Von Brigitte Noelle

„Es gibt viel Ungeheuerliches, doch nichts Ist ungeheuerlicher als der Mensch.“ (Sophokles, Antigone, 2. Akt)

 

Wir lebten im Dorf, meine schöne Mutter und ich, ihre weiße Taube, wie sie mich nannte. Denn mein Haar war hell und leuchtend wie der Mond am Himmel, meine Augen fliederfarben und in ihrer Mitte glommen rote Punkte.  

Meine Mutter war die kräuterkundige Hebamme des Dorfes und hatte schon zahlreichen Frauen in ihrer Not geholfen. Glücklich lebten wir damals.                                  

Doch Weh und Ach! Krieg brach aus und eine große Teuerung, das Brot wurde knapp, der Hunger groß und alle wandelten dürr und blass umher. Kinder wurden aber immer geboren, und dann wurde meine Mutter gerufen, um den Frauen in ihrer Stunde beizustehen.  

Auch die Frau des Schmieds war darunter. Sie hatte eine schwere Geburt und war stark geschwächt. Daher braute meine Mutter in ihrer Küche einen Trank zur Stärkung der Wöchnerin und schickte mich noch am selben Abend los, um ihn zum Schmied zu bringen. Der Mond schien hell, ich fand das Haus, in dem die Kerzen brannten. Doch was für ein seltener Geruch drang aus den Fensterritzen? Neugierig versuchte ich einen Blick durch eine Spalte im Laden zu werfen. Welch Schrecken! Welch Grauen! Meine Augen wollten nicht wahrhaben, was sie sehen mussten, meine Beine versagten, meine Kehle war zugeschnürt. Ohne klare Gedanken zu fassen taumelte ich nach Hause. Mutter merkte sofort, dass etwas passiert war, doch ich brachte kein Wort heraus – bis heute kann ich mein Entsetzen nicht in Worte fassen. 

Tags drauf hörte man im Dorf, des Schmieds Kind wäre gestorben und man habe es ungetauft im Garten begraben. 

Einen Mond darauf war es bei der Schneidersfrau so weit. Und auch diesmal bereitete meine Mutter ein kräftigendes Elixier zu, doch diesmal musste sie es selbst überbringen. Ich war seit meinem Erlebnis nicht mehr zu bewegen, das Haus zu nächtlicher Stunde zu verlassen. Als meine Mutter leichenblass zurückkam, wusste ich, was ihr widerfahren war.  Weinend, zitternd, saßen wir in wortloser Umarmung im Dunkeln. 

Am anderen Tage machte der Tod des Kindes die Runde, und der Schneider schrie es am Anger laut heraus: Meine Mutter soll das Würmlein verhext haben, so wie auch das des Schmieds. Zuerst kaum beachtet, fraß sich das üble Gerede wie Feuer seinen Weg und nach Ablauf dreier Tage loderte die Flamme der Verleumdung brüllend durch die Gassen. Als sich die Leute des Dorfes, allen voran der Schmied und der Schneider, zusammenrotteten, wusste meine liebste Mutter, was es geschlagen hatte. Sie stieß mich zur Hintertüre hinaus. „Ich liebe dich, Kätchen“, rief sie, „Aber jetzt lauf, lauf weg, so schnell du kannst, und schau nicht zurück!“ 

Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ich hörte noch, wie die brüllende Meute in unseren Hof einbrach, und die verzweifelten Rufe der Mutter.

