Von Jochen Ruscheweyh

Ich wohne noch nicht lange in unserer Hauptstadt.

Es gibt eigentlich auch keinen Grund für mich hier zu leben.

Ich könnte mir ebenso gut eine Wohnung in Köln oder Essen nehmen. Diese so genannten Mentalitätsunterschiede, nichts weiter als Soziologen-Geschwafel oder gewagte kulturelle Verhaltenszuschreibungen.

Was mich an Berlin gereizt hat, war die Vorstellung, die Stadt könnte mich auf eine besondere Weise zum Schreiben inspirieren.

Ein Trugschluss.

Aber ich gebe ihr und mir hier und heute eine letzte Chance. Ich habe diesen wunderbaren Platz entdeckt, die Kreuzberger Haupt-Zentrale, ein Friseurgeschäft, das mich gleichzeitig fasziniert und abstößt.

 

Einleitend muss ich mich outen, dass ich schon immer über Damenbärte schreiben wollte, aus dem egoistischen Grund, dass ich sie extrem ansprechend finde. Also nicht ansprechend im Sinne von sexy, sondern eher auf einer ästhetischen Ebene. Außerdem besteht in mir eine tiefe mitgefühlähnliche Zuneigung zu diesen ungeliebten Oberlippenwüchsen, die changierend ihre Farbe wechseln – nein, diese Redundanz lasse ich mir nicht nehmen –, je nachdem, wie das Licht auf sie fällt; mal in einem flauschigen Blond schimmern, mal die dunkle Borstigkeit eines Mittpubertär-Flaums transportieren.

 

„Wie war deine Woche bisher?“, fragt Barbara vom Stuhl nebenan, während ihr die Alufolie fröhlich zwischen Nase und Oberlippe wippt und ein paar Tropfen der Lotion freigibt, die … nein, ich habe noch keine Ahnung, was sie bewirken soll. Denn Barbaras Haut ist makellos. Gut, sie heißt wahrscheinlich nicht Barbara, hat die Alufolie auf dem Kopf und sie spricht auch nicht mit mir. Aber wenn ich es mir vorstelle, habe ich ein Gerüst, auf dem ich aufbauen kann.

 

Madonna befreite sich durch einen aufgeklebten Schönheitsfleck vom Makel der Makellosigkeit. Barbara würde ein Damenbart auf ein anderes Level heben. Deshalb imaginiere ich ihr einen. Aber eine Frau mit einem Damenbart allein macht noch keine Story.

Sie könnte eins mit sich selbst sein.

Kein Konflikt.

Grauenhaft.

 

 

Ich entscheide mich dazu, dass sie darunter leidet. Und dass die Lotion sie von dem befreien soll, was mich, den geheimnisvollen Fremden im Stuhl nebenan, an ihr fasziniert. Das Ding, über das ich schon immer gern eine Novelle verfasst hätte, aber nicht wusste, wie. Aber weil geheimnisvolle Fremde etwas für Romane sind, die in Sammelbänden erscheinen und in Bahnhofsbuchhandlungen um Säulen herum drapiert sind, brauche ich noch etwas Grenzensprengendes für meine mich spiegelnde Figur.

„Ganz okay, es könnte wärmer sein und der Zeitungsbote zur Abwechslung mal wieder pünktlich“, notiere ich auf meinem iPad, in so kleiner Schrift, dass der Friseur es nicht lesen kann, wenn er meine Kopfhaut massieren kommt. Gleich zwei Belanglosigkeiten in einem Satz. Wow!

Vielleicht liegt es daran, dass Barbara bereits mit zwei Fingern auf der Armlehne des Barbierstuhls trommelt. Das lenkt mich ab.

Ihre Ungeduld benötigt eine Rechtfertigung in meiner Story. Hormone? Nein, versetzte Doppelung mit dem Damenbart. Sie braucht eine Profession, die Ungeduld als Grundvoraussetzung verlangt. Ich verberufe sie zur Journalistin, in ihrem Fall ein hübscheres Wort für Klatschkolumnistin.

