Von Raina Bodyk

NACHTS

„Ich bin so müde“, stöhnt Hilde und sucht resigniert im Dunkel des Schlafzimmers nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe. Ihr Mann Dieter kriecht schimpfend auf allen vieren quer über das Doppelbett. Offensichtlich weiß er nicht mehr, wie er aus dem Bett kommt und wie er die Toilette findet. Sie führt ihn verschlafen hin und hilft ihm danach wieder ins Bett. Erschöpft schließt sie die Augen und ist sofort wieder im Land der Träume. Zwei Stunden später erneutes Rumoren. Dieter kramt laut in seiner Nachttischschublade und sucht schimpfend den Lichtschalter.

 

MORGENS

Hilde vergräbt sich gähnend hinter der Zeitung. Sie hat das Gefühlt, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Plötzlich erregt eine Anzeige in der Beilage ihre Aufmerksamkeit. Eine Kreuzfahrt auf der Ostsee. 14 Tage. Ausflüge nach Stockholm, Mariehamn, St. Petersburg, Tallinn, Riga, Danzig, Kopenhagen. Hilde seufzt schwer. Davon hat sie immer geträumt. Aber es geht nicht. Sie kann ihren Mann nicht allein lassen. Er hat sich bisher immer geweigert, in die Kurzzeitpflege zu gehen. Oft genug hat sie es versucht. Aber wie soll sie einem dementen Mann mit Vernunftgründen klarmachen, dass sie eine Pause braucht? Er versteht es einfach nicht.

Zehn Uhr – mal sehen, ob sie ihren Mann dazu bekommt aufzustehen.

„Dieter, aufstehen! Das Frühstück wartet.“

„So spät schon? Ich komme!“ Bald erscheint er fix und fertig angezogen im Wohnzimmer.

„Hast du dich gewaschen und dir die Zähne geputzt?“

„Keine Ahnung.“

„Dann hauch mich mal an.“ Er atmet sie an, leicht verschämt den Kopf halb gesenkt. „Mmmmh. Gehst du sie bitte noch putzen? Sonst gibt es keinen Guten-Morgen-Kuss!“ Waschen fällt aus. Er würde sich ja doch nicht wieder ausziehen.

Gemeinsames ausgiebiges Frühstück. Dieter ist wie meistens sehr lieb und voller Tatendrang und bietet seine Hilfe an. Eifrig trägt er den frisch aufgebrühten Tee in der Kanne an den Esstisch. „Kann ich noch helfen?“

„Nein, den Rest bringe ich gleich mit.“ Nach weiteren geschätzten sechs bis acht Nachfragen können sie frühstücken. Hilde fragt: „Ist das Wetter nicht wunderschön? Lass uns doch nachher ein bisschen in die Stadt gehen.“

„ICH HABE DICH NICHT VERSTANDEN.“ Jede Silbe ist betont.

Sie wiederholt die Frage.

„JETZT habe ich dich verstanden!“

Wie sie das nervt! Den ganzen Tag immer wieder diese beiden sehr akzentuiert ausgesprochenen Sätze. Gern wirft er ihr in aggressivem Ton vor, sie rede zu leise. „Machst du das eigentlich absichtlich?“

Sie hat den Verdacht, dass das Problem nicht in der Lautstärke liegt, sondern dass er die Worte inhaltlich oft nicht mehr versteht

Dieter wendet ein: „Die Wolken da bedeuten bestimmt Regen, da bleiben wir besser zuhause.“

Hilde kennt das schon und stimmt ihm zu. Als die Demenz anfing, hat sie immer noch diskutiert, versucht, ihn zu überreden oder zu überzeugen. Jedes Mal endete es damit, dass sie sich anschrien. Es hat lange gedauert, bis sie verstanden hat, dass sie am besten einfach schweigt, wenn sie nicht seiner Meinung ist und (vorerst) akzeptiert, dass er etwas nicht möchte.

 

MITTAGS

Später macht Hilde den gleichen Vorschlag noch einmal. Dieter ist begeistert: „Wir könnten doch Kaffee trinken gehen.“ Hilde grinst.

Dieter räumt den Tisch ab. Nachdem Hilde Brot, Käse und Butter wieder aus der Spülmaschine geholt und in den Kühlschrank geräumt hat, kann es losgehen. „Was liegt an?“ fragt Dieter.