Und ich lief, lief durch dichte Wälder, über sieben Berge, lief um mein Leben. Nährte mich von Beeren am Wege, trank das Wasser der Bäche, und nach sieben Tagen sah ich auf einer Lichtung eine alte Hütte. Vorsichtig näherte ich mich: Wer mochte wohl darin hausen? Ich blickte hinein. Da lagen bärtige Männer am Boden, ihre Gesichter waren schrecklich entstellt und sie schienen tot zu sein. Erschreckt zog ich mich in den Wald zurück, wartete ab. Doch am nächsten Tag war meine Schwäche so groß, dass ich mich wieder in die Hütte wagte. Tatsächlich, die Männer waren starr und leblos. Ich schleifte sie ins Freie und hob mit einer Schaufel, die ich gefunden hatte, ein Grab aus, in dem ich sie begrub. Glücklicherweise waren alle sieben sehr klein gewachsen, sodass meine geringen Kräfte ausreichten. Dann durchsuchte ich die Hütte: Es gab Korn, getrocknete Früchte und geräuchertes Fleisch. Hinter dem Haus entdeckte ich einen verwilderten Garten mit allerhand Kräutern und Gemüse, Hühner pickten im Boden und in der Kammer stand eine Truhe. Was mochte wohl darin sein? Ich öffnete sie: Eitel Gold, Edelsteine, Perlen, feines Geschmeide! Bestimmt waren die Männer Räuber und die Hütte ihr Versteck, in dem sie schließlich einer Seuche erlegen waren.  

Des Wissens der Kräuter ebenso kundig wie meine arme Mutter räucherte ich die Räume mit reinigenden Kräutern aus, allein – zu spät: Bald merkte ich die Anzeichen der bösen Krankheit. Viele Tage lag ich in hitzigem Fieber, doch ich überlebte. Seither sind aber meine ehedem geraden Glieder krumm, mein Antlitz eingefallen, meine Schönheit dahin. 

Ich bestellte den Garten und grub neue Beete, in denen ich allerlei Kraut und Korn zog. Ich sammelte Holz und die Früchte des Waldes: Beeren, Pilze, Sämereien. Eines Tages fand ich im Gemüsegarten eine verirrte Ziege mit ihrem Jungen. Seitdem teile ich mir die Milch des braven Tieres mit dem Zicklein. So vergingen viele Monate, und ich begann, mich an das Leben in meiner einsamen Hütte zu gewöhnen. 

Das Leben davor schien mir wie ein Traum: Süß in Gedanken an meine Mutter, unnennbar bitter jedoch an das Ende: Der Mensch ist doch schlimmer als der wütende Wolf, als der grimme Bär. Wenn er, wie der Pfarrer predigte, das Ebenbild Gottes ist, dann verdamme ich nicht nur den Menschen, sondern auch diesen blutrünstigen Gott, und ich preise mich glücklich, mein Leben fernab von diesem Gezücht fristen zu dürfen. 

Trost fand ich bei den Tieren des Waldes: Hase, Fuchs und Igel begegneten mir vertrauensvoll, denn sie wussten, ich trachte ihnen nicht nach dem Leben. Auch die Vöglein flogen mir zu, und ein schönes, weißes, wurde zahm richtete sich unter meinem Dach häuslich ein. Alle Tage erfreute es mich mit seinem Gesang. Was brauchte ich das menschliche Geschlecht, hier fand ich weitaus bessere Gesellschaft! 

Als sich die Blätter begannen zu verfärben, flog mir mein weißes Vöglein zur Unzeit zu und zwitscherte voll Unruhe. Was tust du mir kund, mein Liebling? Da: Am Waldrand erschien eine kleine menschliche Gestalt, ein Mädchen wankte auf mich zu, kaum konnte es die Füße voreinander setzen. Ich brachte es ins Haus, bot ihm Nahrung. Doch es sprach wirr, erzählte eine schauerliche Mär, dass es mit einem Wolf geredet hätte. Ich gab ihm mein eigenes Bett und wachte an seinem Lager. Die Zeichen der Krankheit waren mir bekannt: Es hatte von den giftigen Pilzen gegessen, die überall im Wald wuchsen. Nach zwei Tagen verschied das Mägdelein.

Erschöpft von den Nachtwachen sank ich in tiefen Schlaf.  

