Von Maria Lehner

Haga war ihr Vorname. Manche erzählen, sie sei als Philosophiestudentin im Rahmen eines Erasmus-Aufenthaltes nach Wien gekommen, hätte sich wohlgefühlt und wäre schließlich geblieben. Was sie am meisten gemocht hatte? Die Bäckerläden und die Konditoreien. Ah – der Geruch! Und die süßen Verführungen: die „Esterházytorte“ prangt neben den „Linzer Augen“, dahinter lockt der „Kärntner Reindling“… Am meisten mochte sie die Menschen, die beim Frühstückskaffee mit glücklichem Blick ein „Buttersemmerl“ bestellten, das klang schon so frisch und knusprig. Und schließlich die Namen für die Gebäckteilchen: Nusskipferl, Honigreingerl, Schusterlaibchen, Mohnflesserl, Bosniakerl, Strudel aller Arten, Liwanzen, Potitzen, Golatschen und Pogatschen…

Deshalb, sagt man, sei sie nach dem Studienabschluss nach Wien zurückgekommen und habe eine Bäckerlehre gemacht. Das habe sie geerdet und ihr das Gefühl gegeben, dass sie mit ihren eigenen Händen etwas schaffen könne, das die Menschen glücklich macht (bei der Philosophie war sie sich da ohnehin nie so sicher gewesen).

Alle, die wissen, wie es wirklich war, trauern ihr immer noch nach, weil sie nichts anders im Sinn hatte, als die Augen zum Leuchten und die Münder zum Einspeicheln zu bringen.

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Haga: kein ungewöhnlicher Name, wenn man aus Rovaniemi kommt. Nach Abschluss der Lehre zog sie ein wenig durch die Welt, lernte viel und probierte manches aus, machte sich Notizen in ihre Büchlein, legte Euro auf Euro und Dollar auf Dollar – und kam zurück nach Wien. Sie eröffnete in der Maria-Theresia-Straße einen Laden und nannte ihn „Haga bäckt besser“. „Viel besser!“, fanden alle. Besonders die Kinder, die die klebrigsüßen Schnitten, die butterzarten Kringel und die neonfarbenen Glasuren so mochten. Sie kannte unteschiedliche Gelüste und erzielte Erfolge mit hunderterlei Zaubermitteln, wie zum Beispiel mit L-Cystein E920, dem Zusatzstoff, der gentechnisch aus dem Darmbewohner „Escherichia coli“ gewonnen wird. Dieses Hilfsmittel erhöht die Elastizität und Knetfähigkeit des Teigs und – ist nicht kennzeichnungspflichtig. Viele solcher Geheimnisse kannte sie.

Dass Haga besser bäckt, war bald Stadtgespräch. Sonntags, bevor sie öffnete, bildeten sich Menschenschlangen vor dem Laden. Man versicherte einander, dass seit Haga hier bäckt, alle glücklicher sind. Auch in den Schulen wollten sie glücklicher sein -immer mehr Schulkantinen orderten bei Haga.

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Eines der Übel unter den Menschen ist wohl seit jeher der Neid. Erfolg wie Haga – das wünschte sich auch der Bäckermeister Tschischka vom Rooseveltplatz. Dass das nicht so einfach werden würde, war ihm klar, nachdem seine Tochter (sie besucht eine höhere Schule) erklärt hatte: „An die werdet ihr sowieso nie herankommen. Ich esse nichts mehr anderes als ihre Snacks. Aber kein Wunder, sie ist nicht von dieser Welt. Wisst ihr eigentlich, wie sie mit Familiennamen heißt? Zussa. Versteht ihr? Haga Zussa!“ Ja? Die meisten verstanden nicht. Bis sie ihnen erklärte, der Name bedeute nichts anderes als „Hexe“. Ah! Hexe!!!