„Schuhe anziehen, Anorak, Mütze. Toilette nicht vergessen.“
„Okay!“, kommt es munter aus Richtung der Garderobe. Jetzt ihm noch den Reißverschluss seiner Jacke schließen, dann machen sie sich gut gelaunt auf den Weg.

Im Café suchen sie sich Kuchen aus. Hilflos kann er sich wie immer nicht entscheiden. Hilde greift ein: „Sieh mal, sieht der Himbeerkuchen nicht lecker aus?“ Geschafft! Um Kaffee zu bestellen, ruft Dieter mehrmals nach der Bedienung, weil er immer sofort wieder vergisst, dass er das bereits getan hat.

 

Angeregt unterhalten sich die beiden über einen Kurzurlaub. Es darf nicht weit weg sein, keine bergige Gegend, mit kürzesten Wegen zu Sehenswürdigkeiten oder Lokalen. Mehr als ein paar hundert Meter schafft Dieter nicht. Nicht so einfach.

Dieter hat noch ein Problem: „Aber wie können wir denn in Urlaub fahren? Was machen wir mit den ganzen Kindern?“

„Welche Kinder?“

„Die Kinder, die dauernd in der Wohnung rumlaufen.“

„Oh die! Die geben wir rechtzeitig beim Weihnachtsmann ab!“

Dieter lacht und wird schlau gemacht, dass sie keine Kinder haben.

Sie bringt ihn gern zum Lachen. Sie hat gelernt, vieles mit Humor zu nehmen. Oft lachen sie gemeinsam über das, was er so anstellt. Wie zum Beispiel, als ihr Mann neulich die Zahnpasta statt des Deos großzügig unter den Achseln verteilte.

Auch seine neueste „Macke“ löst bei ihr inzwischen großes Gelächter aus. Grinsend erzählt sie ihrem Bruder am Telefon davon: „Dieter kommt seit neuestem circa einmal pro Woche mit einem Riesenproblem zu mir. Er hält mir seine Schlappen unter die Nase und behauptet steif und fest, sie passen nicht zusammen. Er sucht die ganze Wohnung ab, um die Gegenstücke zu finden. Du kannst mit ihm Naht für Naht vergleichen, argumentieren, so lange du willst – sie passen nicht zusammen! Beim ersten Mal habe ich mich noch in eine anderthalb Stunden dauernde Diskussion eingelassen. Jetzt verweigere ich jede Aussage!“

 

NACHMITTAGS

Heute hat Dieter seine Frau zum ersten Mal nicht erkannt. Er weiß, dass seine Frau Hilde heißt, aber die Frau vor ihm ist ihm unbekannt. Hilde hat vor diesem Augenblick lange große Angst gehabt. Sie muss sich zwar ein paar Tränen abwischen und verschwindet im Schlafzimmer, damit Dieter es nicht sieht. Aber sie kommt besser damit klar als sie dachte. Sie verflucht aus tiefstem Herzen diese Krankheit, die einfach eine Persönlichkeit auslöscht. Was geblieben ist, ist ein hilfloses Kind. Einen Ehemann hat sie nicht mehr.

Nach wenigen Minuten geht die Schlafzimmertür auf. „Hier bist du! Ich habe dich schon überall gesucht.“

Seufzend erhebt sich Hilde. Das ist auch so eine Sache: Sie kann nie mehr allein sein. Er hängt sprichwörtlich an ihrem Schürzenzipfel. Egal, ob im Bad oder sonst wo, er ist immer auf der Suche nach ihr. Manchmal steht sie um sechs Uhr morgens auf, nur um einfach mal die Ruhe zu genießen – für ihren Mann läuft immer der Fernseher – und gemütlich die Tageszeitung zu lesen und einen süßen Tee zu schlürfen.