Als ich erwachte, war es finstere Nacht. Der Sturm wütete über’s Dach der elenden Hütte, im Wald heulten Wolf und Fuchs, meine krummen Glieder schmerzten. Bald würde wohl der erste Schnee kommen. In nächtlichem Dunkel lag ich – ich hatte wieder geträumt und war voll Schrecken erwacht. Es war der gleiche Traum wie schon tausend- und abertausende Male: Ich sah den Schmied mit seiner Familie, und sie waren am Tisch um einen Braten versammelt, und das war – nein, es ist zu schrecklich. 

Doch nebenan lag ein totes Mädchen, gehörig zu dieser Menschenbrut, von der ich mich losgesagt hatte. Könnte ich es ihr nicht gleich machen? Die ganze Nacht lag ich und kämpfte. Wessen Weg sollte ich folgen: Dem guten meiner Mutter? Dem verfluchten der Dorfbewohner? Als die Dämmerung hereinbrach, fasste ich meinen endgültigen Beschluss.

Des Morgens begrub ich das junge Ding und pflanzte auf ihrem Grab einige späte Blumen. Unweit meines Hauses fand ich ein Käppchen aus rotem Sammet, das wohl dem armen Mädchen gehört hatte. Ich hängte es an einen Zweig über dem Grab.                             

Der Frühling kam, und ein fahrender Händler verirrte sich an meine Türe. Als er mich erblickte, erschrak er, der doch schon so vieles auf seinen Reisen gesehen haben musste.  Dann entdeckte er das rote Häubchen und sein Blick wurde starr. Aber er fasste sich und ich konnte Salz, Mehl und andere Nahrung erstehen, die ich mit einem Taler aus dem Schatz der Räuber bezahlte. Ich sah, wie Gier und Angst in ihm einen Kampf austrugen, doch ich war sicher: Auch wenn er mich für eine Hexe hielte, er würde wieder kommen. 

Das Jahr zog seinen Kreis, und als sich die Blätter wieder verfärbten, sang mir mein weißes Vöglein das gleiche Lied wie ehedem. Wen kündest du mir wohl? Etwa den Händler? Ich holte das Schatzkästlein hervor, um die Mittel zur Bezahlung bei der Hand zu haben.  

Doch ich hatte mich geirrt: Da kamen sie, diesmal waren es zwei: Ein Junge und ein Mädchen. Unsinnig vor Hunger brach der Junge eine morsche Dachschindel heraus und fraß sie. Das Mädchen riss das Pergament, das im Fenster Kälte und Regen abhielt, in Streifen und leckte daran, als ob es schierer Zucker wäre. Die armen Kinder! Ich erbarmte mich und öffnete die Türe …

 

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Aus der Chronik des Fleckens Graußweil aus dem Jahre Anno Domini 16**: 

Am Tag des heiligen Pirmin ereignete sich in unserem Dorfe ein wundersames Ereignis: Johannes und Margarethe, Kinder des armen Holzfällers Barthel, fanden den Weg zu ihrem Elternhaus, nachdem sie mehr als einen Mond lang nicht gesehen worden waren und man sagte, sie wären im Walde von wilden Bestien zerrissen worden. 

Die Kinder brachten Kunde, dass sie im tiefen Walde von einer bösen Hexe gefangen gehalten wurden. Selbige hegte den Wunsch, sie zu verspeisen. Mit Gottes Hilfe konnten die Kinder das Ungeheuer überwältigen und zu Tode bringen. 

Diese Kundschaft glauben wir umso mehr, als ein fahrender Händler, genannt der Kramer-Toni, eine ähnliche Mär berichtet hatte, ergo von einer Hexe, die tief im Walde lebet und kleine Kinder fresset. Er warnte alle Mitmenschen, sich zum Orte hinter den sieben Bergen zu begeben. 

Mit den Kindern zog auch Gottes Segen ins das Haus des Holzfällers, sintemalen ihm Glück und Wohlstand bescheret war und er nimmermehr Not leiden musste.

 

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