„Gut, was hast du für mich?“, kommt sie schneller als erwartet auf den Punkt. Ich liebe es, wenn meine Figuren mich dominieren.

Ich entmystifiziere mich, den geheimnisvollen Fremden, indem ich ihn erzählen lasse, dass er im Kanzleramt arbeitet. Was in seiner Realität eine Lüge ist, da er sein Geld als Autor verdient. Aber er ist überzeugt, dass Menschen wie Barbara glauben, was sie glauben wollen. Er kann durchaus mit dieser gedehnten Wahrheit leben, wenn das der Preis dafür ist, sich am Anblick ihres Hirsutismus – hier müsste der Leser googeln, das mute ich ihm zu, denn ich habe es auch getan – erfreuen zu dürfen.

„Was bewegt sie gerade?“

Er ist bereits einen Schritt weiter gegangen und hat sich ihr gegenüber als persönlicher Berater von Angela Merkel ausgegeben, daher kreiere ich diese Frage von Barbara.

Er lässt sie noch einen Moment zappeln und nimmt den Espresso entgegen, den Clément ihm reicht. Kosmetiker heißen nicht Stefan oder Michael, Clément finde ich standesgemäß. Ob das Fluid seine Haut schon zu beruhigen beginnt, will Clément wissen. Mein nun schon semi-eingeführtes Alter Ego, der geheimnisvolle Fremde, gewinnt an Kontur, als er in meinem Handlungsstrang bestätigt, obwohl es sich bei jeder Sitzung einfach nur nass für ihn anfühlt.

„Sie“, ich lasse ihn das sie bei seiner Antwort extra stark betonen, „zeigt diese Woche Symptome einer akuten Ptosis. Nichts Ernstes, aber lästig, die Oberlider hängen halt. Noch mehr als sonst“.

Ihre einzig logische Antwort muss lauten: „Meinst du, es ist der Stress?“

Er nimmt einen kurzen, aber geräuschvollen Schlürf von seinem Espresso, um die Bedeutung seines nächsten Satzes zu betonen. „Stress ist immer ein auslösender Faktor. Es wird aber auch über eine Lebensmittelunverträglichkeit spekuliert.“

Ein verneigungswürdiger Dialog.

Clément entfernt Barbara die Alufolie. Ein weiteres Mal ist der Protagonist erleichtert, dass das wunderbare Ding, was über ihren Lippen gedeiht, noch genauso präsent ist wie zuvor.

„Machen wir tolle Fortschritte“, weiß Clément sein kosmetisches Versagen schönzureden.

Clément wird zu meiner Lieblingsfigur in dieser Story avancieren, das spüre ich schon jetzt.

 

 

Ich könnte mir vorstellen, dass sich der Protagonist zu Hause durch NTV und siebzehn weitere Satelliten News-Schleudern schaltet, bis er Angela entdeckt. Ein neuer Konflikt muss her.

Er fühlt sich marionettenähnlich mit der Kanzlerin verbunden. Ihre Lider hängen. Er sieht dies als Bestätigung, dass alles, was er Barbara from behind the Kanzleramt-Scene dahinphantasiert, der einflussreichsten Frau Deutschlands tatsächlich geschieht.

The Slave becomes the Master, denn das Kind braucht einen markigen Slogan. Er ist sich noch nicht einmal sicher, wann es angefangen hat. Aber es funktioniert nur in der Kombi mit Barbara, ihm und der Haupt-Zentrale, die in meiner Story Barbier-Zentrale heißt. Das Seltsame daran: der Protagonist meiner Story verspürt keinen Wunsch, darüber zu schreiben. Dafür sucht er umso brennender Worte für das, was ihn an Barbara fasziniert.

 

Her mit den Folgekonflikten: Die Kamera fängt ein CloseUp ein. Die Stimme aus dem Off kommentiert, dass Hängen im Schacht angesagt ist. Er ist durch diese Kommentierung plötzlich betroffen, weiß nicht, sich emotional dazu positionieren soll, obwohl er Angela an unterschiedlichen Tagen zuvor bereits eine neue Frisur, ihr Standing in der Flüchtlingsfrage und einen Konflikt mit Herrn Seehofer angeplaudert hat. Aber vielleicht war er schon immer ein Typ der späten Reflexion.

