Von Adalan Grebenuk

In einem Dörfchen im Walde lebte eine Mutter mit ihren beiden Kindern, einem Bübchen und einem Mädchen. Sie waren glücklich, denn das Dörfchen hatte große Erträge und genug an Essen. So saßen die Kinder lachend am Tisch und rochen die Leckereien, welche singend aufgetragen wurden. Es gab Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfeln und Nüssen. 

Die Mutter verstand ihr Werk und machte jede Speise zur Kunst, die es sonst nur auf prächtigen Festen gäbe. So wie ein Lebkuchenhäuschen, das am offenen Fenster stand. Schaute sie nicht hin, versuchten die Kinder einen kleinen Bissen zu erhaschen. Wenn sie die Kleinen erwischte, sagte sie: „Knusper, knusper, kneischen, wer knuspert an meinem Häuschen?“ Und die Kinder lachten vor Scham.

„Ihr seid so süß“, sagte sie. 

„Ich würde euch am liebsten aufessen“, und alberte mit ihnen, gab Küsse und Liebeswünsche.

Doch als der Winter hereinbrach, verarmte das Dorf und die Menschen hungerten. Auch der Mutter fehlte es an genug Essen. Bald wurde das Bübchen krank und kam nicht mehr aus dem Bettchen. Die Mutter sorgte mit Zwiebeln, Honig und Milch, doch dem Bübchen ging es Tag für Tag immer schlechter, bis auch die Mutter krank wurde und schließlich auch das Töchterchen. In der kältesten Nacht lagen alle drei in einem Bettchen und suchten Wärme, während die Mutter Lieder sang. Sie küsste die fiebrige Stirn des einen und der anderen, bis die Leiber ganz kalt wurden und das Klappern der Zähne verstummte, denn die Kinder waren tot.

Es wurde wärmer, die Tage wurden länger, die Mutter wurde gesund, doch ihr Herz drohte zu brechen, denn die Trauer wurde nicht weniger. Sie wagte es nicht, die kleinen Leichen aus dem Bett zu holen. Jeden Tag schlief sie weinend auf dem Boden.

„Ach, lieber Gott, warum hast du mir meine beiden Engel genommen? Warum bist du so grausam, warum strafst du mich so sehr? Wiegen meine Sünden denn so schwer?“

Sie nahm ein Küchenmesser zur Hand.

„Sag, ich tue alles, was du magst. Nur bring sie mir zurück, lieber Gott, bring sie heim“, und machte sich Einschnitte, bis das Blut an ihr herunterfloss. 

Da erschien ihr der Teufel.

„Wein doch nicht, liebes Kind. Ich kann dir helfen, ganz geschwind.“

Die Mutter schrie auf: „Weiche von mir, Satan!“ Und versteckte sich unter dem Küchentisch.

„Nicht doch“, versuchte er sie beruhigen, „Ich kann dir deine Kinder zurückholen.“

Und sie warf sich ihm zu Füßen. „Wirklich? Aber wie?“

„Ich habe ihre Seelen gefangen. Du musst sie nur in einem Gefäß aufbewahren.“

„Einem Gefäß?“, wimmerte die Mutter.

„Einem Körper. Puppe, Vogelscheuche, ganz egal.“

Die Mutter dachte nach. Sie sah ihren Ofen und begann hastig zu backen. Noch vor der Dämmerung hatte sie ein Lebkuchenmännchen und ein Lebkuchenweibchen bereit. Der Teufel nickte und hauchte dem süßen Gebäck Leben ein. Die Zuckerlinsen blinzelten und die Münder lächelten.

„Mama!“, riefen munter die Lebkuchenkinder und schlossen ihre Mutter in den Arm. Die Freude war kaum zu ertragen. Sie wollte danken, doch der Teufel war mit den alten Körpern schon verschwunden.

Es wurde wieder jeden Tag gekocht, gesungen und gelacht. Die Mutter spielte mit den Lebkuchenkindern, schlief mit ihnen in einem Bettchen, doch verließen sie nie das Haus.

Die Dorfbewohner waren verwundert. 

