Von Ingo Pietsch

Die Heilerin des Dorfes hieß Marianne. Niemand wusste, wie alt sie war. Sie mochte 20 sein oder 40, man sah es ihr nicht an, aber sie war wunderschön.

Selbst die Ältesten im Dorf konnten sich nicht daran erinnern, ob es ein Leben ohne Marianne gegeben hatte.

Sie lebte etwas abgeschieden in einer kleinen Hütte im Wald.

Marianne war auch eine Kräuterfrau. Sie kannte gegen jedes Wehwehchen einen Heiltrank oder Umschlag und konnte jede Wunde versorgen. Sie richtete Knochenbrüche und heilte Liebeskummer.

Und wenn Irgendjemandes Zeit gekommen war, stand sie ihm bei.

Jeder liebte und schätzte sie, besonders der Dorfschmied.

Die Frauen tuschelten schon mal hinter vorgehaltener Hand, wenn er in den Wald ging, um Pilze zu sammeln, auch wenn gerade keine Saison war.

Eigentlich schickte es sich nicht, wenn ein Paar nicht verheiratet war, aber bei Marianne war es etwas anderes.

Um ihr Häuschen hatte sie einen Garten angelegt, in dem Kräuter und Gemüse wuchsen, damit sie nicht immer so weit in den Wald gehen musste. 

Außer bei Kräutern mit besonderen Eigenschaften, die nur an besonderen Plätzen wuchsen.

Auch die Tiere des Waldes kamen nicht nur wegen der Leckerbissen in ihrem Garten zu ihr, sondern, weil sie zu allen ein freundschaftliches Verhältnis pflegte.

Dafür gaben die Tiere Marianne Federn, Haare oder Horn, was sie für ihre Tränke benötigte.

Besonders die Kinder des Dorfes besuchten Marianne oft im Wald und halfen ihr bei verschiedenen Arbeiten. Als Belohnung erhielten sie dafür leckere Teilchen aus Honig, Zuckerrüben und Waldmeister, die Marianne selbst buk.

Die Leute im Dorf lebten dank ihrer Heilfähigkeiten deutlich länger als anderswo und dankten es ihr in Naturalien, wie gehacktem Feuerholz oder Fellen.

Alle lebten eigentlich glücklich beieinander bis zu einem schicksalhaften Tag im Sommer.

Marianne war zum Müller gegangen, um Mehl zu erwerben.

Tobias, der halb erwachsene Sohn des Müllers, ein einfallsreicher junger Mann, hatte ein Auge auf sie geworfen.

Er wusste natürlich, dass sie vergeben war, trotzdem versuchte er sie zu beeindrucken, indem er auf das Rad der Wassermühle kletterte, die sich unermüdlich drehte, um von einer Schaufel zur nächsten zu springen, ohne herunterzufallen.

Marianne lachte, als sie ihn erblickte und verhandelte weiter mit seinem Vater.

Mit einem Mal geriet Tobias aus dem Gleichgewicht, schlug mit dem Kopf hart auf dem Holz auf und stürzte in den Fluss.

Der Vater, der ihn gerade ermahnt hatte, es sein zu lassen, und Marianne entledigten sich ihrer Oberkleidung und sprangen in die Fluten, um den leichtsinnigen Jungen zu retten.

Obwohl das Wasser träge dahinfloss, brauchten sie eine Weile, um den Jungen zu finden und zogen ihn gemeinsam heraus.

Er atmete nicht mehr und war blau angelaufen.

Die sonst tatkräftige Marianne zögerte.

Es war zu viel Zeit vergangen, bis sie ihn gefunden hatten.

„Tu doch etwas!“, sagte der Müller leise, während er an seinem Sohn rüttelte.

Marianne blickte zur Sonne, als hielt diese eine Antwort bereit und schüttelte dann den Kopf: „Ich glaube, er ist schon zu lange fort. Wenn ich ihn zurückholen würde, könnte er bleibende Schäden behalten.“

„Bitte tu es!“, meinte der Müller mit flehender Stimme. „Er ist mein einziges Kind!“ Tränen standen in seinen Augen.

Marianne hatte viele Menschen in ihrem Leben sterben sehen.

