eine krächzende Stimme, zu der eine alte Hexe gehörte, die krumm und buckelig nur dem Hänsel-und-Gretel-Märchen entsprungen sein konnte.

„Lass hören!“, sagte Harriet freundlich.

„Ich bin alt und habe immer dieses Reißen in meinen Knochen. Wenn Du nicht schlafen willst und ich alles dafür tun würde, mich mal so richtig auszuschlafen, warum tauschen wir dann nicht einfach mal?“

Harriet sah die alte Hexe an und dann an sich herab. Bei all ihren nicht vorhandenen Vorzügen, war doch noch ein bisschen Unterschied zu erkennen. So, als hätte die Hexe ihre Gedanken gelesen, kicherte sie und sagte: „Das kriegen wir hin. Ein bisschen Schminke, ein bisschen Tamtam und schon passt es!“

„Na gut“, sagte Harriet „Aber du bist doch DIE Hexe aus dem Märchen. Ich kann doch nicht deinen Platz einnehmen.“

„Aber sicher! Oder glaubst du, ich hätte keine Vorgängerin gehabt? Wir wollen schließlich auch mal was anderes machen. Komm mit!“, sagte die Hexe und Harriet begleitete sie in den Wald zum Hexenhäuschen. „Das ist dann dein Zuhause für die nächsten hundert Jahre.“

Harriet rümpfte die Nase. „Boah, muss ich etwa das ganze Lebkuchenzeugs backen, was hier so rumhängt?“

„Aber nein, Herzchen.“ Die Hexe beugte sich vertrauensvoll vor. „Ich habe da einen ganz guten Vertrag mit dem Bäcker im Dorf abgeschlossen. Er kommt einmal die Woche vorbei und Schwupps ist alles wieder in Ordnung. So, und jetzt gehen wir mal rein.“

Kaum waren sie drin, hörten sie, wie es draußen rumorte. Die Hexe tat ihren Knusper-Knäuschen-Spruch und trat vor die Tür, sofort verfolgt von Harriet, die ja schließlich alles im Schnelldurchlauf lernen musste.

„Wer ist denn die?“, fragte Gretel und begaffte Harriet unverfroren.

„So kann ich aber nicht arbeiten!“, beschwerte sich Hänsel und zog eine Schnute.

„Wie Kinder halt so sind …“, versuchte die Hexe zu beruhigen.

 „Hi, ich bin die Neue“ Harriet grinste die Kinder an. „Eure Hexe geht auf Urlaub, versteht ihr, so für die nächsten paar Jahrzehnte. Wir werden bestimmt Spaß haben!“

„Ich will nicht, dass du weggehst,“ heulte Hänsel los.

„Und ich finde dich ganz blöd“, meinte Gretel zu Harriet und streckte ihr die Zunge heraus.

„Tja, das Leben ist halt wirklich kein Ponyhof“, sagte Harriet und folgte der Hexe ins Haus hinein, um sich die Funktion des Ofens erklären zu lassen und mit den Kindern zu üben, dass sie sie auch richtig in den Ofen gewuchtet bekamen, wenn es dann so weit war.

„Das ist so ein richtig lauschiges Plätzchen im Ofen, sage ich dir! Ein bisschen eng vielleicht. Du machst ein kleines Nickerchen und dann geht es von vorne los, aber die guten Kinder lassen sich immer jede Menge Zeit, bis sie hier erscheinen. Da bleibt viel Zeit für dich!“

Am späten Abend tauschten die beiden die Rollen und am nächsten Morgen trat Harriet ihren Dienst an und schaute mit einem gefälligen Blick noch einmal bei der Rosenranke vorbei, die das Schloss undurchdringlich umgab.