„Was ist mit ihr?“, fragte ein Bauer, „Waren ihre Kinder nicht verstorben und sie trauerte bitterlich, jeden Tag?“

„Wohl wahr!“, entgegnete ein Holzfäller, „Jetzt hört sie jeder wieder singen und lachen.“

„Irgendwas ist da faul“, sprach die Frau des Bauern. Sie rief den Dummling des Dorfes und sagte ihm: „Dummling, schleiche zum Haus der verwaisten Witwe und sieh nach, was sich dort treibt.“

Und so schlich Dummling zum Haus und spähte durch das Schlüsselloch. Dort sah er zwei lebendige Lebkuchenkinder mit der Mutter zu Tische sitzen und speisen. Dummling ging zurück zu den Dorfbewohnern und erzählte, was er gesehen hatte.

„Hexerei!“, rief der Bauer.

„Wahrlich!“ stimmte der Holzfäller mit ein. „Das ist Teufelswerk.“

„Ihr gebrochenes Herz hat sie in eine Hexe verwandelt“, sprach die Frau des Bauern. Gemeinsam gingen sie zum Bürgermeister und erzählten, was sie wussten. Bei Sonnenuntergang marschierten die Dorfbewohner zu dem Haus der Mutter. Mit Fackeln leuchteten sie den Weg und riefen in einem Chor: „Hexe! Hexe! Komm heraus, aus deinem Haus!“

Die Mutter versteckte die Kinder im Bett und trat heraus.

„Was wollt ihr?“, rief sie. „Wie viel muss eine Mutter noch ertragen?“

Der Bürgermeister trat hervor „Sag uns, hast du Hexerei betrieben und tote Dinge zum Leben erweckt?“

„Nichts dergleichen!“, rief die Mutter, „Alles lügen!“

„Dann zeig uns dein leeres Haus!“

Da warf sich die Mutter zu Boden und flehte ihn an „Nein, geht nicht rein. Da gibt es nichts zu sehen. Ich bitte euch.“

„Im Haus ist lebendiges Gebäck!“, riefen die Bürger.

Und Bürgermeister sprach: „Dann ist das ein Hexenhaus. Holt das Teufelsgebäck und verbrennt es auf einem Haufen!“

„Nein!“, schrie die Mutter weinend und zog an der Hose des Bürgermeisters. „Habt Erbarmen, ich flehe euch an!“

Der Bürgermeister riss sich los. „Fass mich nicht an, Hexe. Auch dein Schicksal ist daran gebunden.“

So lief die Mutter ins Haus, nahm die Lebkuchenkinder und dann wieder hinaus. Durch die Meute bahnte sie sich einen Weg. Schläge, Tritte und böse Rufe ihrer alten Freunde und Bekannten bremsten ihre Flucht. Sie stolperte und fiel hin. Stücke ihrer Lebkuchenkinder brachen ab. 

„Oh weh! Meine lieben Kinder, haltet durch, bleibt bitte ganz“, und sie lief in den dunklen Wald. Der Chor der Meute wurde leiser und leiser, bis dieser gänzlich verstummte.

Die Kleidung war zerrissen und ihr war kalt. Allein im Dunkeln wusste die Mutter nicht, wohin. Sie wanderte die ganze Nacht und den nächsten ganzen Tag, die Lebkuchenkinder in den Armen haltend. Ihre Beine wurden müde und sie war hungrig, denn im Wald gab es nichts als die paar Beeren, die auf dem Boden lagen. 

„Ruh dich aus, Mutter, du siehst so schwach aus“, sagte das eine Lebkuchenkind.

„Nicht doch“, sprach die Mutter, „Ich habe noch genug Kraft.“

Am zweiten Tag sagte das andere Lebkuchenkind: „Setzt dich, Mutter, nimm ein Stück von meinem Ärmchen, du siehst hungrig aus.“

„Nicht doch“, sprach die Mutter, „Ihr müsst ganz bleiben.“

Doch am dritten Tag brach sie vor Erschöpfung und Hunger zusammen. Sie faltete ihre Hände und rief: „Lieber Gott, warum hast du mich verlassen? Warum strafst du mich? Bitte, hab Erbarmen und lass mich nicht verhungern.“

Eine vertraute Stimme antwortete: „Nicht doch. Gott kann dir nicht helfen, mein Kind“, und der Teufel erschien wieder. 