Ich lasse ihn den Ton leise stellen und die Nummer der Telefonseelsorge wählen, weil ich diese Institution für eine Institution und multikompetent halte.

Schreibregel 3: Rechne mit dem Unerwarteten. Daher entscheide ich, dass der Seelsorger sinniert, wenn man eine außerordentliche Gabe besäße, dürfe man nicht den Fehler begehen, sich genötigt zu fühlen, etwas Sinnvolles damit anzufangen. Er bringe jetzt einmal ein metaphorisches Beispiel. Jemand habe vor einigen Jahren festgestellt, dass er mit dem Fischreiher kommunizieren könne, der in wiederkehrender Regelmäßigkeit die Kois aus dem Teich seines Nachbars fischen würde. Selbstverständlich könnte dieser Jemand seinem gefiederten Freund ins Gewissen reden, auf Forellen umzusteigen. Aber er würde gerade das nicht tun, weil er sich nicht im Sinne einer optruierten stellvertretenden Wertbindung einreden lasse, das Leben eines Hipster-Sushi-Karpfens sei auf einer Werteskala höher anzusiedeln als der Appetit seines fliegenden Gesprächspartners. Also diskutiere er mit dem Fischreiher stattdessen die Kurse für leichtes Heizöl oder die Renditechancen von Junk Bonds.

Ich markiere diesen Abschnitt als optional streichbar, nachdem ich ihn notiert habe.

 

Und weiter:

Am folgenden Donnerstag trommeln Barbaras Finger wieder gegen die Armlehne. Er kommt ihrer Frage zuvor, als er sagt: „Könntest du dir auch vorstellen, woanders journalistisch tätig zu sein?“ Denn, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, die Novelle jemals zu beginnen, dann nur außerhalb von Berlin, davon ist er überzeugt. Ich nicht, aber ich mag es, jemandem Eskapismus anzudichten.

„Zum Beispiel?“

„In Essen-Kupferdreh es gibt recht nette Villen aus der Gründerzeit.“

Barbara antwortet nicht, denn Clément tritt neben sie.

„Schöne Dame, Clément lüften jetzt Folienkur.“

Alter Ego ist bestürzt, erschüttert, verwirrt, emotional betroffen, alles gleichzeitig, aber natürlich show don’t tell ohne Adjektive, als die Stelle zwischen Barbaras Nase und Lippen auf einmal kahl, verödet und dechamäleonisiert glänzt. Sie postiert sich vor dem Wandspiegel und beginnt, mit ihrem eigenen Grimassenspiel zu interagieren, fällt Clément um den Hals und benetzt dessen Kragen mit Tränen und Sabber aus den falschen Gründen.

Der so Befeuchtete philosophiert auf einmal ohne französischen Akzent: „Manchmal gibt man sich Noten für Verhalten und manchmal geben diese Noten sich verhalten.“

Da erkennt der Protagonist, dass er ein komplett von Egoismus durchtriebenes Wesen ist, das Barbara ihr Glück auf Schönheit nicht gönnt. Und vielleicht um sich selbst zu beweisen, dass er sich ändern, den oberflächlichen Menschen, als der er gerade rüberkommt, zurücklassen kann, sagt er leise: „Angela hat einen Plan, das Land zu einen.“

 

Er ist bereits auf der Straße, als er Barbaras Stimme seinen Namen rufen hört, sich umdreht und mit hüpfendem Herzen denkt: ,Clément, dieser verdammte Mistkerl’, als sich die Sonne unter Barbaras Nase bricht und dort doch noch alles ist, wie es war.

„Was möchtest du noch über sie wissen?“, lächelt er sie an, denn irgendwie kann er doch nicht aus seiner Haut.

Er is Autor und braucht den Thrill.

 

Ich schließe die Datei rasch, bevor der Friseur mit der Kopfmassage beginnt. Zeit, darüber nachzusinnieren, ob Berlin und ich unsere Chance genutzt haben.

 

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