„Es ist zu gefährlich. Er könnte nicht mehr derselbe wie vorher sein.“ Sie war im Begriff aufzustehen.

Der Müller hielt sie grob am Arm fest: „Hol ihn zurück oder du wirst meinen Zorn zu spüren bekommen, Hexe!“, herrschte er sie mit zornerfülltem Blick an.

Ihr Arm schmerzte sehr. Die nasse Kleidung zog sie herunter und bei dem Wort „Hexe“ brach es ihr fast das Herz.

Sie praktizierte ausschließlich Kräuter- und Naturheilkunde. Das hatte mit Magie rein gar nichts zu tun. Sie besaß zwar ein paar Bücher, in denen stand, wie man  Magie nutzte, aber davon wollte sie nichts wissen.

„Du tust, was ich dir sage oder …“ Der Müller war aufgesprungen. Sein Gesicht war nur noch eine Fratze. Plötzlich hielt er eine Sense in den Händen, die im Gras gelegen hatte.

Traurig und ohne etwas zu sagen, holte sie den Sohn des Müllers mit ein paar Druck- und Atemübungen von den Toten zurück.

Als er Wasser spuckte und sein Vater ihn in seine Arme schloss, erblickte sie seine Augen. Sie wanderten suchend umher, als wüsste er nicht wo er war und sie waren auch seltsam leer.

Marianne nahm ihren Korb und ihr Kleid und ging, ohne zurückzusehen, zu ihrem Haus.

 

Eine ganze Woche ward sie nicht gesehen und als der Schmied, wieder von ihrem Haus wiederkam, berichtete er, dass es ihr wohl noch eine Weile nicht gut gehen würde.

 

Als sie sich wieder unter die Menschen traute, hatte sie sich verändert. Sie wirkte verschlossener und nicht mehr so fröhlich. Natürlich tat sie weiter ihr Bestes und war zu allen freundlich, hielt aber Abstand.

Oft, wenn sie nach Hause kam, lagen Geschenke vor ihrer Tür. Blumensträuße, bunt bemalte Steine oder geflochtene Lederarmbänder.

Der Schmied war es nicht und so entdeckte sie eines Tages, dass es Tobias war, der ihre Gunst erkaufen wollte.

Sie erwischte ihn auf frischer Tat und wollte ihn zur Rede stellen. Doch er floh einfach.

 

Der Müller besuchte sie und entschuldigte sich für sein Verhalten von damals.

Sein Sohn hatte sich sehr verändert. Er sprach nicht mehr und war nach innen gekehrt. Er half nicht mehr in der Mühle und war von morgens bis abends im Wald unterwegs. Der Müller war verzweifelt.

Marianne erzählte, dass Tobias ihr Geschenke machte und der Müller versprach, dass er ihn dazu bringen würde, dies in Zukunft zu unterlassen.

„Bitte sei nachsichtig mit deinem Sohn, du weißt nicht, welche Last er mit sich herumträgt.“ Sanft legte sie dem Müller die Hand auf den Arm und spürte, dass er den Fehler bereute, den er damals begangen hatte.

 

Tobias hielt sich wie versprochen von ihr fern. Einmal sah sie ihn auf dem Markplatz, wie er Hühnern nachjagte. Sein ganzes Gesicht war grün und blau und die Wunden heilten schon wieder ab.

Als er sie sah, flüchtete er erneut.

 

Allerdings geschahen jetzt ganz andere Dinge.

Jemand hatte den Kräutergarten fast vollständig verwüstet. Es würde bestimmt ein Jahr dauern, bis alles wieder nachgewachsen war.

Auch die Bienenkörbe waren umgeworfen worden und eines Tages lag ein Rehkitz mit durchgeschnittener Kehle auf dem Weg zu ihrer Haustür.

 

Dem Schmied wurde dies alles zu viel. Er wollte sich Tobias zur Brust nehmen, aber dieser war nicht aufzufinden.

 

In der gleichen Nacht lag die Frau des Dorfvorstehers in den Wehen.

Marianne wusste, dass es eine schwierige Geburt werden würde und sie hatte schon alle nötigen Sachen vorbereitet.