„Lieber Satan“, rief die Mutter freudig und warf sich ihm zu Füßen, „So hilf mir doch, bitte!“

„Diesmal kann ich dir nicht helfen, mein Kind. Aber sieh dort“, und er zeigte auf wildes Dornengestrüpp. Da saß ein schwarzer Rabe, der sich in eine alte Hexe verwandelte, mit roten Augen, Rindenhaut und Knochenfüßen. Sie lachte boshaft und sprach höhnisch zum Teufel.

„Einen fiesen Dienst hast du ihr erwiesen.“ 

Dann wandte sie sich der Mutter zu.

„Du wirst verhungern und deine Kinder von wilden Tieren gefressen. Rette dich und iss ihre Körperchen. Nur so wirst du überleben“, und lachte in den Wald.

„Nein!“, rief die Mutter, „Das kann ich nicht. Wie soll ichs übers Herz bringen, meine Kinder zu essen? Gibt es keinen anderen Weg?“

„Dumme Gans“, sagte die Hexe, „Nur so erlangst du Kraft. Ihre Seelen werden in dir sein und du wirst haben, große Macht.“

„Nein“, sagte sie Mutter, „Dann werde ich wandern, bis mich die Lebenskraft verlassen hat.“

Die Lebkuchenkinder zerrten an ihr. 

„Mutter, iss uns, bitte. Bitte, du musst leben. Verhungere nicht im Wald.“

Die Mutter weinte, denn sie wusste nicht, was sie tun sollte. Also hielt sie sich die Ohren zu. Doch die Lebkuchenkinder brachen sich gegenseitig Stücke ab und gaben sie der Mutter. Da schloss sie ihre Augen und nahm einen Bissen. Sie schmeckte das süße Fleisch und ihre salzigen Tränen. Stück für Stück aß sie ihre Lebkuchenkinder, während der Teufel und die Hexe sich amüsierten, bis keins mehr über war.

Als die Mutter die Augen öffnete, saß sie in einer Pfütze von Blut. In ihren Händen waren kleine Knochen. Auch ihr Mund war vom Rot verschmiert. 

Sie weinte bitterlich: „Ich will das nicht sehen!“ 

Und der Teufel gab ihr rote Augen, die nicht weit sehen konnten, aber dafür eine feine Witterung wie sie Tiere haben. 

Die alte Hexe ging zur Mutter und sprach: „Sei nicht traurig. Vergiss nicht, die Dorfbewohner haben dir das angetan.“

Und ein neuer Hunger breitete sich in der Mutter aus, „Ich werde es nicht vergessen.“

„Gut“, sagte die Hexe, „Nimm diesen Hass. Er wird dich stark machen. Jedoch musst du im Wald verharren.“

„Ich werde auf ihre Kinder warten“, sprach die Mutter.

Die Hexe lachte: „Und sie werden kommen. Erst wirst du ihre Bäuche und dann den deinen stopfen. Dein Hass wird wachsen, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Du wirst alt werden und dich vergessen, bis du ganz wirst wie ich, die alte Hexe dieses Waldes. Und eines schönen Tages wirst du an der Seite zweier Engel ein gottloses Ende finden!“

Die Hexe klatschte in die Hände, wurde wieder zum Raben und flog davon. Auch der Teufel war verschwunden. Die Mutter war allein. Mit ihren neuen Kräften errichtete sie sich ein Heim, wo sie fortan lebte, für sich allein. Und wie die alte Hexe es prophezeit hatte, gingen viele Kinder verloren und kamen in ihre Hände. Ihr Hunger konnte nicht gestillt werden und ihr Hass wuchs, Tag für Tag und Jahr für Jahr. Sie wurde sehr alt und hatte sich ganz vergessen. So wurde sie zur alten Hexe des Waldes. Und sie genoss ihr Schicksal, bis sie eines verwunschenen Tages zwei Engelchen zu ihrem Lebkuchenhäuschen lockte und ihr gottloses Ende fand. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Version 2