Die nächsten Jahre hatten so ihre Längen, stellte Harriet fest. Der Süßkram an ihrem Haus, dem sie dann doch nicht widerstehen konnte, nagte an ihren Zähnen und egal was sie auch tat es wurden immer weniger. Dann kam von dem Liegen im Ofen ein permanent eingeklemmter Ischiasnerv hinzu, der sie nur noch gebückt gehen und einen Stock notwendig werden ließ und das Verhältnis zu den Kindern war auch nicht gerade rosig.

„Du blöde Planschkuh“, war noch das Harmloseste, was sie sich anhören musste. Sie bestrafte das mit ein paar Extrarunden im Käfig für Hänsel, und Gretel musste stündlich das Haus kehren. Irgendwann dämmerte Harriet, dass sie vielleicht mehr zur Hexe geworden war, als sie sich vorgestellt hatte. Und dann stand sie erwartungsvoll vor dem Schloss, als sich die Rosenranken öffneten und den Eingang freigaben.

Eine der Zofen kam mit entsetztem Gesicht und wehenden Kleidern aus dem Schloss gerannt und schrie „So ein Unglück, ach, was für ein Unglück!“ Andere folgten ihr aufgeregt. Harriet packte sich den Stallburschen.

„Was ist los?“, schrie sie ihn nicht weniger aufgeregt an.

„Oh weh, oh weh“, jammerte der Bursche. „Eine alte Hexe hat Dornröschen aus dem Bett bugsiert und sich dann selbst dort hineingelegt. Und als der Prinz daherkam, da hat er die Hexe statt Röschen geküsst.“

„Was hat er?“, quiekte Harriet. „Ich wusste ja, dass er nicht alle Tassen in seinem Dachstübchen hat, aber das kann nicht sein, nicht wahr, das kann nicht wirklich sein?“

„Doch“, stotterte der Stalljunge und riss sich los. „Und schau mal in irgendein Märchenbuch. Da steht es tatsächlich auch schon so drin!“

Harriet humpelte auf dem schnellsten Weg in die Schlossbibliothek. Sie riss das erste Buch einer langen Reihe Märchenbücher heraus uns las nach, dann das nächste und dann noch eines.

„Ach nee!“, stöhnte sie und setzte sich auf den nächsten Stuhl. Sie schlug das Buch noch einmal auf.

„Dornhexchen“, stand als Überschrift dort und die Illustrationen zeigten einen glücklichen Prinzen, der um die Hand einer alten Hexe in einem Ballkleid anhielt. Ganz rosige Wangen hatte diese und ihr Lächeln entblößte sogar eine Reihe unechter Zähne. Sie himmelte den Prinzen förmlich an.

Voller Furcht blätterte Harriet weiter.  Da war das Märchen, das sie gesucht hatte: Hänsel und Gretel. Sie las die Geschichte langsam und ihr wurde flau im Magen. Tja, die Kinder würde sie wohl weiter ertragen müssen und offenbar hatte die Märchenwelt nun etwas mit ihr anfangen können. Da waren Illustrationen in der Geschichte mit der Unterschrift: Hänsel und Gretel schieben gerade die Hexe in den Ofen und das war eindeutig Harriet. „Verdammter Mist“, flüsterte sie.

Ein Schatten schob sich über Harriet. Sie blickte auf und sah in die Augen von Dornröschen, die sie nur anstarrte. „Ich weiß, was du getan hast“, sagte sie unheilschwanger.

„Es tut mir soooo ganz wirklich dolle leid!“, rief Harriet. „Hätte ich das eher gewusst, dann hätte ich das doch gar nicht erst gemacht. Und jetzt bin ich die Hexe aus Hänsel und Gretel. Ist das nicht schon Bestrafung genug?“

Dornröschen sah sie an und dann ging ein Lächeln über ihr Gesicht. „Hast du in deinem Märchen noch Platz für mich?“, fragte sie. „Ich bin dir so unendlich dankbar, dass du mich von alldem hier befreit hast!“

Und dann zog Dornröschen als die böse Stieftante in das Märchen von Hänsel und Gretel ein und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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