Die Niederkunft war wirklich nicht einfach gewesen und die Frau und das Neugeborene begannen zu fiebern.

Marianne hatte Tränke für so einen Fall dabei, dem Baby die Menge angepasst.

Doch es setzte keine Heilung ein. Das Fieber erhöhte und sie verstarben, noch ehe die Sonne wieder aufging.

Die Kräuterfrau war ratlos.

Der Dorfvorsteher und seine Angehörigen konnten nicht glauben, was gerade geschehen war.

Marianne lief nach Hause, um zu verstehen, was sie falsch gemischt hatte.

Und da bemerkte sie, dass bei ähnlich aussehenden Kräutern die Schilder auf den Gläsern vertauscht worden waren.

Nun wollte sie den Schmied aufsuchen, um ihn um seine Hilfe zu bitten. Doch als sie seine Schmiede erreicht hatte, entdeckte sie ihn in einer Lache aus Blut. Ihm war der Schädel mit einem seiner Hämmer eingeschlagen worden.

Marianne wusste weder ein noch aus. 

Draußen hatte sich ein Pöbel versammelt. Mit brennenden Fackeln und Mistgabeln.

„Hexe! Verbrennt die Hexe!“, riefen und grölten sie.

Als sie durch einen Spalt in der Scheunentür lugte, erkannte sie Tobias, der die Meute anführte, gefolgt vom Dorfvorsteher und seiner Familie.

Der einzige sichere Zufluchtsort war jetzt ihr Haus und nur ihr Buch mit der Magie würde sie retten können.

Sie schlüpfte durch eine geheime Hintertür hinaus und schaffte es fast bis in ihren Garten, wo sie im Halbdunkel voller Panik über einen Stein stolperte und umknickte. Etwas war in ihrem Fuß gerissen und der stechende Schmerz lähmte sie.

Langsam erreichte sie der Pöbel.

„Bitte!“, flehte sie. „Es ist nicht meine Schuld. Habe ich euch jemals etwas Böses angetan?“

Niemand hörte auf ihre Worte. Und die Menschen droschen auf sie ein.

Dafür hörte sie die Worte „Hexe“. Wieder und immer wieder.

„Hexe“. Das letzte, was sie sah, ehe sie halb erblindete, war Tobias, der sie höhnisch angrinste.

„Hexe“.Etwas knackte in ihrem Rücken.

„Hexe“. Ihre Haare wurden ausgerissen.

 

Ihr anmutiges, zeitloses Antlitz war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Kleider zerrissen, lag sie auf dem nackten Boden.

Der Versuch ihr Haus anzuzünden war fehlgeschlagen, denn einsetzender Regen hatte die Flammen erstickt.

Da man sie für tot gehalten hatte, waren alle von der Meute wieder in das Dorf zurückgekehrt.

Tobias war als einziger bei ihr geblieben.

Er hatte sich neben sie gekniet und fuhr mit einem Finger über ihren geschundenen Körper.

„Du hättest mich damals sterben lassen sollen“, sagte er mit einer tiefen, rauen Stimme, die nicht zu ihm passte.

Dann zuckte er zusammen, ein Rinnsal Blut lief aus seinem Mundwinkel und mehrere Hörner eines Hirschgeweihs ragten aus seinem Oberkörper.

 

Marianne wusste nicht mehr, wie sie in ihr Haus gelangt war, aber die Tiere des Waldes versorgten sie mit Wasser und Essen, da sie sich kaum rühren konnte.

Sie erholte sich natürlich nie wieder vollends von dem, was ihr zugestoßen war.

Aber sie fand in ihren Büchern einen Zauber, der ihren Körper halbwegs wieder gesunden lassen könnte: Wenn man junge männliche Tiere auf eine bestimmte Art und Weise zubereitete und aß, dann übernahm man ihre Jugend.

Und wenn dies mit Tieren funktionierte, die jetzt ihre besten Freunde geworden waren, klappte es sicher auch mit Jungen und jungen Männern.

Und so fing sie an, ihre leckeren Honigteilchen zu backen und ans Haus zu hängen, damit der unwiderstehliche Duft die Kinder oder am besten noch Knaben anlocken und sie zu ihrem Haus führen würde …

 

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