 

NACHTS

Mitternacht. Dieter ist müde und will ins Bett, geht aber nur, wenn seine Frau mitgeht. Sie möchte noch aufbleiben. Er setzt sich wieder aufs Sofa und wartet. Als nichts passiert, droht er, die Sicherungen herauszudrehen, dann könne sie im Dunkeln sitzen bleiben. Hilde ist nur froh, dass er die nicht findet.  Um zwei Uhr sitzt er immer noch wachsam da und behält seine Frau im Auge: „Monatelang warst du nicht zuhause, hast dich sonst wo herumgetrieben. Ich passe auf. Die Polizei weiß längst über dich und deine Unternehmungen Bescheid. Wenn ich die anrufe, kommen die sofort und nehmen dich mit.“

 

MORGENS

Eine schlechtgelaunte Ehefrau sitzt am Esstisch. Sie ist noch nicht gnädiger gestimmt. Dieter weiß zwar nicht, was sie hat, versucht aber sein Bestes, ihr Freude zu machen. „Kann ich was tun?“

In der Zeitung ist wieder die Anzeige von gestern. Sehnsucht steigt in ihr auf.

 

MITTAGS

Hilde verlässt das Reisebüro. Sie hat tatsächlich die Kreuzfahrt gebucht. Sie kann es selbst nicht glauben. Sie weiß nicht recht, ob sie sich freuen soll. Sie wird doch wohl nicht auf ihre alten Tage flügge werden? Ihr ist übel. Hat sie sich übernommen? Ob die Dame im Reisebüro gemerkt hat, wie sehr ihr Herz gerast hat? Sie hat noch nie etwas allein gemacht. Dieter war immer an ihrer Seite. Was ist ihr da nur eingefallen? Ob man die Reise innerhalb von vierzehn Tagen stornieren kann? Sicher würde sich eine Freundin zur Begleitung finden. Aber sie kennt sich und weiß, dass sie es zuerst einmal allein versuchen muss. Mit allen Ängsten und Risiken…

Sie beschließt, auf jeden Fall eine Reiserücktrittsversicherung abzuschließen. Dann kann sie auf jeden Fall noch zurück. Dieser Gedanke gibt ihr etwas Sicherheit. Dieter wird doch nie freiwillig für zwei Wochen in eine Pflegeeinrichtung gehen. Zwingen kann sie ihn nicht. Sie selbst ist sich ja auch ein Problem. Wenn sie im letzten Moment Panik bekommt, steigt sie doch niemals in den Zug nach Kiel, geschweige denn aufs Schiff. Allein schafft sie das niemals! Und doch ganz tief in ihrem Inneren, rührt sich eine zarte Freude. Und sogar das ganz, ganz leise Gefühl, es schaffen zu können.

 

MORGENS

Hilde weckt ihren Dieter frühmorgens. Er soll um 9 Uhr zum Frühstück in der Pflegestation sein. Sie hat es ihm in den letzten Wochen immer wieder erzählt in der Hoffnung, er würde sich an den Gedanken gewöhnen. Aber er wurde jedes Mal böse. Heimlich hat sie gestern bereits seinen Koffer gepackt und ihn ins Auto gelegt, als Dieter eingeschlafen war.

Ihr Mann ist völlig verschlafen und weiß, wie so oft morgens, nicht, wo er ist. „‘Ich weiß überhaupt nichts mehr. Mein Kopf ist so durcheinander.“ Hilde tut es immer weh, wenn er so kläglich dasteht. Sie findet ihr Verhalten heute ziemlich gemein und berechnend. Aber wie sonst soll sie in ihr Abenteuer starten?

„Komm, zieh dich an. Wir fahren gleich in die Kurzzeitpflege. Ich habe dir doch davon erzählt.“

Ohne Widerspruch schlurft Dieter müde ins Bad und zieht sich anschließend an. Dann ab ins Auto und los geht’s.

Hilde hat ein schlechtes Gewissen. Aber sie weiß, dass ihr Mann sich wohlfühlen wird, wenn er erst einmal angekommen ist. Wenn ihn die Pflegerinnen ein bisschen verwöhnen, wird er zufrieden sein und denken, er sei in Urlaub.

 

MITTAGS

ENDLICH! Sie hat es wirklich geschafft! Sie sitzt im Zug nach Kiel. Sie fühlt es: Jetzt schafft sie auch den Rest der Reise. Sie ist stolz auf sich. Sie ist glücklich. Ihr ist schlecht. Sie macht sich Sorgen um ihren Mann. Ihr Magen flattert. Sie hat das Gefühl zu schweben. Hat sie wirklich gewagt, sich in die Luft zu erheben, um fliegen zu lernen? Fliegen in ein Stück eigenes Leben?