Nachrichten wie diese machten dank des Glasfaserkabels und Frau Tschischkas flinker Zunge schnell die Runde. Am nächsten Tag wusste man: „Stellt euch das vor: Eine Hexe ist sie. Sie will unsere Kinder nach Zucker süchtig machen und so die Weltherrschaft übernehmen“. Haga, der das zu Ohren kam, lachte schallend und tat weiterhin nichts anderes als zu backen. Tschischka wurde jeweils nur so lang ernst genommen, bis jemand eines der Kekse aus Hagas Produktion gegessen hatte. Zum Beispiel „My Favourite“, von dem es auf dem Plakat hieß: „My Favourite ist lecker. Sparkling magic cream zwischen krossen Schnitten“. Da die österreichischen Kinder und Erwachsenen dank Fernsehwerbung ohnehin schon solche Slogans verinnerlicht hatten, waren der Produktname – und das Produkt erst recht – bald in aller Munde. Wer sein Kind liebte, pilgerte zu Haga oder gab ihm genug Taschengeld, damit es selbst dort kaufen konnte. Wer eine gute Schulkantine führen wollte, beauftragte Haga mit der Lieferung. Es zeichnete sich ab: Ein Tag ohne „My Favourite“ ist ein verlorener Tag.

Haga sah, dass ihr Leben einen Sinn hatte. Sie hatte das Glücksessen erfunden. Nichts mehr anderes würde sie tun, als „My Favourite“ zu fabrizieren. Sie liebte es, den Menschen Freude zu bereiten. Die alten Philosophiebücher verwendete sie als Unterlage für schiefe Schränke oder als Türstopper. Die Aufträge wuchsen ihr schnell über den Kopf. Ihren Betrieb musste sie an den Stadtrand verlegen, zum Liefern und Verkaufen stellte sie Studentinnen und Studenten (zu fairen Bedingungen!) ein. Aber immer noch schaffte sie es allein, so viel Ehrgeiz hatte sie.

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Dann passierte das Unglück mit dem Ofen: Ein Thermostat fiel aus, die Produktion stand still. Drei Tage schon waren die Lieferungen an die Schulkantinen ausgeblieben. Mehrmals täglich hatte sie nach dem Servicemechaniker telefoniert– ergebnislos. Die Kinder kamen von allen Seiten. Sich-Einsperren half da nicht. Sie skandierten: „Ich-will-my-Fa-vou-rite- Ich-will-my-Fa-vou-rite!“

Haga hielt sich die Ohren zu: Was war aus der Freude geworden? Drückten diese verzerrten Gesichter, die sie aus einem Sehschlitz beobachtete, noch das aus, was sie erreichen wollte? Wann und warum war die Begeisterung gekippt und zur blinden Gier geworden? Verzweifelt stieg sie in den Ofen und versuchte, selbst von innen die Abdeckung zu lösen.

Es war ihr sogar gelungen, das Problem zu beheben. Genau zu dem Zeitpunkt aber hatte es ein Kind geschafft, ein Kellerfenster zu öffnen und alle strömten in die Backstube. Eines der Kinder drückte versehentlich die Ofentür zu, ein anderes kam am Bedienungsfeld an. „Ha! Was heißt, der Ofen funktioniert nicht? Hört mal, wie es zischt, surrt, singt und pocht! Gleich wird unser Pausensnack fertig sein“. Für die Kinder war die Welt wieder in Ordnung. „Hexe hat Tschischka mich genannt. Eine Hexe, die auf dem Scheiterhaufen brennt…“, war ihr letzter Gedanke.

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Die Geschichte machte die Runde. Hagas Herd kam auf den Sondermüll und bald war das alles vergessen.

„Daraus ließe sich mehr machen, als eine simple Story“, meinten die beiden Unternehmer von der Märchen-AG. Jacob und Wilhelm aus Kassel verstanden ihr Geschäft: Ihre Finger fetzten über die Tastatur, sie verfassten eine völlig irrwitzige Geschichte von einer bösen Hexe, die Kinder mästet, braten will und dabei zu Tode kommt: „Bad news sells!“, wussten sie. Und Geschichte macht der, der sie aufschreibt. Zwischen zwei Buchdeckeln existiert mit elegant-verschnörkelter Schrift „festgeschriebene Wahrheit“ gegen sie die sympathische Haga sich nicht mehr wehren kann. Das ist ungerecht und traurig.

Was ich tun kann? Ich widme ihr diese Geschichte.

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